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ОглавлениеMontagmorgen. Ein herrlich klarer Tag mit Sonnenschein und blauem Himmel. Kurz nach acht, als die Polizeiwache öffnet, kommt eine alte Frau auf einem riesigen Damenrad, das mindestens so altersschwach ist wie sie. Sie fährt mit erstaunlicher Geschmeidigkeit, bevor sie bremst und absteigt. Dann stellt sie das Rad im Fahrradständer neben einem Blumenkübel mit verwelkten Tagetes ab. Am Lenker hängen zwei Bastkörbe, die dunkle Beerenflecken aufweisen. So früh am Tag sind sie noch leer.
Viola Uusitalos knochige Hände streichen schnell über den blumigen Baumwollhut, den sie auf ihre grauen Locken gedrückt hat. Sie nimmt die leeren Körbe und betritt mit entschlossenem Schritt den Eingangsbereich. Dort sitzt Tore Östers Tochter Sonja an der Information und strickt Babysöckchen aus gelber Angorawolle.
»Guten Morgen«, sagt Viola. »Ist es wieder so weit?«
»Ja, jetzt kommt bald Enkelkind Nummer fünf«, sagt Sonja und strahlt über das ganze Gesicht. »Aber wir wissen noch nicht, was es wird, deshalb halte ich mich an Gelb und Grün, dann sind wir auf der sicheren Seite.«
»Ich komme ja normalerweise nicht ständig hierher gelaufen. Aber jetzt möchte ich doch etwas anzeigen, nämlich eine, ja wie soll ich es nennen, eine mysteriöse Entdeckung könnte man wohl sagen. Hast du vielleicht einen guten Polizisten an der Hand, mit dem ich reden könnte?«
»Worum geht es?«
Sonja beugt sich neugierig vor, aber so einfach funktioniert es nicht. Viola räuspert sich.
»Nun ja, ich muss mit einem Polizisten sprechen.«
Sonja versteht den Wink. Sie wirft den Kopf zurück, genauso wie als Teenager, dann sagt sie »einen Moment« und schaut mit wichtiger Mine auf ihre Telefonschaltzentrale. Dass sie all diese Knöpfe auseinander halten kann, denkt Viola.
Gütiger Himmel, denkt Sonja. Warum müssen immer alle Verrückten am Montagmorgen hierher kommen und von mysteriösen Entdeckungen berichten? Sie erreicht diese Schlafmütze Stickan. Zu Viola sagt sie:
»Sie können sich gerne dort auf das Sofa setzen und warten. Stig Rönnlund kommt gleich.«
»Ist er gut? Kann man ihm vertrauen?«
Viola sieht Sonja misstrauisch an.
»Er ist garantiert der Beste, den wir haben. Nach dem Polizeichef natürlich«, fügt Sonja hinzu und beginnt wütend zu stricken, so dass die Nadeln aneinander schlagen.
Nach diesem Söckchen stricke ich eine passende Jacke mit der Rundnadel, denkt sie und blickt kurz zu Viola Uusitalo hinüber. Welch eigensinniger Mensch – natürlich hat sie sich nicht gesetzt, sondern steht auf ihren krummen alten Beinen da.
Mindestens zehn Minuten muss sie warten, bis es Stickan behagt, sich von seinem Patiencespiel am Computer zu lösen. Sonja sieht wohl, wie Viola von einem Bein auf das andere tritt, aber die Alte scheint zäh wie Kiefernholz zu sein.
»Guten Morgen, Konstapel«, sagt Viola laut und nimmt seine Rechte mit einem festen Händedruck.
Stickan lacht und weist ihr den Weg. Er erkennt auf den ersten Blick, wenn jemand chronische Schmerzen hat.
Er nimmt sie mit in sein und Eriks Zimmer, bittet sie, sich zu setzen, und ist zufrieden mit sich, weil er daran denkt, Viola zu fragen, ob sie Kaffee möchte. Sie möchte nicht. Sie möchte, dass er die Tür schließt. Stickan spürt eine leichte Verärgerung aufkeimen. Wer zum Teufel glaubt sie, dass sie ist, diese religiöse Alte, die ständig zu Gebetsstunden rennt und dasselbe von anderen erwartet?
»Also, Sie haben etwas gesehen, wovon Sie Mitteilung machen möchten«, sagt er und faltet die Hände auf dem Schreibtisch.
»Willst du dir nicht notieren, was ich sage, Stig?«, fragt Viola streng.
»Ich notiere es mir hier«, sagt Stickan und klopft sich mit dem Finger an die Stirn.
Sie schaut ihn lange an. Viola weiß schließlich, was für ein Schlamper der kleine Stig Rönnlund immer gewesen ist. Es wunderte sie sehr, dass er es geschafft hatte, auf die Polizeischule zu kommen, aber das war freilich auch zu einer Zeit, in der sie händeringend nach Leuten suchten, die bereit waren, eine Uniform anzuziehen. Die kleine Sonja weiß wohl nicht, wovon sie redet, wenn sie behauptet, Stig sei der beste Polizist, den sie hätten. Wenn es um die Polizei so übel bestellt ist, kann sie genauso gut gleich einpacken und dichtmachen, denkt Viola.
Sie beugt sich vor und stellt zu Stickans Verdruss ihre beiden Bastkörbe auf den Schreibtisch. Er will keine Beerenflecken auf seine wichtigen Unterlagen bekommen. Sie senkt die Stimme.
»Es ist so, Stig, ich möchte, dass du notierst, was ich sage.«
Er sinnt über diese Unerhörtheit nach. Die Schachtel nimmt sich etwas heraus.
Aber er kann natürlich auch mitspielen. Er will die Alte lediglich so schnell wie möglich zur Tür hinaus und wieder im Wald haben. Er setzt ein angestrengtes Lächeln auf und holt aus einer Schublade einen abgenutzten Collegeblock hervor. Der erste Stift schreibt nicht, er wirft ihn in den Papierkorb. Der zweite Stift funktioniert zwar nicht gut, muss aber reichen.
»Also?«, fragt er kurz.
Die Alte nimmt Anlauf. Sie sieht streng aus. Sie hat sich genau überlegt, was sie sagen will.
»Ich bin hierher gekommen, weil ich ein verdächtiges Gebäude entdeckt habe, vermutlich ohne Genehmigung errichtet.«
Stickan kritzelt unlustig etwas auf das Papier. Was hat die Frau hier zu meckern?
»Jemand hat ein ganz neues Haus im Moorgebiet hochgezogen. Es ist schlampig gebaut und muss sehr schnell entstanden sein.«
»Entschuldigen Sie, Viola, aber das klingt mehr nach einem Fall für die Bauaufsichtsbehörde. Die Polizei erteilt keine Baugenehmigungen«, sagt Stickan.
»Um das Haus herum steht ein hoher Zaun, und manchmal sieht man Wachhunde dahinter«, fährt sie fort und schiebt ihre Beerenkörbe noch weiter zu Stickan hinüber. Er schiebt sie wieder ein Stück zurück.
»Weder Zäune noch Wachhunde sind ungesetzlich«, sagt er. Jetzt soll die Alte aber Ruhe geben.
»Machst du dir Notizen?«
»Ja, ja, natürlich, verdammt, Entschuldigung, natürlich.« Sie hält inne. Wartet auf den Trödelheini Stig Rönnlund. Wie soll er dieses Gekrakel jemals wieder entziffern können?
»Ich habe gesehen, dass Autos dorthin fahren. Autos mit jungen Mädchen darin. Sehr jungen Mädchen«, sagt die Alte.
Stickan läuft es kalt den Rücken hinunter. Was zum Teufel erzählt sie da?
»Sergej Björkman habe ich oft dort gesehen«, sagt Viola und starrt ihn an.
Stickan bricht in Gelächter aus.
»Sergej! Was hat der jetzt damit zu tun? Verdächtigen Sie ihn irgendeines Verbrechens? Er kann keiner Fliege etwas zu Leide tun. Er ist gut darin, der halben Stadt Jagdhunde zu verkaufen, aber ich glaube kaum, dass er etwas anderes zustande bringt. Sergej würde doch kein Haus im Moor bauen. Warum sollte jemand dort wohnen wollen, bei den ganzen Bremsen und Mistviechern, die es dort gibt?«
»Eben«, sagt Viola und sieht Stickan wieder in die Augen. »Seine Jagdhunde sind nach und nach verrückt geworden. Ich habe gehört, dass er Inzucht betrieben hat, um an das schnelle Geld zu kommen. Vielleicht muss er also die Branche wechseln, wenn man es so nennen will«, sagt Viola quasi ins Blaue hinein.
Stickan schluckt. Die Frau ist genauso verrückt wie Sergejs wertlose Elchhunde.
»Das Gebäude steht in seinem Jagdrevier. Ich habe es im Sommer entdeckt, als ich im Moor Multbeeren sammeln war. Man muss ja auf der Hut sein«, sagt sie und macht ein paar Schmatzgeräusche mit ihrem Gebiss, das ein wenig locker sitzt.
Stickan beschließt, bis zum Ende mitzuspielen, um sie schnell loszuwerden. Er setzt eine ernste Miene auf.
»Ich danke Ihnen dafür, Viola, dass Sie mit dieser wertvollen Information hierher gekommen sind. Wenn nur alle Bürger ein so großes Verantwortungsbewusstsein hätten wie Sie. Das würde unsere Arbeit enorm erleichtern.«
»Was passiert jetzt mit meinen Angaben?«
»Wir werden sie bearbeiten. Ich spreche mit meinem direkten Vorgesetzten darüber, dann sehen wir, was wir tun können.«
Sie blinzelt und seufzt kurz auf.
»Mach das, kleiner Stig, mach das.«
Er beißt die Zähne zusammen. Kein Mensch darf ihn »kleiner Stig« nennen. Er ist froh, dass die Tür zum Flur geschlossen ist. Erik hätte sich totgelacht. Er begleitet sie zurück zum Ausgang. Gibt ihr wieder die Hand. Gerade als sie gehen will, sagt sie noch:
»Weißt du nicht, dass es eine Sünde ist, Karten zu spielen? Auch am Computer. Sei achtsam, Stig Rönnlund. Ich bin zwar alt, aber ich sehe immer noch gut. Und glaube nicht, dass Gott dich hinter deinem Schreibtisch nicht sieht, denn das tut er.«
Dann nimmt sie ihre Körbe und geht hinaus zu ihrem Fahrrad.
Stickan kehrt in sein Büro zurück, reißt das Blatt aus dem Block, auf das er Wörter wie »Moor« und »illegales Gebäude« gekritzelt hat, und stopft es direkt in den Reißwolf.
Eine Anzeige gegen Sergej aufsetzen.
Nie im Leben.
Er hört klackende Absätze auf dem Flur. Es ist Sonja.
»Kommst du, Stickan? Alle warten auf dich im Konferenzraum. Diese beiden Neuen sind jetzt da. Es gibt frischen Kaffee und Gebäck. Solches mit Nüssen drin, das isst du doch so gerne«, sagt sie, bevor sie zurück zur Information klappert.
Stickan seufzt. Dieser Montag ist schlimmer als gewöhnlich. Jetzt werden sie wie die Schuljungen einen Verweis bekommen, von zwei verdammten Idioten aus Stockholm, die keinen blassen Schimmer davon haben, wie es ist, hier oben zu arbeiten, aber glauben, sie wüssten alles. Er nimmt seine Tasse mit, die noch kein einziges Mal gespült wurde, seit er sie vor zwei Jahren gekauft hat, und geht zum Konferenzraum. Dort sitzen die meisten, die an diesem Tag im Dienst sind. Selbstverständlich Polizeidirektor Åke Vallgren und Kripochef Mats Julin mit gefüllten Kaffeetassen; das fettige Kopenhagener Gebäck liegt vor ihnen auf Servietten, auf denen Frohe Ostern steht. Sie müssen aus irgendeinem alten Restpostenbestand stammen. Außerdem ist Sofia Blind da, ein Frauenzimmer, das starrsinnig versucht, Sexualverbrechen gegen Kinder aufzudecken, obwohl alle wissen, wie viel sich solche Gören zusammenreimen und ausdenken können. Der Kriminaltechniker Rolf Blom und sogar der Staatsanwalt Sture Holmlund sind anwesend. Letzterer muss extra eingeladen worden sein. Stickan nimmt neben Erik Platz, der so diskret wie möglich hustet. Stickan wirft einen Blick unter den Tisch, und tatsächlich liegt dort einer von Åkes Elchhunden. Es sieht aus, als würde Erik weinen, aber er ist nur extrem allergisch gegen Hundehaare. Dennoch will er sich nicht mit dem Chef überwerfen, der immer einen seiner Jagdhunde mit zur Arbeit bringt.
»Hatschi«, niest Erik und schnäuzt sich in eine der Osterservietten.
»Jetzt kommen sie«, ruft Sonja vom Flur aus, und kurz darauf wird der Türrahmen vom größten Menschen, den Stickan je gesehen hat, verdunkelt.
Er muss sich geradezu bücken, um durch die Tür zu kommen. Teufel noch einmal. Stickan erstarrt.
Vor seinen Augen, an seinem Arbeitsplatz, offenbart sich der Chef der Unterwelt in Eigenschaft eines übergeordneten und unabhängigen Polizisten aus Stockholm. Das ist nicht zu fassen! Das kann nicht die richtige Person sein. Ein Mann, der aussieht wie dieser Kanake, kann vielleicht Zigaretten oder Waffen schmuggeln. Aber nicht der lange Arm des Gesetzes sein. Und hat er sich seine Uniform aus irgendeinem alten Vorhangstoff selbst genäht? So große Uniformen gibt es doch gar nicht, denkt Stickan, während er gleichzeitig überlegt, wie er den Bericht löschen kann, den er selbst so eifrig am Abend zuvor in einer Überstunde niedergeschrieben hat.
Hinter dem Leuchtturm folgt das Anhängsel. Diese Bazille, das Mädchen, das in der Kneipe dabei war, ist es überhaupt volljährig? Und hat es seine Uniform auch selbst zusammengeschustert? Aus einem Taschentuch? Oder vielleicht zweien?
Die beiden Neuankömmlinge sehen sich im Raum um, nicken kurz und setzen sich dann auf die ihnen zugewiesenen Plätze. Sonja stolziert um sie herum, schenkt Kaffee ein und drängt ihnen Gebäck auf. Aber der Riese sagt: »Nein danke, ich bin Veganer.«
»Aber in Kopenhagener Gebäck ist doch kein Fleisch«, ruft Sonja erschrocken aus, beinahe als habe er sie geschlagen.
»Ich bin sehr orthodox, wissen Sie, und Fett ist oft tierischer Herkunft. Ich möchte kein Risiko eingehen. Außerdem brauche ich nicht mehr zu wachsen.«
Niemand sagt etwas. Die Frau neben ihm verdreht ein wenig die Augen, es sieht fast so aus, als sei sie entrüstet. Verdammt, Rafael, denkt Hedvig. Mach es nicht schlimmer, als es ist. Gestern noch hast du ein blutiges Beefsteak gegessen. Sie finden uns ohnehin schon seltsam.
Sonja versorgt sich mit einer Tasse Kaffee und dem größten Gebäckstück, das noch übrig ist. Sie war es, die auf das Brotkörbchen mit blauer und gelber Acrylfarbe, die sie im Konsum erstanden hatte, das Emblem der Polizei gemalt hat. Die kleine, neu eingetroffene Frau schiebt Sonja einen Stuhl zu, die errötend sagt: »Oh, nein, ich bleibe nicht, ich sitze nur in der Telefonzentrale. Außerdem verbrennt man mehr Fett, wenn man im Stehen isst. Das habe ich in der Zeitung gelesen.«
Dann klappert sie den Flur entlang davon.
Åke schließt hinter ihr die Tür und unterbricht dann die leicht angestrengte Stille.
»Im Namen der Polizeibehörde heiße ich unsere Kollegen aus dem Süden hier willkommen. Wir wissen alle, warum Sie da sind, aber über den Grund haben wir unterschiedliche Auffassungen. Ich habe zu diesem kleinen Treffen eingeladen, damit Sie die Gelegenheit haben, so viele wie möglich von uns kennen zu lernen, und damit wir unsere Sicht auf die Dinge schildern können. Willkommen, Hedvig Ek und Gabriel ...«
»Rafael«, sagt Rafael.
»Ja, Rafael, wie auch immer man Ihren Nachnamen ausspricht.«
»Flores Alba«, sagt Rafael.
»Ja, hm, Alba«, wiederholt Åke.
»Flores Alba.«
»Genau, willkommen hier bei uns.«
Dann beginnt Åke mit einer Erläuterung, der die beiden Neuankömmlinge ganz und gar zustimmen. Sie handelt davon, dass Geldmangel herrscht, zu wenig Polizisten für einen geografisch extrem großen Bezirk zuständig sind und es zu viele Krankschreibungen gibt. So weit sind alle einer Meinung. Aber hinsichtlich der Prioritätenliste weichen die Ansichten voneinander ab.
»Wir setzen das schwere internationale Verbrechen an erste Stelle, wissen Sie«, sagt Åke und schiebt sich seine Lesebrille in die Stirn.
»Grenzüberschreitender Frauenhandel ist ein schweres internationales Verbrechen«, sagt die Frau aus Stockholm.
Der Polizeichef ergreift wieder das Wort. »Das Gesetz macht sehr hohe Auflagen, wenn es um solchen Sexhandel geht. Wir müssen die Täter im Prinzip in flagranti ertappen, wenn es zu einer Anklage kommen soll. Die Strafe beträgt zudem nicht mehr als sechs Monate oder ein Bußgeld, wie Sie wissen, deswegen konzentrieren wir uns stattdessen auf Drogen- und Waffenkriminalität«, sagt Åke.
»Die Höchststrafe für Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution beträgt zehn Jahre Haft. Ist das hart genug?«, fragt Hedvig, und ihr ist klar, dass sie bereits gehasst wird.
»Es ist ein unerhört schwieriges Unterfangen, so ein Verbrechen zu beweisen. Geben Sie uns alle Polizeikräfte zurück, die wir in den letzten zehn Jahren eingebüßt haben, vielleicht können wir dann ein paar Ermittler ausschicken. Außerdem ist es doch so, dass die Frauen, von denen wir jetzt sprechen, nicht mit der Polizei zusammenarbeiten wollen. Sie tun das hier doch, weil sie es wollen, sie wollen Geld mit ihrem Körper verdienen«, sagt Åke.
»Wie viele Prostituierte haben Sie im letzten Jahr verhört?«
Diese verdammte Tussi ist schonungslos.
Stille.
»Hm«, sagt Åke schließlich.
»Wie viele?«
»Keine.«
Er sagt es leise und äußerst widerstrebend.
»Woher wissen Sie dann, dass sie nicht aussagen wollen?«
Erneutes Schweigen.
Der Riese holt tief Luft und spricht dann zu ihnen, ganz ohne Akzent. Bei dem Namen hätte man denken können, dass er einen Dolmetscher braucht.
»Über ein Jahr lang haben Sie keine einzige Untersuchung wegen des Verdachts auf Prostitution oder eines Verstoßes gegen das Gesetz zur Bekämpfung von Menschenhandel zum Zwecke der Prostitution eingeleitet. Obwohl wir über Informationen verfügen, die darauf hindeuten, dass der Frauenhandel an der finnischen Grenze besonders floriert. Russische Frauen werden über die Grenze nach Schweden zu schwedischen Männern gebracht, die für Sex bezahlen. Dass es nicht zur Anklage gekommen ist, ist vielleicht eine Sache, aber wie erklären Sie, dass Sie keine verdächtigen Fälle und konkreten Tipps untersuchen?«
»Nun ist die Sache ja nicht so einfach, wie Sie versuchen, sie darzustellen. Wenn es um Angaben sexueller Naturgeht, lügen die Menschen deutlich mehr als sonst. Man möchte sich interessant machen und prahlen. Es gibt so viele Gerüchte. Nicht zuletzt vom hiesigen Frauenhaus«, sagt der Polizeichef.
Hier macht Åke eine Pause, bevor er fortfährt: »Viele haben etwas gehört oder glauben, etwas zu wissen, aber die wenigsten wissen etwas Konkretes. Nur weil Frauen aus einem bestimmten Land zusammen in einer Wohnung wohnen, heißt das noch nicht, dass sie Prostituierte sind; nur weil sie an irgendeiner Tankstelle in einen Wagen mit schwedischem Nummernschild steigen, bedeutet es nicht, dass sie dabei sind, sich zu verkaufen. Sie müssen auch daran denken, was das bei all den netten und gesetzestreuen Frauen aus Russland bewirkt, die hier wohnen. Sie fühlen sich durch all diese Gerüchte gebrandmarkt! Diejenigen, die nichts getan haben. Es ist schlimm, dass sie so bestraft werden sollen«, sagt Åke und lehnt sich über den Konferenztisch.
»Ich spreche nicht von gesetzestreuen Personen. Um die braucht die Polizei sich nicht zu kümmern. Um sie geht es hier nicht«, sagt Rafael.
»Das können Sie leicht sagen! Hier kennen sich alle, und es sind ungeheuer ernste Beschuldigungen, mit denen Sie hier ankommen«, sagt der Kripochef Mats Julin.
Åke spricht mit dem Mund voll Gebäck: »So etwas kann man schließlich nicht geheim halten, das verstehen Sie doch. In Kleinstädten wissen die Leute über ihre Nachbarn Bescheid. Es ließe sich nichts machen, ohne dass jemand etwas erführe.«
»Aber wenn man auf einem abgelegenen Hof im Wald wohnt?«, fragt Rafael.
»Vor der Abzweigung zum kleinen Schotterweg in den Wald ist eine Kreuzung. Wenn dort viel Verkehr herrscht, wissen die Leute darüber Bescheid«, sagt Åke und füllt sich Kaffee nach.
»Und angenommen, sie wissen Bescheid, angenommen, alle wissen, was vor sich geht, könnte es dann sein, dass sie schweigen? Weil sie sich gegenseitig in der Hand haben, weil sie verwandt miteinander sind oder zusammen auf die Jagd gehen oder gemeinsam Schnaps brennen?«
»Hören Sie mal, so etwas bildet ihr Stockholmer euch doch ein! Das ist völliger Unsinn! Weder jagen wir illegal, noch betreiben wir Schwarzbrennerei! Wenn Sie solche Vorurteile haben, können Sie gleich wieder nach Hause fahren.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass wir einen Auftrag erhalten haben. Nicht von Ihnen, sondern von höherer Stelle. Es geht nicht darum, Sie zu überprüfen, um herauszufinden, ob Sie richtig oder falsch gehandelt haben. Das Einzige, was wir versuchen sollen, ist, einen Anhaltspunkt zu finden, um selbst beurteilen zu können, ob es sich nur um Gerüchte und unsinniges Gerede handelt, wie Sie behaupten. Wir werden unseren Auftrag ausführen, was auch immer Sie darüber denken mögen. Wir haben die Erlaubnis, auf eigene Faust zu handeln, wie Sie wissen«, sagt Rafael.
Unter dem Konferenztisch gibt der Elchhund des Polizeidirektors einen geräuschvollen Furz von sich, der nach Trockenfutter stinkt.
»Aber Lola«, sagt Åke und wedelt verärgert mit der Hand.
Staatsanwalt Sture Holmlund zieht seine venezianische Rohseidenkrawatte zurecht und sagt: »Mir ist eigentlich nicht ganz klar, warum ich hier anwesend sein soll. Ich gehöre ja schließlich einer ganz anderen Behörde an. Die Polizei sollte ihre Probleme intern regeln.«
Rafael erwidert: »Aber Sie tragen auch eine gewisse Verantwortung. Wenn Sie Kenntnisse über ein mutmaßliches Verbrechen haben und keine Untersuchung einleiten, begehen Sie selbst ein Verbrechen. Ihre Behörde hat landesweit den niedrigsten Prozentsatz an gerichtlichen Vorladungen wegen Sexualverbrechen und Gewalt gegen Frauen und Kinder. Wie erklären Sie sich das?«
Der Staatsanwalt überlegt einen Moment, dann erhebt er sich, rückt den Stuhl zurecht und verlässt ohne ein Wort den Raum.
Alle schauen auf Rafael, der sagt: »Tja, dann fangen wir wohl mit der Arbeit an.«
»Warten Sie einen Moment.«
Åke hebt die Hand.
»Das war doch wohl unnötig. Und ich bin noch nicht fertig. Natürlich werden wir mit Ihnen zusammenarbeiten, damit Sie Ihren Auftrag ausführen können. Aber ich möchte Sie warnen, Sie werden mit Sicherheit enttäuscht werden. Hier gibt es nichts von dem, was Sie andeuten. Nichts! Keinen Menschenhandel, keine Prostitution. Gäbe es das, hätten wir dem bereits Einhalt geboten. Nun dachte ich daran, Ihnen einen eigenen Streifenwagen zuzuteilen, dann können Sie sich heute in den normalen Dienst eingliedern.«
Hedvig und Rafael starren ihn an.
»Auf die Art gewinnen Sie ein besseres Verständnis dafür, wie es bei uns hier oben zugeht. In Wirklichkeit. Damit Sie Ihren hochwohlgeborenen Chefs da unten in der königlichen Hauptstadt die Wahrheit erzählen können.«
Hedvig gewinnt als Erste wieder die Fassung.
»Natürlich. Selbstverständlich«, sagt sie.
»Gut. Mats kümmert sich im kleinen Konferenzraum um die Einteilung«, sagt Åke.
»Oh, nein! Da trifft sich doch die ›Lustige Truppe‹!«, wendet Stickan ein.
»Müssen wir eben ausweichen«, antwortet Erik.
Dann niest er so, dass Gebäckkrümel über den gesamten Konferenztisch fliegen.
»Kommen Sie zunächst einmal noch mit zu mir, dann können wir etwas ungestörter miteinander reden. Ich möchte auf keinen Fall wie ein Bremser wirken oder den Eindruck erwecken, ich würde mich der Entscheidung, dass Sie hier sind, widersetzen. Selbstverständlich dürfen Sie völlig frei agieren, niemand von uns denkt daran, sich einzumischen. Hier entlang, mein Büro liegt dort vorne links«, sagt Åke und treibt Hedvig und Rafael vor sich den Gang entlang.
»Aber Sie verstehen bestimmt, dass diese Angelegenheit starke Emotionen weckt. Die Leute hier im Haus, die lange an dieser Sache gearbeitet haben, fühlen sich ganz einfach übergangen und in Frage gestellt. Ich hoffe, Sie begreifen das?«
Weder Rafael noch Hedvig antworten ihm, stattdessen setzen sie sich schweigend auf ein braunes Ledersofa, das dem breiten Schreibtisch, der voller Papiere ist, genau gegenübersteht. Åke folgt Hedvigs Blick, der an einer Fotografie auf dem Schreibtisch hängen geblieben ist. Er deutet mit dem Kopf darauf: »Das ist Birgitta, meine Gattin. Eine wirklich talentierte Frau. Sie ist Ärztin. Kümmert sich um diejenigen, die es schwer haben. Ich bin so stolz auf sie«, sagt er beinahe schüchtern.
Die Frau auf dem Bild sieht apart aus.
Hedvig nickt, weil sie den Eindruck hat, es sei angebracht.
»Ich liebe sie über alles auf der Welt, wirklich.«
Einen Augenblick lang ist es still, dann sagt Rafael: »Entschuldigen Sie die Frage, aber was ist denn diese ›Lustige Truppe‹?«
Åke fährt sich mit der Hand in den Hemdkragen, bevor er antwortet: »Es ist ein Versuch, die Zufriedenheit am Arbeitsplatz zu erhöhen, könnte man sagen. Als ich diese Stelle antrat, gab es viele Klagen von Seiten der Gewerkschaft, darüber, dass die Leute sich aufreiben, ohne jemals etwas Freundliches zurückzubekommen. Dieser Job ist schließlich nicht immer besonders spaßig oder schön, wenn man so will. Deshalb wurde die ›Lustige Truppe‹ gegründet, und im Moment ist sie gerade dabei, einen Ausflug ins Polizeimuseum nach Stockholm zu organisieren, glaube ich. Dort soll es viele interessante Mordwerkzeuge geben, die man studieren kann. Und abends ist ein Theaterbesuch geplant, irgendetwas mit einer Mausefalle, habe ich gehört. Man könnte das Ganze als Studienreise bezeichnen, ja als Fortbildung geradezu«, sagt Åke.
»In dem Stück spielt ein Polizist eine entscheidende Rolle«, erwidert Hedvig.
»Aha, ist das so? Wie nett«, meint Åke.
»Wir dachten daran, uns ein wenig umzuschauen«, sagt Hedvig und steht auf. Sie will keine Sekunde länger hier sitzen und bei zwanghafter Konversation Wurzeln schlagen.
Åke nickt und seufzt: »Ja. Natürlich, tun Sie das. Aber wie gesagt, hier gibt es nichts zu entdecken. Sie werden unverrichteter Dinge wieder nach Hause fahren müssen.«
Später, nachdem sie ihren ersten Arbeitstag absolviert haben und bei diversen Routineeinsätzen mehr Kilometer gefahren sind, als Hedvig jemals für möglich gehalten hätte, gehen sie und Rafael in den Fitnessraum der Polizeiwache hinunter und trainieren eine Runde, um den Kopf freizubekommen. Beide konzentrieren sich ganz auf ihren eigenen Körper, darauf, die Bewegungen korrekt auszuführen und so lange wie möglich durchzuhalten. Rafael weiß, dass Hedvig gut trainiert ist, dennoch staunt er darüber, wie eine so kleine Frau wie sie so viele Gewichte heben und stemmen kann. An der einen Wand sind Spiegel angebracht. Hedvig sieht verbissen aus, um nicht zu sagen wütend. Rafael lacht heimlich.
Hedvig schließt die Augen und fährt fort, bis ihre Muskeln vor Übersäuerung brennen. Ihr Kopf entspannt sich, ihre Wut erhält eine Richtung: noch einmal, noch einmal ... Wenn sie kurz davor ist aufzugeben, denkt sie an Anders, und dadurch schafft sie immer noch einmal. Seinetwegen.
Dann dehnt sie sich. Straffe Muskeln und viel Kraft. So will sie sein. Sie brilliert vor Rafael, indem sie in den Spagat geht. Aber Rafael lacht nur.