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Kapitel 5

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Kira

„Entschuldigung?“

Der grüne Rücken krümmte sich noch ein wenig tiefer über die Treppenstufen auf denen der Mann saß. Er zog Tasche und Beutel näher zu sich, rückte zur Seite, und Kira hastete an ihm vorbei nach oben. Hielt inne. Zögernd trat sie ein paar Stufen zurück nach unten.

„Jeph?“

Der Rücken wurde womöglich noch ein wenig runder, abweisender.

Sie stieg wieder hinauf.

„Wieso sind hier keine Briefkästen mehr?“

„Was?“ Hatte er was gesagt? Sie blieb stehen.

„Hier hingen früher immer die Briefkästen.“ Er fragte fordernder, hatte seinen Oberkörper aufgerichtet und zeigte auf die Wand gegenüber dem Eingang. Dort warb auf einer überdimensionalen Tafel ein Büro für seine Dienste.

„Oh, ach ja. Seit diese Computerfirma hier eingezogen ist, sind die Briefkästen hier um die Ecke. In einer todschicken Säule. Haben sie spendiert.“

Neugierig trat sie näher. „Aber wieso fragst du? Du bist doch Jeph? Jeph Bronner? Ich bin Kira. Kira Martens.“

Sie merkte ihm an, dass er versuchte sich zu erinnern. Er wendete ihr das stoppelbärtige Gesicht zu, zog grimmig die dichten Augenbrauen zusammen. Musterte sie. “Irgendwoher kenn ich dich?“

„Kira Martens. Zwei Klassen unter dir.“

„Schule. Das ist lange her. Schön, dich getroffen zu haben. Sollte jetzt gehen.“

Er erhob sich schwerfällig und griff nach seinen Taschen.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“, entschlüpfte es ihr.

„Glaube nicht. War ne dumme Idee. Vielleicht...“

„Stimmt es, dass du im Krankenhaus warst?“, fragte sie vorsichtig. „Und dass deine Tante und dein Onkel gestorben sind? Ich habe davon gehört.“

Sein Gesichtsausdruck wurde womöglich noch finsterer. Sie ärgerte sich über sich selbst und sagte hilflos: „Es geht mich wirklich nichts an, aber soviel ich weiß waren sie wunderbare Menschen. Es tut mir so leid.“

„Und ich habe sie im Stich gelassen.“ Verbittert lachte er auf. Müde Augen voller Schatten schauten Kira nachdenklich an.

„Du fragst dich bestimmt warum ich hier in diesem Flur herumlungere. Nun, ich hatte da so eine hirnverbrannte Idee. „Vielleicht... Ach es ist zu blöd, ich geh dann mal wieder...“

„Was für eine Idee? Sag schon“, drängte sie wider Willen.

„Da müsste ich viel zu viel erklären...“

„Ein bisschen Zeit hab ich schon. Und für interessante Geschichten bin ich immer zu haben.“

„Damit kann ich allerdings dienen!“

Er setzte sich wieder auf die Treppe und schaute grimmig zu ihr auf.

„Wenn du es genau wissen willst: Mir fehlt kurz gesagt ein Stück meines Lebens. Als ich im Krankenhaus zu mir kam, all die Fragen, die mir gestellt wurden... Ich zerbreche mir ständig den Kopf, aber ich kann mich an nichts erinnern was im letzten halben Jahr geschehen ist. In diesem Zeitraum muss sich jedoch meine ganze Welt auf den Kopf gestellt haben. Mein Onkel und meine Tante sind tot. In das Haus, in dem ich mit ihnen gelebt habe lässt man mich nicht mehr rein, und die Polizei verlangt, dass ich momentan die Stadt nicht verlasse. Mein anderer Onkel verdächtigt mich sogar des Mordes. Aber wenn das so wäre, säße ich jetzt sicher nicht hier. Meinst du nicht auch?“ Seine dunkelgrauen Augen unter den dichten Brauen fixierten gleich wieder düster seine Schuhspitzen. „Außerdem weiß ich auch nicht was mit meinem Geld passiert ist, und ich habe keine Ahnung, an wen ich mich wenden könnte. Ich brauche unbedingt eine Arbeit, aber ohne feste Adresse ist es so gut wie unmöglich, eine vernünftige Stelle zu finden, und das was das Arbeitsamt mir bietet...“

„Oh.“ Kira setzte sich erschüttert und lehnte sich mit einem kleinen Sicherheitsabstand ans Geländer. „Und, was hattest du für eine Idee?“

„Nun, ich brauche unbedingt eine Adresse. Ich könnte, wenn ich Glück habe, in einem Autohaus in der Stadt eine Mechanikerlehre beginnen. Aber ohne Adresse kein Job, ohne Job kein Bankkonto. Da habe ich mich an die WG meines Freundes Max erinnert. Er hat hier mal gewohnt. Und an dieser Wand hingen damals unzählige Briefkästen. Da würde ein weiterer nicht auffallen, habe ich mir gedacht. Und hab mir von meinen letzten Kröten diesen Briefkasten im Trödelladen gekauft.“ Er öffnete den Beutel und zeigte ihr eine flache blecherne Kiste mit Einwurfschlitz. „Na ja, vielleicht... in einem anderen Eingang.“ Die Erschöpfung stand ihm ins Gesicht geschrieben als er aufstand. „Danke fürs Zuhören.“

„Warte mal. Das mit den Briefkästen verstehe ich nicht ganz. Du musst doch irgendwo wohnen. Wo schläfst du?“ Sie wollte es eigentlich nicht hören.

„Momentan in einer Unterkunft vom Sozialamt.“

Könntest du dann nicht deren Adresse angeben?“

„Vielleicht, aber die Anschrift der Obdachlosenunterkunft ist nicht besonders repräsentativ! Und da will ich auch nicht bleiben! Ich teile mir dort zwei Quadratmeter mit einem anderen Penner und dessen Krempel.“ Er lachte gequält auf. „Am kommenden Dienstag lässt mich die Polizei unter Aufsicht in unser Haus, das nicht mehr unseres ist. Da kann ich ein paar meiner Sachen holen. Ich hab ein kleines Zweimann-Zelt, der Campingplatz hat ganzjährig geöffnet, und wenn ich Arbeit bekäme... Also danke.“ Er wandte sich zum Gehen.

„Nicht so schnell!“ Kira zeigte auf die Säule mit den vielen Einwurfschlitzen. „Schau mal. Der unterste Briefkasten ist nicht belegt. Er ist von innen zugeklebt, damit nichts eingeworfen werden kann. Ich weiß das, weil Erna für die Treppenhausreinigung zuständig ist und sie dauernd schimpft, weil manche Austräger es trotzdem fertig bringen, Prospekte reinzustopfen. Obwohl ausdrücklich „Keine Werbung“ draufsteht. Erna ist noch zwei Wochen in Kur. Danach werden wir ihr alles erklären. Sie hat bestimmt nichts dagegen. Nimm mal das Schild aus deinem Kasten. Vielleicht passt es. Ich hole inzwischen den Briefkastenschlüssel.

Vor Ernas Wohnungstür schöpfte sie tief Luft und bemerkte, dass sie das Päckchen mit dem Biomüll, den sie beim Gang zum Blumengießen entsorgen wollte, immer noch in ihren verkrampften Händen hielt. Ob sie das Richtige tat? Aber wem schadete das schon?

Sie nahm den Schlüssel vom Haken, schob ihn in ihre Jackentasche, goss schnell die Blumen und ging langsam wieder hinunter.

Er saß immer noch auf der Treppe und wendete den Zettel hin und her. Die Haare, die unter der Mütze herausschauten, strähnig, die Jacke an einer Stelle eingerissen und fleckig. Eine glänzende Jogginghose vervollständigte den Eindruck von beginnender Verwahrlosung. Und er gab Laute von sich, die hatte sie heute schon mal vernommen. Das war eindeutig Magenknurren.

Unschlüssig öffnete sie die Tüte mit den Pizzaresten, die gemeinsam mit ein paar Apfelschalen die Reise zur Biotonne antreten sollten.

„Wenn du willst, ich habe hier noch fast eine ganze Pizza. Ist allerdings etwas angebrannt und trocken, aber wenn man die schwarzen Stellen abbricht...“

Sie kam seinem Einwand zuvor.: „Ein kleines Stück davon würde ich auch essen. Ich hatte heute überhaupt keinen Appetit, aber jetzt könnte ich doch was vertragen.“

Ohne auf seine abwehrende Geste zu achten nahm sie ihre Jacke und legte sie auf eine Stufe. Dabei zog sie den kleinen Schlüssel heraus: „Hier bitte. Du kannst schon mal schauen, ob das Schild passt. Ich hole inzwischen zwei Becher Wasser von oben und versuche ein paar essbare Stücke von diesem „Keks“ zu retten.“

* * *

Wenn sie schon mit jemandem auf den Treppenstufen hätte ‚erwischt‘ werden wollen, dann sicher nicht mit einem, der so abgerissen aussah wie Jeph. Es war ihr unangenehm, doch so einen karierten Blick hätte der alte Baumgartner, der gerade aus dem Keller kam, nicht unbedingt aufsetzen müssen. Viel besser sah der auch nicht aus. Der Zwickel einer alten Flanellhose hing gefährlich tief zwischen seinen Knien. Dafür war die Unterhose aus ehemals weißem Feinripp weit übers Oberhemd gezogen. Aber eine schicke Krawatte trug er, das musste man ihm lassen!

„Guten Tag, Herr Baumgartner, kennen Sie schon Herrn Bronner?“ Sie strahlte ihn demonstrativ an. „Er wohnt hier in der WG von Max, sie wissen ja.“

Der Alte musterte sie naserümpfend: „Noch so einer von der Sorte. WG? Pah! Keine Klasse. Sie sollten sich was Besseres aussuchen, kleines Frollein!“ Drehte sich ab, zog seine Hose hoch, die mit demselben Schwung wieder nach unten rutschte, und tappte die Treppe hoch.

Kira verbarg ihre weit auseinander driftenden Mundwinkel hinter vorgehaltener Hand, begegnete Jephs amüsiertem Blick, sah ihn lächeln. Hinter seiner kratzbürstigen Fassade tauchte kurz der Junge auf, den sie einmal gekannt hatte.

„Aber wo er Recht hat...“ Jeph wischte sich einen Krümel vom Kinn. „Ich geh dann mal in meine Luxusherberge. Vielen, vielen Dank für alles.“ Er versicherte sich, dass der Schlüssel noch sicher in seiner Tasche steckte, streckte sich und wandte sich zum Gehen. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wieviel mir das bedeutet. Es ist als wäre ein kleines Wunder geschehen. Du kannst nicht zufällig noch eine winzige Bude aus dem Hut zaubern?“

Es war scherzhaft gemeint, das wusste sie. Aber es war nicht abwegig. Man wusste ja aus der Zeitung von diesen Notunterkünften. Wie sie gehört hatte, konnte man da nur zum Schlafen hin. Auch wenn bald schon März wäre, es könnte noch mal richtig kalt werden. Sie dachte einen Augenblick an die leere Wohnung über ihnen. Warm und gemütlich. Wenigstens die paar Tage bis Dienstag — aber nein. Das führte zu weit.

„Auf Wiedersehen Kira“ Er hob die Arme. Ließ sie wieder sinken. „Ich hoffe...“

„Machs gut, Jeph.“

Er war zur Tür hinaus.


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