Читать книгу Verschleppt - Christina Wahldén - Страница 10

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Der Abteilungsleiter vom Konsum, Lasse, stapelt Tunfischdosen zu zwei symmetrischen Türmen. Die in Öl rechts, die im eigenen Saft links. Er hört es am Eingang läuten und eilt nach vorne, um zu sehen, ob er jemandem behilflich sein kann. Da steht ein maskierter Mann.

Nun ja, was heißt maskiert. Er hat die Kapuze seines Pullovers über den Kopf gezogen und trägt ein schwarzes Halstuch vor Mund und Nase.

»Money. Quick!«, ist alles, was er sagt.

Lasse will gerade protestieren, als er bemerkt, wie der Mann seine Jacke öffnet und diskret eine Schusswaffe vorzeigt, die er dort versteckt hält. Es ist unmöglich zu erkennen, ob es sich um einen Revolver oder eine Pistole handelt. Stattdessen zeigt Lasse also ein breites Lächeln und sagt »okay, okay«, während er die Tageseinnahmen in die schmutzige Plastiktüte legt, die der Dieb die zweifelhafte Freundlichkeit besaß mitzubringen.

Erst als der Mann wieder zur Tür hinaus ist, löst Lasse den Alarm aus. Dann setzt er sich auf ein kleines Holzfass, auf das er eigentlich die Lachssoße und die Hofmeistersoße genauso ordentlich stapeln wollte wie den Tunfisch. Aber das muss jetzt warten.

Rafael und Hedvig haben gerade ein vermisstes Kind wiedergefunden und es bei der besorgten, unruhigen Mutter abgeliefert, die den Sprössling sofort nach allen Regeln der Kunst ausschimpft, als sie über Funk von dem Überfall erfahren. Es ist nur ein paar Straßen weiter, und bevor Hedvig einen Ton sagen kann, hat Rafael den Notruf bereits entgegengenommen und mitgeteilt, dass sie die Sache übernehmen.

»Wie sollen wir jemals die Zeit finden, das zu tun, weswegen wir hier sind? Das ist doch völlig absurd! Wir sind doch nicht hergekommen, um nach verschwundenen Kindern zu suchen und Supermarktdiebe zu jagen«, sagt Hedvig.

Rafael nimmt sich schnell Lasses an und notiert die wenigen Angaben, die von Bedeutung sind. Die Täterbeschreibung gibt nicht viel her. Lasse fängt plötzlich an zu weinen, und Rafael fischt ein sauberes Stofftaschentuch aus seiner Uniformjacke und reicht es ihm. Lasse schnäuzt sich geräuschvoll.

»Ich glaube, ich schließe den Laden für heute«, sagt er.

Als Rafael und Hedvig sich zum Gehen wenden, treffen sie auf einen erregten älteren Herrn, der behauptet, er habe den Dieb in einem roten Auto unklarer Marke verschwinden sehen.

»Er ist nach Süden gefahren, zu Gunnar Rantatalos Hof«, ruft der Mann und zeigt beharrlich in die Richtung.

Sie springen ins Auto, und um dem Zeugen Freude zu machen, schaltet Rafael die Sirene ein und gibt Gas. Sie fahren schweigend. Der Weg aus der Stadt verläuft schnurgerade. Es herrscht fast kein Verkehr.

»Wir fahren am besten zu Gunnar und drehen dann wieder um«, sagt Rafael mehr zu sich selbst.

Kein roter Wagen so weit das Auge reicht, obwohl Hedvig in jeden kleinen Waldweg starrt. Der Alte hat sich vielleicht geirrt. Oder das Auto ist in eine andere Richtung gefahren.

»Da!«, ruft Hedvig.

Auf einem Rastplatz an einem kleinen See steht ein unordentlich geparkter roter Mercedes. Der Wagen sieht leer aus, und auf gut Glück fährt Rafael weiter.

»Er hat den Wagen gewechselt!«

»Wonach suchen wir dann jetzt?«

Rafael meldet per Funk, dass jemand den roten Benz kontrollieren solle. Vor seinem inneren Auge sieht er bereits Erik und Stickan den Auftrag erhalten. Kein Wunder, dass diese Abteilung auf Sparflamme läuft.

Als sie bei Gunnars Hof ankommen, tritt Rafael auf die Bremse, und einen Moment lang befürchtet Hedvig, dass er die Pedale durch den Wagenboden treten wird.

»Wir fragen, ob er etwas gesehen hat«, sagt Rafael bestimmt.

Im Stall ist außer den Kühen niemand. Sie eilen weiter zum Wohnhaus und hämmern an die Tür. Rafael ruft: »Polizei! Aufmachen!« Das Ganze wirkt ein wenig übertrieben, findet Hedvig. Nach langem Warten öffnet Gunnar die Tür einen Spaltbreit. Die Haare stehen ihm vom Kopf ab. Er blinzelt gegen das Licht.

»Hallo, entschuldigen Sie die Störung. Es hat einen Überfall auf den Konsum-Supermarkt gegeben, von einem bewaffneten Täter. Wir haben Grund zur Annahme, dass er in diese Richtung hier geflohen ist. Sie haben nicht zufällig etwas gesehen?«, fragt Rafael.

Gunnar fährt sich durch das Haar und schüttelt langsam den Kopf.

»Nee, was sollte ich gesehen haben?«

Er steht im Türspalt und hält die Haustür so geschlossen wie möglich.

Rafael stellt ein paar weitere Fragen, und Hedvig lässt den Blick über die Hausfassade schweifen, hinüber zum Stall und wieder zurück. Sie meint hinter der Gardine an einem der Fenster im Erdgeschoss ein Gesicht zu sehen. Vermutlich Gunnars Frau, sicher eine, die immer am Fenster steht und heimlich die Leute beobachtet, die kommen und gehen, denkt sie.

Gunnar ist nicht von Nutzen, hier war kein Räuber. Er verspricht aber, sofort die Polizei zu verständigen, wenn er etwas Verdächtiges bemerkt. Sie danken und kehren zum Streifenwagen zurück.

»Die Spur ist kalt. Wir haben den Typen verloren. Er kann jetzt genauso gut fünfzig Kilometer weit weg sein«, brummt Rafael.

»Gunnar hat kaum die Tür geöffnet«, sagt Hedvig.

»Er hatte wohl Angst, dass es drinnen kalt wird«, meint Rafael. »Strom ist teuer, weiß du.«

Später auf dem Revier, als der Bericht geschrieben ist, erzählt Hedvig Stig im Gemeinschaftsraum bei einem Weightwatcher-Imbiss, den sie zuvor acht Minuten in der Mikrowelle aufgewärmt hat, von dem Besuch bei Gunnar. Währenddessen schaufelt Stickan einen Berg Kohlrouladen in sich hinein, die seine Mutter gemacht hat, sowie einen See an selbst eingekochter Preiselbeermarmelade und starrt Hedvig ausdruckslos an.

»Ich glaube, ich habe eine Frau im Haus gesehen. Die Gardine hat sich bewegt«, sagt sie.

»Aha«, erwidert Stickan.

»Ist Gunnar verheiratet?«

»Nein, ist er nicht. Nie gewesen. Er ist ein eingefleischter Junggeselle.«

Stickans Handy klingelt, und Hedvig steht auf, um die Plastikschale wegzuwerfen, in der ihr Essen war. Dann holt sie sich eine Tasse Kaffee und macht sich auf die Suche nach Rafael.

Viola und Irina stellen das Rad im Fahrradständer neben dem Mehrfamilienhaus am Stadtrand ab, in dem die alte Frau wohnt. Gott sei Dank sind sie bisher keiner Menschenseele begegnet. Aber im Treppenhaus treffen sie auf einen Nachbarn, einen jungen Mann, der auf dem Weg nach draußen ist und beim Anblick von Irinas zerschundenem Gesicht zusammenzuckt.

»Was ist passiert?«, fragt er.

Irina wendet den Kopf ab und schließt instinktiv die Augen.

»Ein Unfall. Ich sorge dafür, dass sie Hilfe bekommt«, sagt Viola bestimmt und schiebt das junge Mädchen weiter.

Der Mann eilt aus dem Haus. Er wirkt bestürzt.

Viola sucht eine Weile in ihrem grünen Rucksack nach dem Wohnungsschlüssel. Schließlich findet sie ihn und führt Irina behutsam in ihre kleine Zweizimmerwohnung mit Balkon. Sorgsam verschließt sie hinter sich die Tür. Normalerweise zieht sie immer als Erstes die Schuhe aus, wenn sie hineinkommt, aber heute nicht.

Viola hat es mit eigenen Augen gesehen, aber den ganzen Rückweg über hat sie darüber nachgegrübelt, was es wohl bedeutet. Was ist das für ein Haus am Moor? Was geschieht dort? Was ist so furchtbar, dass man ein Fenster zerschlagen und hinausspringen muss, obwohl man dabei riskiert, von zwei lebensgefährlichen Wachhunden in Stücke gerissen zu werden? Wer hat das junge Mädchen so übel zugerichtet?

Viola sieht Irina nachdenklich an. Das Mädchen seinerseits schaut sich in der Wohnung um. Es hat das Bild über Violas Sofa entdeckt, eine alte Lithographie, die einen mild blickenden Christus mit ausgestreckten Armen darstellt, umgeben von einem seltsamen Strahlen. Das Mädchen fällt zwischen Klavier und Wohnzimmertisch auf die Knie. Es spricht in seiner Sprache ein Gebet. Tränen fließen ihm über das Gesicht.

Viola ist gewiss eine alte Frau, aber ihre Kenntnisse als Kreiskrankenschwester sitzen tief. Atmung, Blutung, Schock, geht ihr routinemäßig durch den Kopf. Sie hilft dem Mädchen behutsam auf und führt es ins Badezimmer. Setzt es auf die Klobrille, streichelt ihm über die Wange und spricht zu ihm wie zu einem kleinen Kind.

»Ist gut, ist gut, beruhige dich! Jetzt wirst du sehen, dass alles wieder gut wird. Ich bin da, dir kann nichts mehr geschehen. Ich helfe dir.«

Viola schält das Mädchen vorsichtig aus einer Schicht schmutziger Kleider, die sie in den Wäschekorb legt. Der Pullover des Mädchens ist von der Verletzung im Gesicht blutverschmiert und die Jeans zerrissen. Eine hässliche, frische Wunde klafft auf einem Schenkel, wahrscheinlich stammt sie von dem Stacheldraht. Vielleicht sollte das Kind besser in ein Krankenhaus und genäht werden, überlegt Viola. Aber zuerst spreche ich mit Sergej. Und zuallererst muss das Mädchen notdürftig verarztet werden. Viola reinigt und verbindet vorsichtig die Wunde. Auf dieselbe Weise verfährt sie mit der älteren Verletzung im Gesicht. Es muss unerhört wehtun, aber das arme Mädchen gibt keinen Ton von sich. Vielleicht sollte es zu einem Zahnarzt gehen, es ist schwer zu beurteilen, ob nicht auch der Kiefer verletzt wurde. Viola hilft dem Mädchen, sich mit weichen Waschlappen zu säubern. Gemeinsam waschen sie die verschwitzten, glanzlosen Haare. Mit Magnolienschampoo für feines und sprödes Haar. Das Mädchen genießt es trotz der Schmerzen.

Viola wickelt es in ein großes Badetuch und holt ein sauberes Nachthemd, das sie dem Mädchen, das sich deutlich beruhigt zu haben scheint, vorsichtig über den Kopf zieht. Sie führt es in die Küche, bedeutet ihm, auf der Bank Platz zu nehmen, und öffnet den Kühlschrank. Nichts ist so beruhigend wie etwas zu essen. Viola setzt Teewasser auf und holt Brot, Käse und ein wenig selbst gemachte Marmelade hervor. Als sie die Lampe einschaltet, die auf dem Küchentisch steht, beginnt das Mädchen wieder zu weinen.

»Iss jetzt«, sagt Viola, obwohl sie weiß, dass das Mädchen sie nicht versteht.

Aber die Bedeutung ist universal. Das Mädchen isst. Schnäuzt sich und isst. Dann bricht es in eine lange, wortreiche Tirade aus. Viola glaubt den Inhalt zu verstehen.

»Jaja, es geht in Ordnung. Du brauchst mir nicht zu danken, Kleines. Iss jetzt.«

Als sich die Wohnungstür hinter ihnen schließt, wagt Irina aufzuatmen. Hier fühlt sie sich sicher. Mit großen Augen blickt sie sich in der kleinen, ordentlichen Wohnung um. Die Möbel sind aus dunklem Holz und haben gepolsterte Kissen. Überall sind kleine Deckchen, getrocknete Blumen und Kerzenleuchter. Ein schwarzes Klavier steht neben der Balkontür, und an der Wand hängt ein Christus-Bild.

Da begreift sie endlich, dass sie nichts zu befürchten hat, dass sie gerettet ist, dass die Macht des Gebets sie aus der Finsternis geführt hat.

Sie fällt auf die Knie und sagt all die Gebete auf, die ihre Großmutter sie gelehrt hat. Sie hat geradezu das Gefühl, wieder bei ihrer Großmutter zu sein, wieder zu Hause. Aber dann erkennt sie, dass es nicht so ist. Dies hier ist lediglich eine andere alte Frau, eine, die ihre Großmutter hätte sein können. Eine barmherzige Samariterin, die sie gerettet hat.

Nun ist sie so müde. Es pocht in der Wunde. Die alte Frau gibt ihr zwei weiße Tabletten, die Irina zunächst nicht nehmen will. Die Alte ist sehr bestimmt und streicht ihr über die Wange. Ihre Augen blicken ernst. Sie nimmt Irinas Hand und berührt leicht die Verletzung im Gesicht und den verbundenen Schenkel. Dann zeigt sie erneut auf die Tabletten. Irina gibt nach und genießt es, das zu tun. Sie braucht nicht länger trotzig zu sein, sie braucht nicht mehr um ihr Leben zu fürchten. Sie ist in Sicherheit. Jetzt wird alles wieder gut.

Die alte Frau führt sie in den hinteren Raum der Wohnung. Es ist ihr Schlafzimmer, und außer einem Bett befindet sich dort noch ein großer Sessel vor einem alten Fernsehapparat. Die Frau zieht die gehäkelte weiße Tagesdecke weg, in die kleine runde Knospen aus Baumwollgarn eingearbeitet sind. Dann bezieht sie das Bett frisch, mit gestärkten und bestickten Laken, von denen das obere, das um die blumige Decke geschlagen wird, mit Spitze und einem weiß gestickten Monogramm versehen ist. Irina sieht das Kreuz über dem Bett und fällt wieder auf die Knie. Dieses Mal kniet die Großmutter auch. Sie beten, jede in der eigenen Sprache:

»Vater unser im Himmel, geheiligt werde Dein Name.«

Das Mädchen ist eingeschlafen, sowie es den Kopf auf das Kissen gelegt hat. Viola bleibt neben ihm stehen und betrachtet es. Was führte es hierher in mein Bett? Was hat es erlebt? Das liebe Kind. Es wimmert im Schlaf. Viola streicht ihm langsam über das feuchte Haar. Sie lässt eine kleine Lampe im Fenster brennen und schließt die Schlafzimmertür. Sie nimmt das alte Bettzeug mit, legt es in den Wäschekorb und geht in die Küche, um abzuspülen. Währenddessen versucht sie so scharf wie möglich nachzudenken. Viola Uusitalo begreift, dass sie es mit dem Teufel selbst zu tun hat.

Als die letzte Tasse auf dem Abtropfgestell landet, hat Viola zu Ende gedacht. Sie tut zwei Dinge. Nach kurzem Herumhantieren öffnet sie in dem alten Sekretär im Wohnzimmer ein Geheimfach, das sich über der Schublade mit dem Tafelsilber befindet. Sie zieht einen zerknitterten Umschlag hervor. Wie viele ältere Menschen hat Viola das Vertrauen in die Banken verloren und bewahrt deshalb eine größere Geldsumme bei sich zu Hause auf, wo sie das Gefühl hat, es besser unter Kontrolle zu haben.

Das hier könnte gefährlich werden, denkt sie. Wenn mir etwas passieren sollte, was vielleicht gar nicht der Fall sein wird, aber wenn, dann will ich diesem Mädchen die Möglichkeit geben, auf eigene Faust nach Hause zu kommen. Zuerst zählt Viola tausend Kronen ab. Dann überlegt sie einen Moment und legt viertausend dazu. Geld hat im Grunde genommen aufgehört, irgendetwas wert zu sein, das hat sie verstanden. Es besteht natürlich die Gefahr, dass sie die gesamte Summe verliert, vielleicht führt das Mädchen sie an der Nase herum, aber nein ... Und wenn es so wäre, müsste ich eben damit leben. Es gibt schließlich keinen, der mich beerben wird, also kann niemand anderes böse darüber sein, dass ich mein eigenes Geld hergebe.

Viola schiebt die Scheine in einen neuen Umschlag und schreibt mit zittriger Handschrift »Für dich« darauf. Sie weiß noch nicht einmal, wie das Mädchen heißt. Dann kramt sie in ihrem Schmuckfach im Sekretär und findet schließlich das Gewünschte. Sie nimmt eine blaue Samtschachtel und stellt sie zusammen mit dem Umschlag auf den Nachttisch neben das tief schlafende Mädchen. Dann verlässt sie das Schlafzimmer, macht die Tür zu, zieht einen Mantel an und setzt ihren besten Hut auf, den flauschigen. Sie schließt die Haustür ab, geht hinaus und setzt sich wieder auf ihr Fahrrad. Die mit Pilzen und Beeren gefüllten Körbe hängen noch immer am Lenker, sie wird sich später darum kümmern.

Es dämmert, als sie denselben Weg zurückfährt, den sie und das Mädchen vorhin gekommen sind. Sie ist entschlossen und verbissen. Sie wird Sergej Björkman die Leviten lesen, diesem Tunichtgut und Nichtsnutz. Sie fand schon immer, dass Sergej Björkman untauglich ist. Groß im Reden, armselig im Handeln. Als Kind wurde er von seinen Eltern, der schönen Olga aus Murmansk und dem kränklichen Sven Björkman, streng erzogen. Im Namen von Zucht und Ordnung wurde er jede Woche zur Sonntagsschule geschleift. Aber gebracht hat es wenig. Sergej hat sicher nicht mehr den Fuß in eine Kirche gesetzt, seit er konfirmiert wurde und seine Geschenke bekam. Geheiratet hat er nur standesamtlich, schon allein das!

Die Umstände haben ihn zweisprachig werden lassen. Als der Vater starb, zog Olga zurück in die Heimat und bekam von einem neuen Mann einen zweiten Sohn, Vladimir. Aber Sergej blieb zurück, so verwurzelt, wie er in Schweden war. Olga starb vor ein paar Jahren, und es heißt, Vladimir käme manchmal hierher, um seinen Bruder zu besuchen. Viola hat die Brüder ein paar seltene Male zusammen gesehen, sie findet, dass sie beide wie Lumpen aussehen.

Sie radelt zurück in den Wald, zurück zum Moor. Viola sieht nicht wie sonst die Schönheiten der Natur um sich herum, so aufgewühlt ist sie. Sie glaubt nicht an die Möglichkeit, dass Sergej bei sich zu Hause sein könnte, auf dem Hof außerhalb der Stadt, den er mit seiner Frau bewohnt. Irgendetwas macht Viola ganz sicher, dass sie Sergej in genau diesem neuen Haus am Moor finden wird, von dem alle behaupten, es nicht zu kennen. Denn es war sein Name, den das Mädchen nannte. Das zerschundene, verängstigte Kind. Innerlich kocht es in Viola, wenn sie an die Wunden denkt, die sie soeben gereinigt und verbunden hat. Nichts macht eine Krankenschwester so wütend wie unnötig zugefügter Schaden. Unfälle sind eine Sache, sie lassen sich nicht vorhersagen und sind etwas, in das sich auch ein Christ fügen muss. Aber reine Gewalt – das ist nicht zu akzeptieren. Das ist Sünde und ein Werk des Teufels.

Als Viola das Haus erreicht, ist es fast dunkel. Der Wind frischt auf und fährt durch die Baumkronen über ihr. Ein Geruch nach Fäulnis und Brackwasser weht vom Moor zu ihr herüber. Oberhalb der Treppe brennt Licht am Haus. Das Tor steht offen, Hunde sind nicht zu sehen. Sie spricht leise ein kurzes Gebet, stellt das Rad ab und steigt die Treppe hinauf. Es gibt weder eine Klingel noch einen Klopfer.

Entschlossen pocht sie an die Tür. Keine Reaktion. Sie klopft noch einmal.

»Sergej!«, ruft sie, so laut sie kann.

Der Wind scheint ihre Stimme einzufangen und weit über das Moor zu tragen.

»Sergej! Ich will mit dir sprechen!«

Die Tür öffnet sich einen Spaltbreit. Zwei misstrauische Augen blicken sie an.

»Ich möchte mit Sergej sprechen«, sagt Viola so freundlich wie möglich.

Die Tür will sich sofort wieder schließen, aber Viola greift nach der Klinke und sagt mit ihrer lang vergessenen, entschlossensten Krankenschwesterstimme: »Ich will Sergej sprechen. Jetzt. Holen Sie ihn her. Ich weiß, dass er hier ist.«

Dennoch denkt sie: Vielleicht ist er gar nicht hier, vielleicht irre ich mich vollständig?

Da steht er vor ihr. In einem blauen Seidenhemd mit offen stehenden Knöpfen und einer Lederhose. Er grinst von einem Ohr zum anderen. Er war es selbst, der die Tür geöffnet hat, sie hat ihn nur nicht gleich erkannt.

»Guten Tag, Sergej«, sagt Viola.

Er lacht nur. Am liebsten würde sie diesem Nichtsnutz den Kopf waschen. Er braucht nicht zu glauben, dass er so davonkommt.

»Hast du vergessen, was du in der Sonntagsschule gelernt hast, Sergej?«

Er grinst noch immer.

»Dass Gott und Jesus alles sehen und alles hören. Hast du das vergessen?«

»Scher dich zum Teufel, Alte«, sagt Sergej und versucht, die Tür zu schließen.

Es gelingt ihr, einen Fuß dazwischenzuschieben.

»Ich glaube gewiss, dass dir heute Abend ein Mädchen abhanden gekommen ist, Sergej.«

Sein Blick verfinstert sich.

»Hast du all deine Schäfchen gezählt, Sergej?«

»Zum Teufel! Was ...«

»Hör mir zu, Sergej. Hör mir gut zu.«

»Was soll denn der Blödsinn, verdammt!«

»Hör zu! Ich weiß, was du treibst. Du brauchst nicht zu glauben, ich wüsste es nicht. Und ich bin nicht so alt, dass ich nicht eins und eins zusammenzählen kann, auch wenn es sich um eine private Angelegenheit handelt. Das, was du tust, ist sündig, Sergej. Gott sieht dich.«

»Verschwinde von hier!«

»Nein, hör mir jetzt zu, ich bin noch nicht fertig. Du hast die Wahl, Sergej. Jeder Mensch kann frei wählen. Deswegen hat das Böse einen Platz in der Welt, daran erinnerst du dich doch noch aus der Sonntagsschule? Mach die Tür nicht zu!«

Sie schiebt den Fuß noch ein Stück weiter zwischen Tür und Schwelle.

»Der freie Wille erlaubt es dem Bösen zu wachsen. Du hast die Wahl, mit dem, was du tust, aufzuhören. Du kannst deine Türen aufsperren und die Mädchen, die Kinder, die du hier festhältst, freilassen.«

»Zur Hölle!«

»Du solltest nicht mit mir über die Hölle sprechen, Sergej. Hörst du? Dort wirst du nämlich enden, wenn du so weitermachst. In der Hölle, Sergej, denk daran! Der Teufel selbst wird kommen und dich zu sich in die Hölle holen.«

Der Mann vor ihr schrumpft zusammen, wird wieder zu einem unsicheren Kind. Ängstlich, eingenässt, verwundbar und weinerlich. Gott sieht dich, Sergej.

»Verdammtes Weib, scher dich zum Teufel!«, sagt er heiser, aber kraftlos.

»Du hast die freie Wahl, Sergej. Das Mädchen, das nicht mehr hier ist, befindet sich in Sicherheit. Du wirst es nie mehr sehen. Nie mehr, hörst du? Die anderen werden auch bald frei sein. Denn du bist kein böser Mensch, Sergej, oder? Zeige Gott, dass du kein böser Mensch bist«, sagt Viola ganz leise.

Sie stehen noch immer auf dem Treppenabsatz, Viola draußen im Sturm, Sergej hinter der Türschwelle.

Sie lächelt ihn an und sagt: »Gott segne dich, Sergej.«

Ohne eine Reaktion abzuwarten, zieht die alte Frau ihren Fuß aus der Türöffnung zurück, dreht sich um und steigt die Treppe hinab. Plötzlich ist sie sehr müde. Mit dem Fahrrad nach Hause zu fahren erscheint unmöglich, aber es muss sein. Um des Mädchens willen, das in ihrem Bett schläft.

Mühsam schiebt sie das Fahrrad neben sich her, rückt die Körbe zurecht. Sie darf nicht vergessen, die Beeren und Pilze mit in die Wohnung zu nehmen und sie zu waschen, sonst gehen sie kaputt. Sie setzt sich auf das Rad und strampelt langsam davon.

Fanny Olsson stützt sich in der Biologischen Abteilung des Staatlichen Kriminaltechnischen Labors gegen die Tischplatte und streckt sich. Lange hat sie jedes einzelne Kleidungsstück gedreht und gewendet, um mögliche Spuren zu finden. Das Blut am Kragen stammt wahrscheinlich vom Opfer, vermutet sie. Ansonsten gibt es keine weiteren Anzeichen für Gewalt, keine Risse oder andere Schäden an den Kleidern.

Als sie die Hose auf links dreht, entdeckt sie etwas, das von dem Untergrund stammen könnte, auf dem die Leiche lag. Irgendeine getrocknete Pflanze. Fanny ist mit einem Schlag hellwach, und durch das erleuchtete Vergrößerungsglas, das in ihre Lampe eingebaut ist, betrachtet sie neugierig, was vor ihr liegt. Es sieht wie Sonnentau aus. Aber Moment, wo wurde das Opfer gefunden? War das nicht unter einer Fichte mitten im Wald? Sie schaut im mitgeschickten Bericht nach. Genau, das Opfer lag im Trockenen unter einer Fichte, seltsamerweise unter einer Decke.

Fanny Olsson schaut auf und starrt in die Luft. Sonnentau wächst nicht im Wald, man findet es in feuchten Gebieten, in Sümpfen oder Moorgegenden. Und in der Nähe des Orts, an dem die Leiche entdeckt wurde, gab es doch auch ein Moor.

Das Opfer lag ursprünglich nicht am Fundort, sondern wurde dorthin gebracht. Vermutlich, nachdem der Tod eingetreten war.

Verschleppt

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