Читать книгу Die Entführung der Dinharazade - Christina Wermescher - Страница 6

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Kapitel 2

Ihre Schwester Scheherazade blickte erst auf, als Dinah sie von hinten umarmte. Sie sah aus, als hätte sie in der letzten Nacht kaum geschlafen. Der Grund dafür war wohl das kleine Bündel, das in ihren Armen lag. Dinahs kleiner Neffe hatte die Augen geschlossen und schlief wohlig in ein Tuch gekuschelt auf dem Schoß seiner Mutter. Dinah setzte sich zu den beiden auf eine Decke, die ihre Schwester ausgebreitet hatte. »Hallo Zayriddin«, flüsterte sie und streichelte dem Baby sanft über die rosige Wange.

»Jetzt schläft er selig«, meinte Scheherazade mit schiefem Lächeln. »Heute Nacht wollte er davon nur wenig wissen.« Liebevoll schaute sie ihr Kind an. So einem perfekten kleinen Geschöpf könnte man wohl auch dann nicht böse sein, wenn es einen um den Schlaf von tausendundeins Nächten brächte.

»Welche Geschichte hast du heute für mich?«, fragte Scheherazade.

Dinah hatte sich schon immer gerne Märchen und Abenteuer ausgedacht, doch dass das Geschichtenspinnen einmal einen so wichtigen Teil in ihrem Leben einnehmen würde, hätte sie niemals erwartet. »Denkst du denn wirklich, dass das noch notwendig ist, jetzt, wo du dem König sogar einen Thronfolger geschenkt hast?«, fragte Dinah skeptisch.

»Wenn ich das nur wüsste!« Ihre Schwester zuckte hilflos mit den Schultern. »Es stimmt schon, Rayâr ist ganz vernarrt in den Kleinen.« Sie lächelte nachdenklich, während sie das Bündel in ihrem Arm betrachtete. »Eigentlich kann ich nicht glauben, dass er im Stande wäre, Zayriddin die Mutter zu stehlen.« Scheherazades Blick verdunkelte sich. »Doch ich möchte es nicht darauf ankommen lassen.«

Beruhigend legte Dinah ihr die Hand auf die Schulter. Natürlich würde sie ihr auch heute wieder eine Geschichte liefern, mit der sie die Neugierde ihres königlichen Gemahls aufrechterhalten konnte.

»Aber da fällt mir etwas ein«, wechselte Scheherazade plötzlich das Thema. »Wie ich höre, kannst du dich inzwischen kaum noch retten vor Verehrern.« Sie zwinkerte verschmitzt, während Dinah die Nase krauszog.

»Ach, Schwester, davon will ich gar nichts hören!«

Scheherazade kicherte. »Sei unbesorgt, ich werde dir ein Geheimnis verraten über die Männer.«

Dinah horchte auf.

»Unsere Großmutter hat mir einst erzählt, wie man einen guten Mann erkennt. Und dieses Wissen gebe ich nun an dich weiter, kleine Schwester.«

Dinah strebte nicht im Geringsten danach, sich einen Mann zu suchen. Es nervte sie viel mehr, wenn ihre Mutter ihr immer wieder mit bedeutungsvoller Miene erzählte, welcher wohlhabende oder einflussreiche Herr im Dunstkreis des Palastes noch ledig war. Richtig schlimm wurde es, wenn der Betreffende sich auch noch nach ihr erkundigt hatte, was in der letzten Zeit immer öfter passierte. Plötzlich kam ihr Khan Bassam in den Sinn. Er war der Einzige, der bisher Dinahs Interesse geweckt hatte. Der berüchtigte Wüstenkönig tauchte immer wieder zu verschiedenen Gelegenheiten in der Stadt auf und versetzte die Samarqander in Aufruhr. Als sie ihm bei den letzten Schaukämpfen begegnet war, hatten sie sich sogar kurz unterhalten. Dinahs Mutter hatte ihr deshalb eine furchtbare Szene gemacht. Schnaubend schob Dinah den Gedanken an ihre Standpauke über Schicklichkeit und den richtigen Umgang für eine Dame von Rang beiseite und wandte sich wieder ihrer Schwester zu. Wenn das Geheimnis von ihrer Großmutter kam, dann wollte sie es auf jeden Fall erfahren. Denn sie war eine kluge und gewitzte Frau gewesen, die es mit ihrer forschen und ehrlichen Art auch in Kauf genommen hatte, in den noblen Kreisen, in denen sich ihr Sohn als Großwesir bald bewegt hatte, hier und da anzuecken. Neugierig beugte Dinah sich vor und fixierte Scheherazade, die sich augenscheinlich alle Mühe gab, ein wichtiges Gesicht aufzusetzen.

»Großmutters Rat ist so simpel wie genial: Wenn du wissen willst, was ein Mann für ein Liebhaber ist, dann beobachte ihn dabei, wie er einen Granatapfel isst. So wirst du es erkennen.«

»Einen Granatapfel?«, fragte Dinah ungläubig nach, und Scheherazade nickte mit ernster Miene.

Sie wusste selbst nicht, was für eine Art von Geheimnis sie eigentlich erwartet hatte, doch dieser angebliche Granatapfeltest verblüffte sie völlig. Wollte Scheherazade sie auf den Arm nehmen? Dinah zog skeptisch eine Augenbraue in die Höhe.

»Schau mich nicht so ungläubig an!«, rief Scheherazade. »Sei lieber froh um den Rat. So kannst du dir auf einfache und schlaue Art eine Enttäuschung ersparen.« Sie kicherte in sich hinein.

»Hast du Schah Rayâr auch diesem ominösen Test unterzogen, bevor du ihn geheiratet hast?«

»Also bitte!« empört sich Scheherazade nun. »Er ist der König und deshalb über jeden Zweifel erhaben!«

»So, so«, antwortete Dinah grinsend. »Da hast du ja Glück gehabt«.

Dinah war versucht, das Ganze als Quatsch abzutun, doch wenn ihre Großmutter das wirklich gesagt hatte, dann war vielleicht etwas Wahres dran, egal wie lächerlich es klang.

»Guten Abend, verehrte Damen!«, ertönte plötzlich eine Männerstimme hinter ihnen. Dinah drehte sich um und erkannte Khan Bassam, der wie selbstverständlich durch die Pairidaeza auf sie zuschritt. Gerade hatte sie noch an ihre letzte Begegnung gedacht, doch dass sie ihn so bald wiedertreffen würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Erst nach endlosem Betteln hatte sie ihren Vater vor ein paar Tagen zu den Schaukämpfen in der Stadt begleiten dürfen. Dort war auch Khan Bassam mit einigen Gefolgsleuten im Publikum aufgetaucht. Die meisten Zuschauer hatten deren Anwesenheit für interessanter befunden als die Kämpfe selbst. Und wenn Dinah ehrlich war, war es ihr nicht anders gegangen. Schließlich galt sein Volk zwar als roh und brutal aber auch als stark und geheimnisvoll. Das Getuschel war allgegenwärtig gewesen, und jeder schien etwas über ihn zu sagen gehabt zu haben. Zum Beispiel, dass er in einem magischen Palast wohne, der nicht gefunden werden kann, und dass sein Volk in der Lage war, mit Tieren zu sprechen. Insgeheim freute Dinah sich, ihn wiederzusehen. Doch in dieser vertrauten Umgebung wirkte er in seiner braunen Lederrüstung wie ein unerhörter Eindringling, und eine unterschwellige Bedrohung ging von ihm aus.

Khan Bassam ignorierte die erschrockenen Gesichter der Schwestern. Als er sie erreicht hatte, verbeugte er sich tief und setzte dabei ein Knie auf den sandigen Boden.

»Verehrte Scheherazade, eure Schönheit übertrifft die Erzählungen, die mir zu Ohren gekommen sind, bei Weitem.« Dann wandte er sich dem Baby zu. »Und welch eine Ehre, dass ich den kleinen Thronfolger Zayriddin auch gleich kennenlernen darf.«

Dinah beobachtete den Wüstenkönig irritiert. Er bewegte sich hier so selbstverständlich. Aber wäre er im Palastgarten nicht willkommen, so hätten die Wächter an den großen Pforten ihm sicherlich den Zutritt verweigert. Vermutlich bestand gar kein Grund zur Sorge. Und außerdem gab Khan Bassam sich überraschend galant.

»Meine teure Dinharazade«, wandte er sich nun an sie und ergriff ihre Hand. Überrumpelt zuckte sie zusammen und schaute ihn verdutzt an. Khan Bassams kinnlanges, gewelltes Haar, war so schwarz wie seine funkelnden Augen, die sie nun eindringlich anblickten. Sein Gesicht war ebenmäßig, die Züge fast sanft. Doch der Schatten an seinen Wangen, der verriet, dass die letzte Rasur schon ein paar Tage zurücklag, und eine kleine Narbe, die sich schräg über die rechte Augenbraue zog, verliehen ihm eine Spur von Verwegenheit.

»Ihr könnt Euch nicht vorstellen, wie sehr ich mich freue, Euch wiederzusehen.« Dabei senkte er den Kopf, doch anstatt den Handkuss nur anzudeuten, streifte er mit Nase und Lippen sanft über ihren Handrücken. Dinah zog scharf die Luft ein, und Khan Bassam beantwortete ihre Empörung mit einem unschuldigen Lächeln. Der Blick seiner schwarzen Augen hielt ihren fest. Und sie vergaß darüber völlig, ihre Hand zurückzuziehen.

»Was führt Euch zu uns?«, erkundigte Scheherazade sich. Ihre Stimme brach den Bann, und endlich lösten sich die beiden voneinander.

Khan Bassam setzte sich unaufgefordert zu ihnen und holte ein Holzkästchen und ein golden glänzendes, verziertes Fläschchen aus seiner Ledertasche.

»Ich habe Euch etwas mitgebracht, Königin Scheherazade.« Interessiert betrachtete sie seine Gaben. »Was ist das?«

In diesem Moment löste Khan Bassam ein weiteres Fläschchen von seinem Gürtel, öffnete es und legte es hinter sich in den Sand. Für Scheherazade war es wohl durch den Wüstenkönig verdeckt, doch Dinah beobachtete, wie etwa ein Dutzend Skorpione, die aus den Weiten des Gartens zu kommen schienen, auf das Fläschchen zu krabbelten. Die kleinen Tiere lösten sich an der Öffnung in blauen Dunst auf, der in die Flasche hineinzog.

Sie hielt den Atem an. Spannung kribbelte durch ihren ganzen Körper. Die Geschichten, die man über das Wüstenvolk und deren geheimnisvollen Bräuche und Geister erzählte, waren tatsächlich wahr! Die Leute sagten, das Getier der Wüste sei ihre mächtigste Waffe. Doch Dinah hatte sich darauf bislang keinen Reim machen können.

»Ich möchte Euch bitten, das Kästchen erst später zu öffnen. Darin ist lediglich ein Gesuch, das Euer Gemahl und Ihr in Eurer bekannten Weisheit und Güte bitte prüfen möget. Außerdem befindet sich darin eine Brieftaube, mit der Ihr mir Eure Antwort übermitteln könnt.«

Scheherazade runzelte misstrauisch die Stirn. »Ich werde die Kiste natürlich von unserem Waffenbaumeister untersuchen lassen, bevor sie zu Schah Rayâr gebracht wird.«

Khan Bassams Lächeln war unverrückbar, und Scheherazades Worte schienen ihn ehrlich zu belustigen. »Natürlich.«

Er drehte sich kurz um und nahm das Fläschchen mit den geisterhaften Skorpionen wieder an sich, verstöpselte es sorgfältig und hängte es zurück an seinen Gürtel. Dinah bemerkte interessiert, dass sich dort noch zwei weitere solcher Fläschchen befanden.

»Was war das?«, platzte Dinah heraus. Sie musste ihn einfach danach fragen. So etwas wie diese Skorpione hatte sie noch nie gesehen.

Khan Bassam legte den Kopf schief und erwiderte ihren Blick. »Diese Fläschchen hier meint Ihr?«, erkundigte er sich mit Unschuldsmiene. Dinah hatte das deutliche Gefühl, dass er versuchte, sich vor einer Antwort zu drücken.

Sie nickte ungeduldig, während Scheherazade überrascht zwischen ihnen hin und her blickte.

»Ich hätte wissen sollen, dass sie Eurem aufmerksamen Auge nicht entgehen«, meinte er lächelnd.

»Nun?«, fragte Dinah stur nach.

»Darin sind Flaschengeister«, gab er schließlich zu.

»Ihr dringt in den Palastgarten ein und tragt dabei magische Waffen an Eurem Gürtel?«, schaltete sich Scheherazade nun wieder in das Gespräch ein. Sie hatte die Augenbrauen zusammengezogen und machte ein Gesicht wie eine strenge Mutter. Die Rolle beherrschte sie schon jetzt ausgezeichnet.

»Aber, verehrte Königin«, antwortete Khan Bassam in beschwichtigendem Tonfall. »Nicht alle Flaschengeister sind Waffen. Viele von ihnen haben völlig andere Fähigkeiten.« Mit diesen Worten schob er das Fläschchen, das er zusammen mit der Holzkiste ausgepackt hatte, näher an Scheherazade heran. Es ähnelte jenen, die an seinem Gürtel hingen, nur dass es kunstvoll verziert war.

»Was ist das?« Nun konzentrierte auch Scheherazade sich auf das Fläschchen, das zwischen ihnen auf dem Boden stand und im Sonnenlicht golden glänzte.

»Das ist ein Flaschengeist. Ihr könnt ihn ebenfalls gerne überprüfen lassen, doch ich versichere Euch, dass seine Absichten gänzlich friedlicher Natur sind.« Khan Bassam hob lachend beide Hände, als wolle er sich ergeben. Sein Charme besänftigte ihre Schwester. Hätte sie gerade ebenfalls die Skorpione gesehen, würde sie sich bestimmt nicht so leicht um den Finger wickeln lassen und hätte längst um Hilfe gerufen.

»Aber …«, setzte sie erneut an.

»Gleich, Dinah«, würgte ihre Schwester sie ab. Khan Bassams Geschenk hatte ihr Interesse geweckt.

Unbehaglich schaute Dinah sich nach den Wachen um.

»Und was kann er?«, wollte Scheherazade nun wissen.

»Er ist ein fantastischer Geschichtenerzähler. Zwar wird er bestimmt Mühe haben, mit Dinharazades Fantasie und Erzählkunst mitzuhalten, doch ich denke, er wird während ihrer Abwesenheit trotzdem ein würdiger Ersatz sein.«

Entsetzt schauten die beiden Frauen ihn an, und Scheherazade schlug sich gar die Hand vor den Mund. Wie konnte Khan Bassam von ihrem Geschichtengeheimnis wissen? Und wieso ging er davon aus, dass Dinah Samarqand verlassen würde?

»Woher?«, stammelte die Königin.

Khan Bassam winkte ab.

»Ich bitte Euch, Majestät, verschwendet diesen wunderschönen Tag nicht mit einfältigen Fragen. Das steht Euch nicht gut zu Gesicht.« Der Wüstenkönig umfasste sein Knie mit beiden Händen und lehnte sich selbstgefällig zurück. Er genoss die Verwirrung, die er gestiftet hatte, sichtlich.

»Mit Verlaub, verehrte Scheherazade«, ergriff er wieder das Wort, »nur ein Narr könnte auf die Idee kommen, Euch töten zu lassen, wenn er sich stattdessen auch einfach jeden Tag aufs Neue an Eurer Schönheit erfreuen könnte. Noch dazu wo Ihr dem König jetzt auch noch einen solch prächtigen Erben geschenkt habt.«

Er beugte sich vor und fixierte Scheherazade, die während seiner Worte förmlich erstarrt war und seinen Blick ohne jede Regung wie eine steinerne Maske erwiderte. »Und Euer Schah ist doch wohl kein Narr, oder?«

Die Entführung der Dinharazade

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