Читать книгу Die Entführung der Dinharazade - Christina Wermescher - Страница 5
ОглавлениеKapitel 1
Dinah raffte ihr pfirsichfarbenes Seidenkleid und nahm im Laufschritt die ausgetretenen, steinernen Stufen, die zu Abdis Atelier hinaufführten. Der hatte sich bei ihrem letzten Besuch sehr geheimnisvoll gegeben und stand wohl wieder einmal kurz vor der Fertigstellung einer neuen Erfindung. Neugierig öffnete sie die Tür zur Werkstatt, die sie als Hort von Betriebsamkeit und Tüftelei fast ebenso sehr liebte wie den alten Waffenbaumeister selbst. Abdi war ihr in den vergangenen Jahren nicht nur ein Lehrer, sondern auch ein wahrer Freund geworden.
Kein Klappern, kein Hämmern, nicht das leiseste Geräusch drang aus der Werkstatt. Irritiert über die Stille hielt sie am Eingang inne und ließ den Blick suchend durch den halbdunklen Raum gleiten. Brütete der Meister über den Plänen zu seinem nächsten Projekt?
Im Atelier war es angenehm kühl, und lediglich durch ein verhängtes Fenster drang etwas Licht. Dinah atmete den Duft der Werkstatt ein. Diese Mischung aus Papyrus, Öl, Metall und Holz war längst ein wohliger Hauch von Heimat für sie geworden. Sie sah sich suchend um, und als ein leichter Luftzug ihre Haut streifte, bemerkte sie, dass die Tür zur Dachterrasse einen Spalt offenstand. Dinah durchschritt das Halbdunkel des Raumes. Silhouetten von Schriftrollen und allerlei Gerätschaften zeichneten sich schemenhaft ab. Als sie die Holztür aufschob, blendeten die Strahlen der Mittagssonne sie nach dem Dämmerlicht des Ateliers. Sie schirmte die Augen mit der Hand ab. Noch ehe sie sich an die Helligkeit gewöhnt hatte und irgendetwas erkennen konnte, hörte sie Abdis freudiges Rufen.
»Da bist du ja, Dinah! Ich habe dich schon erwartet!«
Er erhob sich von dem Lager aus bunten Kissen, die unter einem purpurnen Stoffdach lagen. Üppige Stauden verliehen der Terrasse den Charme einer Oase.
»Komm näher, Dinah! Setz dich zu mir«, bat er. Er hatte das blaue Tuch, das er üblicherweise um den Kopf gebunden trug, abgelegt, und sein Haar stand wirr in alle Richtungen ab. Es war weiß wie der unberührte Schnee auf den höchsten Gipfeln des Hissargebirges.
#Dinah ging zu ihm und ließ sich lächelnd neben ihm auf dem farbenfrohen Kissenlager nieder. Aus dem Rohr eines silbernen Samowars qualmte es beachtlich.
Abdi schien sie wirklich erwartet und dem Teewasser bereits kräftig eingeheizt zu haben. Der dicke Stoff über ihr schützte sie vor den Sonnenstrahlen. Dieses angenehm schattige Plätzchen lud zu einem Gläschen Tee ein. Außerdem kochte niemand so guten Chai wie Abdi. Da konnten selbst die Diener am königlichen Hof noch etwas lernen.
Gewissenhaft nahm der alte Mann das Rohr vom Samowar und füllte eine silberne Kanne, in der er bereits Tee und seine geheime Gewürzmischung vorbereitet hatte, mit heißem Wasser.
Dann stellte er die Kanne vor ihnen auf einen niedrigen Holztisch, auf dem auch zwei verzierte Gläser bereitstanden und ein Gegenstand, der jedoch unter Abdis blauem Kopftuch verborgen war. Neugierig begutachtete Dinah die Umrisse, die sich durch den Stoff abzeichneten. Was mochte das sein?
Abdi lächelte verschmitzt, als er ihren Blick bemerkte. Um seine Augen spielten zahlreiche Lachfältchen, und sie schauten Dinah abenteuerlustig an wie die eines Kindes. Sein wacher Geist hatte ihr schon oft atemloses Staunen und interessante Erkenntnisse beschert. Auch heute hatte er also wieder einmal eine Überraschung für sie.
»Was führst du denn im Schilde, Abdi?«, fragte sie ihn schmunzelnd. Er rieb sich voller Vorfreude die Hände.
»Nur Geduld, meine Liebe. Jetzt trinken wir erst einmal einen Chai auf diesen wunderschönen Tag.«
Aus der silbernen Teekanne stieg ihr bereits ein verführerisch würziger Duft in die Nase. Er vermischte sich mit dem süßlichen Geruch der blühenden Stauden, die in großen Steinbottichen gepflanzt waren.
Endlich befand der königliche Waffenbaumeister, dass der Tee lange genug gezogen hatte und füllte die beiden Gläser mit der dampfenden, dunkelbraunen Flüssigkeit. Dann nahm er unter Dinahs gespanntem Blick das Tuch von dem geheimnisvollen Gegenstand. Doch auch nun, wo sie ihn betrachten konnte, verstand Dinah nicht, was es mit dieser Ansammlung von Metallteilen und dem glänzenden Rädchen auf sich hatte, auf der oberhalb ein filigraner Schmetterling angebracht war. Sie beugte sich vor, um besser sehen zu können, und beobachtete Abdi dabei, wie er die Apparatur behutsam auf eines der Teegläser setzte.
Nach kurzem Zögern begann das kleine Rad sich wie von Geisterhand zu drehen. Zwei Stäbchen führten davon über kleine Übersetzungsrädchen zur Unterseite der Schmetterlingsflügel, die nun schlugen, als würde das metallene Insekt jeden Moment abheben.
Entzückt klatschte Dinah in die Hände, und Abdi strahlte über das ganze Gesicht.
»Wunderbar! Wie hast du das gemacht?«, rief sie. Sie liebte es, seine Basteleien zu betrachten. Aber noch mehr liebte sie es, ihre Mechanismen zu ergründen.
»Das ist ein Motor, der die Wärme unseres Chais als Antriebsquelle nutzt«, verkündete der Meister stolz.
Dinah zog überrascht die Luft ein. »Ein Motor ohne Feuer und Dampf?«
Abdi nickte lächelnd.
»Erzähl mir alles darüber!«, bat sie und hing an seinen Lippen, als er ihr die Funktionsweise erklärte von der Kammer mit dem sich ausdehnenden und wieder verdichtenden Gas, in der sich eine Platte als Verdränger über dem Teeglas auf und ab bewegte, bis hin zu dem auf Hochglanz polierten Schwungrädchen. Dieser Mechanismus hätte völlig ausgereicht, um Dinah in Verzückung zu versetzen. Damit, dass der Motor einen Schmetterling scheinbar zum Leben erweckte, hatte Abdi noch eins draufgesetzt.
»Das ist ja unglaublich! Du hast dich wieder einmal selbst übertroffen!« Während Dinah den kleinen Motor beobachtete, hatte sie plötzlich eine Idee. »Das Rädchen erinnert mich an mein Spinnrad. Mutter besteht noch immer darauf, dass ich mich mit Handarbeiten beschäftige und gibt mir ständig neue Aufgaben.« Bei diesem Gedanken rollte sie genervt mit den Augen. »Könnten wir mein Spinnrad nicht mit solch einem Motor ausstatten?«
Abdi lachte laut auf. »Ich bin gerade dabei, verschiedene Anwendungsmöglichkeiten zu prüfen. An ein Spinnrad hatte ich nicht gedacht, aber bring es morgen mit. Dann überlegen wir uns etwas«, sagte er und zwinkerte ihr zu.
Dinah jubelte und umarmte ihn. Mit einem motorisierten Spinnrad würde ihr die Handarbeit vielleicht sogar Spaß machen.
Sie schwatzten noch eine ganze Weile über Abdis Erfindung und was man damit alles antreiben könnte, tranken Chai und genossen das lauschige Plätzchen unter dem purpurnen Stoffdach. Als die Sonne sank, bemerkte Dinah, dass es Zeit war, sich auf den Weg in den königlichen Palastgarten zu machen. Ihre Schwester Scheherazade würde dort bereits auf sie warten. Dinah verabschiedete sich von ihrem Lehrmeister und freute sich schon auf den nächsten Tag, wenn sie zusammen an ihrem Spinnrad basteln würden.
»Ich werde dir einen Diener schicken, um dein Spinnrad abzuholen.« Die beiden schmunzelten sich verschwörerisch an. Im Palast des Großwesirs, Dinahs Vaters, gab es natürlich eine stattliche Anzahl an Bediensteten, die das Spinnrad zu Abdi hätten bringen können. Doch sie wollten ihr kleines Experiment erst einmal geheim halten. Denn Dinas Mutter hatte sich die Arbeit ihrer Tochter am Spinnrad gewiss anders vorgestellt.
Sie drückte Abdi zum Abschied und lief dann gut gelaunt durch die Werkstatt und die steinernen Treppen hinunter. Zum Palastgarten war es nur ein Katzensprung. Schah Rayâr war darauf bedacht, alle wichtigen Menschen des Hofes und seine Berater stets in greifbarer Nähe zu haben. Und auch wenn Abdi sich nicht nur mit dem Bau von Waffen und Kriegsgerät beschäftigte, so hielt doch jeder im Reich große Stücke auf ihn und seine Fähigkeiten. Kein anderer im Dienst des Königs hätte sich so viele Spielereien erlauben können wie Abdi.
Beschwingt von dem schönen Nachmittag betrat Dinah die Pairidaeza. Dinah konnte es kaum erwarten, die Füße im kühlen Wasser dort zu baden. Gerade an solch heißen Tagen gab es kaum einen verlockenderen Ort in ganz Samarqand.
Der große, rechteckige Garten war zwischen den königlichen Privatgemächern und dem Regierungsgebäude mit seinen Empfangs- und Verhandlungssälen und den Unterkünften für hohe Staatsbesuche eingebettet. Erst einmal war Dinah dort drinnen gewesen. Sie erinnerte sich an die farbenprächtigen Mosaike in der Empfangshalle, die dem Gemach ihrer Schwester an Prunk und Raffinesse in nichts nachstand. An der Vorder- und Rückseite begrenzten jeweils zwei hohe Steinmauern mit großen Holztoren das weitläufige Areal, von denen die der inneren Mauern meist offenstanden. So boten die Durchgänge schattige Plätzchen für die Soldaten der königlichen Garde, die die Pairidaeza mit grimmigen Gesichtern und geschliffenen Säbeln bewachten. Als sie Dinah erblickten hellten sich ihre entschlossenen Mienen kurz auf. So mancher der Gardisten hätte ihrer hübschen Erscheinung nur zu gerne den Hof gemacht. Doch als Tochter des Großwesirs und Schwägerin des Königs war Dinah die wohl begehrteste junge Frau des Reiches. Für einen einfachen Soldaten kam es deshalb nicht infrage, ihr schöne Augen zu machen. Und so senkten sie stattdessen ehrfürchtig den Blick und verbeugten sich zum stillen Gruß.
Dinah war es längst leid, als gute Partie betrachtet zu werden. Gerne hätte sie mit den Soldaten gescherzt, doch sie wusste, dass sie mit solch unziemlichem Verhalten nur den Unmut ihrer Eltern oder gar des Königs selbst auf sich ziehen würde. Deshalb quittierte sie die Verbeugungen lediglich mit einem zurückhaltenden Lächeln.
Dinah lief einen Weg entlang, der linker Hand durch einen Wassergraben und auf der anderen Seite von ausladenden Dattelpalmen flankiert wurde. Aus jeder Himmelsrichtung kam einer dieser Gräben. Sie durchzogen das üppige Grün, teilten es in vier Rechtecke und mündeten in einem gekachelten Bassin im Zentrum der Pairidaeza. Dort sah sie Scheherazade schon von Weitem sitzen. Ihr violettes Kopftuch harmonierte märchenhaft mit den Grün- und Blautönen, die das Innere des Gartens beherrschten. Denn die Stauden, die in allen Farben des Regenbogens blühten, hielten sich ringsum an die Mauern gedrängt, wo sie ein bisschen Schatten ergattern konnten und überließen das Herz des Pairidaeza Palmen, Papyrus und Wasserspielen.
Dinah hätte ihre Schwester malen mögen inmitten dieser Idylle, doch dazu fehlte ihr die künstlerische Begabung. So hielt sie einen Moment inne, um sich das Bild einzuprägen. Eine friedliche Stille lag über der Szenerie. Nur die gelegentlichen Rufe der blauen Pfaue, die durch den Garten stolzierten, waren zu hören. Schah Rayâr hatte die Tiere als Geschenk von einem Maharadscha bekommen. In dessen Heimat galten diese schillernden Vögel als heilig. Ein Schmunzeln huschte über Dinahs Gesicht, als sie an den Fauxpas des hohen Gastes dachte. In Samarqand waren Pfaue ein Symbol der Unvollkommenheit, da ihre prachtvoll gefiederten Körper auf solch unschönen Füßen ruhten, und auch ihre Flugfähigkeit eines Vogels unwürdig war. Schah Rayâr hatte damals eines der Tiere sogleich schlachten und dem Maharadscha zum Abendessen vorsetzen lassen. Doch nach diesem Denkzettel hatte ihr Schwager Größe bewiesen und den restlichen Pfauenvögeln im Palastgarten eine neue Heimat geschenkt.