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Kapitel 3

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Kira

Ihre Büchertasche wurde immer schwerer, und die Sonne tat ihr Übriges. Kaum zu glauben, dass das ein ganz normaler Februartag war, Dass sie auch den Bus verpassen musste! Erschöpft blieb sie stehen, klemmte ihre nun viel zu warme Jacke zwischen die Knie und wühlte hektisch in den Tiefen ihrer Tasche nach einem Stück Traubenzucker. Sie brauchte es, brauchte Kraft. Trotzdem würde sie es nicht schaffen, rechtzeitig zu Hause zu sein. Sie würde eine weitere Debatte über den Unsinn, alleine in der Stadt herumzustreifen, aushalten müssen.

„Dass ihr Frauen immer ein ganzes Warenlager mitschleppen müsst!“

Die amüsiert klingende Stimme von oben ließ sie zusammenzucken. Ein Sanitätswagen hatte unbemerkt neben ihr angehalten, und erfreut erkannte sie am Steuer einen der netten Samariter, vertraut von viel zu vielen Fahrten ins Krankenhaus.

„Oh, hallo Ralf.“ Sie lächelte ihm zu. „Habt ihr mich erschreckt!“

„Sollen wir dich mitnehmen, Prinzessin? Wir fahren sowieso grade in deine Richtung.“

„Dürft ihr das denn?“, fragte sie zweifelnd, stieg aber bereits ein und zwängte sich zu den beiden jungen Männern in den Wagen.

„Nur nicht zu viel fragen!“, lachte der andere, auch er kein Unbekannter. Im Gegenteil. Der Anblick des dunkelhaarigen angehenden Arztes mit dem markanten Gesicht, Michael hieß er, hatte ihr Herz schon öfter höher schlagen lassen. Und als sie nun so eng an ihn gedrückt auf dem Sitz saß, schlug es noch schneller. Willkommen in „Sturm der Liebe“, Nachbarin Ernas Lieblingsserie. Wie peinlich! Während sie noch mit ihren Gefühlen kämpfte, plauderte der Verursacher unbeeindruckt mit ihr und Ralf. Auch der so ein Exemplar zum Verlieben. Nett und freundlich, genau so ein blondes sonniges Exemplar und genau so unsensibel wie Michael. Aber für die beiden war es ja nichts ungewöhnliches, von Patientinnen aller Altersklassen angehimmelt zu werden. Eine dümmlich grinsende junge Frau, die nicht mal ein paar sinnvolle Sätze von sich gab und sich schmerzlich ihrer dünnen, schlaffen Haare und ihrer fahlen Gesichtsfarbe bewusst war, hatte da erst recht keine Chance.

Viel zu schnell erreichten sie ihr Wohngebiet. Einer rote Ampel verdankte sie immerhin noch ein paar weitere Minuten in dieser angenehmen männlichen Gesellschaft.

„Ist das da nicht Joseph Bronner?“ Ralf deutete auf einen Mann in grünem Anorak, der vor ihnen die Straße querte. „Den haben sie doch gestern erst entlassen.“

„Gestern? Dann sollte er vielleicht nicht schon jetzt mit schweren Taschen durch die Gegend marschieren!“ Michael runzelte besorgt die Stirn.

„Das interessiert in der Klinik doch niemanden. Ist sowieso ein armer Kerl. In seiner Haut möchte ich jetzt wirklich nicht stecken.“

„Wieso eigentlich? Ich hab nur am Rande mitbekommen, dass er ewig lang bei uns in der Klink war. In der Neurologie, soviel ich weiß.“

Kira, die ihre romantischen Vorstellungen energisch beiseite geschoben hatte, schaute neugierig hinaus. Joseph. Jeph! Sie hatte sich also doch nicht geirrt. Er war es, den sie vorher im Park gesehen hatte.

„Den kenne ich“, mischte sie sich ein. „Das ist ein ehemaliger Klassenkamerad von mir. Der Schwarm aller weiblichen Wesen auf dem Schulgelände. Er sah ja auch unglaublich gut aus. Damals“, fuhr sie fort und blickte ihm irritiert nach. „Er hätte jede haben können, ich hab auch zu seinen Fans gehört.“ Sie lachte. „Aber nicht mal unsere Klassen-Queen kam bei ihm an. Obwohl sie ein Fahrgestell hatte, um das wir sie alle beneidet haben, schraubte er lieber an welchen mit Rädern herum. Schon damals hatte er immer irgendein Fahrzeug. An Geld hat es ihm jedenfalls nie gefehlt.“

„Im Moment fehlt es ihm aber eindeutig an beidem!“

„Ja.“ Verwundert schaute sie dem Mann nach, der gerade in eine Seitengasse abbog „Wenn man ihn so sieht.“ Sie konnte es körperlich fühlen. Die ganze Gestalt wirkte niedergeschlagen. Die grüne Jacke, viel zu groß, schlabberte über einer ausgebeulten Jogginghose, und der Gang signalisierte Hoffnungslosigkeit. „Was ist denn passiert?“

“Na, so genau weiß ich das auch nicht.“ Ralf zuckte mit den Schultern. „Eine ziemlich seltsame Geschichte. Er war wohl gerade im Haus seiner Verwandten als die überfallen und dabei umgebracht wurden. Er selbst wurde bewusstlos drinnen aufgefunden. Kann sich angeblich an nichts erinnern.“

„Na, ja, bei einem Schädel-Hirntrauma ist das nicht ungewöhnlich“, sagte Michael.

„Nun, es kursieren die wildesten Vermutungen. Stand ganz groß in der Zeitung. Habt ihr das nicht gelesen?“

„Ich nicht, aber ich war die letzte Zeit so mit meinem Studium beschäftigt“, antwortete Michael. „Wird jetzt echt heftig.“

„Ich hab davon gehört“, sagte Kira betroffen. „Aber ich wusste nicht, dass es dabei um Jeph ging.“

„Und wieso läuft er jetzt durch die Straßen wie ein herrenloser Hund? Hat er kein Zuhause?“, fragte Michael.

„Keine Ahnung.“ Ralf zuckte mit den Achseln und reckte den Kopf. „Besuch hat er so gut wie keinen bekommen, das weiß ich. Dafür war die Polizei öfter da, hat mir Schwester Cordula erzählt. Und die Sozialarbeiterin kam die letzten Tage auch ein paarmal vorbei.“

„Du solltest langsam mal losfahren, glaube ich. Die Ampel wird gleich wieder rot. Sie hat mindestens schon das zweite Mal die Farbe gewechselt!“ Michael knuffte ihn in die Seite, und Kira schaute immer noch verwirrt der Gestalt hinterher, die gerade in der Gasse verschwand.

* * *

„Mama? Was machst du denn da?“

Kira blickte erstaunt auf geöffnete Türen, auf Stapel von Kleidung, Unterwäsche, Schals und einen Berg von Schuhen.

„Kira! Wie gut, dass du endlich da bist.“

Ihre Mutter kam in Unterwäsche aus dem Schlafzimmer und strich sich seufzend die dunkelblonden, halblangen Haare aus dem Gesicht. Mit ihren etwas über fünfzig Jahren war sie noch immer eine attraktive Erscheinung. Nur die tief eingekerbten Falten in ihren Mundwinkel verrieten, dass das Leben es nicht immer gut mit ihr gemeint hatte.

„Warum bist du so spät dran? Ich hab schon gedacht, du kommst gar nicht mehr? Ich muss auf ein Seminar, so einen Workshop. Von jetzt auf nachher. Eine Kollegin ist ausgefallen, und ich sollte bald los. Wie lang braucht man nach München? Drei Tage soll das gehen! Aber ich muss. Bleibt mir nichts anderes übrig. Samstag Abend bin ich wieder da. Kannst du alleine zurechtkommen, Schatz? Wenn es dir nicht gut geht, können die mich mal!“

„Drei Tage? Das geht schon klar. Du kannst nicht immer alles wegen mir absagen. Und mir geht es grade wirklich nicht schlecht“, sagte sie und versuchte, nicht zu zeigen, wie aufgekratzt sie plötzlich war. „Wirklich, mach dir keine Sorgen!“

„Ich habe ein paar Sachen eingefroren. Pizza ist auch da, und vergiss ja nicht, deine Medikamente zu nehmen. Warum muss ich da jetzt unbedingt hin?“, schimpfte sie weiter. „Urlaub habe ich keinen bekommen. Aber jetzt für diese blöde Schulung, da geht es plötzlich im Büro ohne mich.“

„Mama, jetzt reg dich ab. Genieß es doch einfach mal. Wohin geht es? Nach München? Vielleicht sind ja ein paar nette Leute dabei. Und da gibt es doch sicher auch ein Abendprogramm.“

„Schon, aber wenn was ist, rufst du an! Bei den Chinesen ist ein neues Virus aufgetreten. Ziemlich beunruhigend. Pass auf dich auf! Du weißt ja...“

„Ja doch, ich weiß! Ich muss doch bei jeder Grippewelle aufpassen.“

„Ach Baby, ich lass dich so ungern allein. So kurz nachdem du dich ein bisschen erholt hast.“

„Mama, ich bin kein Kleinkind mehr. Die Notrufnummer kann ich auch selbst wählen, sollte was sein. Aber das wird es nicht. Hab keine Angst.“

„Sicher? Heut morgen warst du noch so zittrig, da sind dir die ganzen Tabletten runtergefallen. Wenn wenigstens Erna da wäre. Aber die ist noch mindestens zwei Wochen in Reha. Oh je, ich muss noch bei ihr die Blumen gießen!“

„Mama, du packst jetzt fertig! Ich gehe nachher rüber und mach das!“

Sie konnte ihrer Mutter nicht sagen, dass sie die verfluchten Tabletten zwar eingesammelt, aber nicht eingenommen hatte. Weil gerade kein Glas Wasser in der Nähe war. Schnell ließ sie das verräterische Schüsselchen, in dem sie sie deponiert hatte, unter einem Schal verschwinden. Es würde schon gut gehen! Das würde ihr jetzt nicht mehr passieren!

„Ist noch was übrig vom Abendessen? Ich habe gerade richtig Hunger“, fragte sie ablenkend.

„Nein, aber ich kann dir noch schnell was machen.“

„Mama! Ich bin durchaus dazu imstande eine Pizza in den Ofen zu schieben!“

Als die Tür hinter ihrer Mutter endgültig ins Schloss fiel, atmete sie erleichtert auf und ließ sich dann erschöpft auf das Sofa fallen. Beklommen fragte sie sich, ob sich nicht doch wieder eine Schwächeperiode ankündigte. Sie würde jetzt gleich ihre Medizin einnehmen. Aber, was roch da so verbrannt? Um Himmels willen! Die Pizza!!!

In der Kühltruhe fand sich glücklicherweise noch eine von Ernas Hühnersuppen. Und gekochte Nudeln im Kühlschrank. Sie setzte sich damit an den Küchentisch am Fenster, von wo aus man ein großes Stück der Straße einsehen konnte. Hier war immer was los. Fast wie im Fernsehen. Ihr Wohnviertel zählte nicht zu den bevorzugtesten dieser Stadt, was man an den lieblos gestalteten Anlagen und den in die Jahre gekommenen Gebäuden unschwer erkennen konnte. Die mehrstöckigen Siedlungshäuser waren vor vielen Jahren für privilegiertere städtische Bedienstete gebaut worden, aber heute wohnten hier Menschen mit geringem Einkommen: Alleinerziehende, Studenten, Rentner. Die Stadtväter sahen keinen Grund in eine Verschönerung zu investieren. Der Ausblick war also nicht gerade erhebend, aber immer kurzweilig. Zu dem günstigen chinesischen Imbiss an der Ecke verirrten sich sogar des öfteren Angestellte des angrenzenden Industriegebiets, die sich ihre Anzüge mit Nudeln bekleckerten. Kira und ihre Mutter waren froh als sie vor einem Jahr diese günstige Wohnung beziehen konnten. Mit dem Gehalt für die Halbtagsstelle im Krankenhaus-Sekretariat brachte Frau Martens ihren Zweipersonenhaushalt gerade so über die Runden. Der Nachhilfeunterricht, den Kira an guten Tagen geben konnte, und ein paar kleinere Aufträge für Übersetzungen sorgten für ein wenig Taschengeld, oder es ging gleich für neue Stärkungsmittel drauf, die diesmal — wirklich garantiert! — Hilfe versprachen.

Ein weiterer Glücksfall war die Bekanntschaft mit Erna. Nur wenige Wochen nachdem sie eingezogen waren, fiel sie ihnen praktisch vor die Füße. Samt Fahrrad und einem Korb voller Gemüse. Sie halfen umher kullernde Kartoffeln einzusammeln, Salatköpfe in Tüten zu stopfen und versorgten die alte Dame mit Pflastern und Tinkturen aus ihrer gut bestückten Hausapotheke. Zum Dank dafür wurden sie ab sofort mit Erzeugnissen aus ihrem Schrebergarten verwöhnt. Ab und zu kam sie gleich mit einem ganzen Obstkuchen und verwandelte ihre kleine Küche in ein gemütliches Café. Sogar ihre immer angespannte Mutter wurde in ihrer Gesellschaft gelöster, und Kira genoss einfach die Abwechslung und die interessanten Erzählungen der Nachbarin.

Mit der Zeit zierte sich ihre Mutter, die milden Gaben anzunehmen, aber Erna wäre nicht Erna gewesen, wenn ihr nichts eingefallen wäre: „Kira studiert doch Germanistik, und ich würde so gerne einmal alles aufschreiben was ich erlebt habe. Die Pflegeeltern, die Ferien auf dem Land, das Wirtschaftswunder, mein Mann in der Marine. Er war als Ingenieur viel im fernen Osten, und ich war oft mit dabei. Was meint ihr, kann sie mir dabei helfen?“, fragte sie eines Tages. „Ich kann allerdings nicht viel bezahlen...“

„Oh, ich würde...“ das so gerne machen, wollte Kira antworten, war Feuer und Flamme, bemerkte aber einen kleinen Anflug von Eifersucht in der Miene ihrer Mutter.

„...meinen“, sagte sie stattdessen, „das viele frische Obst und Gemüse, das wir von Ihnen bekommen ist ein guter Gegenwert, da müssen Sie mir viel zu erzählen haben. Ich würde das also sehr gerne machen.“

So kam Kira zu einer Vertrauten, einer Oma, einer Tante, alles in einem, und noch dazu zu einer Freundin. Die einzige, bis sie auf Laura traf. Und Erna umsorgte sie, wenn sie zum Schreiben zu ihr kam, auf ihre Weise genau so wie ihre Mutter.

Im gegenüberliegenden Haus, schräg unten und nur einen Stock tiefer, sah sie auf die beiden Fenster von Ernas Wohnung. Konnte es sein, dass die Pflanzen schon die Köpfe hängen ließen? Sie würde bald rüber gehen müssen. Aber eine halbe Stunde würde sie sich noch hinlegen.

Beim Tisch Abräumen warf sie noch einen Blick hinunter. Der Mann, der gerade im Haus gegenüber verschwand, kam ihr auf verstörende Weise bekannt vor. Ach was, es gibt auf der Welt noch mehr Menschen mit grünen Anoraks, liebe Kira. Leidest du vielleicht jetzt zu allem anderen auch noch an Verfolgungswahn?!


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