Читать книгу Wer braucht schon eine Null - Christine Corbeau - Страница 8
ОглавлениеMit hängendem Kopf schlich ich Richtung Bushaltestelle. Dort angekommen traute ich meinen Augen nicht, denn der Bus bog in diesem Moment um die Ecke.
Hey, ist der Tag etwa doch noch zu retten?
Zusammen mit ein paar anderen Studenten, die anscheinend ebenfalls nichts Besseres zu tun gehabt hatten als den schönen Tag auf dem Campus zuzubringen, stieg ich ein. Die Fahrt bis Charlottenhof verbrachte ich damit, aus dem Fenster zu starren, ohne wirklich etwas zu sehen. Meine Gedanken kreisten wild im Kopf herum.
Drecksmist. Wie kriege ich bloß die Knete zusammen, um den Wagen wieder auszulösen? Geld gibt’s erst in einer Woche. Warten die überhaupt so lange? Warum habe ich das blaue Männchen nicht gefragt? Was, wenn das zu lange ist? Was machen die dann? Können die Emmy einfach verkaufen? Oder verschrotten? Was sage ich dann bloß Agata? Aber selbst wenn die doch so lange warten, ist das Geld doch eigentlich für den Flug nach Riga gedacht. Riga … ja, was ist jetzt überhaupt damit? Das wollten wir doch heute besprechen. Ich muss Simon wohl nochmal anrufen.
Auch wenn es mir widerstrebte, doch wieder diejenige sein zu müssen, die nachgab, suchte ich in meinem Rucksack nach dem Handy.
Ich fand es nicht.
Daher begann ich nun in meiner Erinnerung zu kramen.
Wo zur Hölle hab ich das Ding abgelegt, nachdem ich Simon weggedrückt habe? Natürlich. Ich habe es beim Notebook auf den Schreibtisch fallen lassen, um ins Bad zu rennen. Direkt neben dem Studenten…
»Die Fahrscheine bitte«, holte mich eine männliche Stimme wieder in die Wirklichkeit.
Ernsthaft? Mann, Freitag, was stimmt denn mit dir nicht?
Ich hob meinen Kopf gen Himmel, um diesem Verräter da oben einen vernichtenden Blick zuzuwerfen. Weit kam er aber nicht, denn er wurde von dem Dienstausweis gebremst, den der Kontrolletti mir direkt ins Gesicht hielt.
Ich seufzte.
»Fahrschein liegt neben meinem Handy. Zu Hause.«
»Da liegt er bestimmt warm und trocken. Aber irgendwie ungünstig, um ihn mir jetzt zu zeigen.«
Scherzkeks.
Ich schloss kurz die Augen und versuchte dann entschuldigend zu lächeln. Aber meine Lippen brachten nur ein säuerliches Grinsen zustande.
»Ja, das ist echt Mist. Ich bin vorhin einfach losgerannt, weil ich unbedingt nochmal in die Uni … ach, ist auch egal. Und jetzt?«
Mein Gegenüber beherrschte, im Gegensatz zu mir, erstaunlicherweise die Disziplin des entschuldigenden Lächelns.
Na bravo, Freitag. Wenigstens hast du nen Kontrolleur und Gentleman für mich parat.
»Tja, dann ist an der nächsten Haltestelle Ende, es sei denn, Sie haben das erhöhte Beförderungsentgelt …«
»Wie viel?«, unterbrach ich ihn stöhnend.
Perfekt, du haust die Knete, die du gar nicht hast, ja ordentlich raus.
»Sechzig Euro.«
»Moment.« Ich klappte das Portemonnaie auf. »Die hab ich … auch nicht. Nur fünfzig.«
»Entweder sechzig jetzt oder wir steigen zusammen aus. Dann brauche ich Ihre Personalien, damit Ihnen die Zahlungsaufforderung zugeschickt werden kann. Und wenn Sie eine nicht übertragbare Karte haben …«
»Sagen Sie jetzt bloß nicht, dass es dann noch teurer wird!«
»Nee, dann wird’s billiger.«
»Okay, jetzt sind wir auf der richtigen Spur. Ich hab ja eine persönliche Karte. Mein Semesterticket ist doch auf dem Studi-Ausweis drauf.«
»Aussteigen müssen Sie trotzdem. Den Ausweis müssen Sie in einer der Geschäftsstellen vorzeigen.«
Wäre ja auch zu schön gewesen.
In diesem Moment hielt der Bus und der Typ machte eine einladende Handbewegung.
Wohl eher eine ausladende.
Als ich ausgestiegen war, konnte ich erkennen, dass wir wenigstens schon an meinem ersten Umsteigepunkt angekommen waren. Ich füllte mit dem Kontrolleur zusammen das Formular aus. Dann verabschiedete er sich und stieg in den nächsten Bus, um dort weiter sein Tagwerk zu verrichten. Ich schaute mich um. Weder auf dem Bahnsteig noch draußen gab es einen Fahrkartenautomaten. Kurz war ich versucht, einfach in die eintreffende Regionalbahn zu steigen.
Na klar. Und bei deinem Glück wirst du gleich nochmal erwischt und vielleicht zu noch mehr Geld verknackt.
Ich stand vor dem heruntergekommenen Bahnhofsgebäude und versuchte, mich daran zu erinnern, wie ich notfalls zu Fuß nach Hause kommen könnte, da hupte es. Ich schaute mich um und entdeckte auf der anderen Straßenseite einen kleinen verbeulten Wagen, aus dessen Fenster jemand seinen Arm gestreckt hatte und wild damit winkte. Als ich nicht sofort reagierte, gesellte sich zu dem Arm auch noch ein Kopf. Ich erkannte Thorben, einen von Simons Kommilitonen, und winkte zurück.
»Hey, Traumfrau«, rief er zu mir herüber. »Was geht? Bist du unterwegs?«
»Das wäre ich gern. Bin aber eben rausgezogen worden, weil ich kein Ticket dabei hatte. Und hier scheint es auch keine zu geben. Werd ich wohl laufen müssen.«
»Ach Quatsch. Komm rüber. Ich fahr dich schnell.«
Soll ich wirklich?
Thorbens Angebot war natürlich verlockend, aber ich war mir nicht sicher, ob ich bereit war, den Preis dafür zu zahlen. Seine Anrede von eben war nicht einfach nur ein Spruch gewesen. Seit er mir zum ersten Mal bei uns in der WG begegnet war, schien ich ihm nicht mehr aus dem Kopf zu gehen. Die Tatsache, dass ich kurze Zeit später mit Simon zusammengekommen war, hatte seinen Enthusiasmus zwar gebremst, aber nun war Simon hunderte Kilometer entfernt. Das konnte zu einem ungewollten Reload seiner Bemühungen führen.
Mach dich nicht lächerlich. Du kannst dich jetzt nicht einfach umdrehen und so tun, als ob du ihn nicht gehört hättest.
Ich machte das Daumen-hoch-Zeichen und ging zu ihm hinüber.
»Lieb von dir«, sagte ich im Einsteigen und platzierte meinen Rucksack so auf dem Schoß, dass sie eine Umarmung durch ihn von vornherein unterband.
Wehret den Anfängen.
Thorben bemerkte es entweder nicht oder er war so taktvoll, nichts dazu zu sagen. Er wendete und brauste dann Richtung Babelsberg.
Eigentlich war die Fahrt nicht lang und doch kam sie mir wie eine Ewigkeit vor. Ich suchte in meinem Kopf nach etwas Unverfänglichem, um sie wenigstens nicht durch die typische Art peinlichen Schweigens noch unangenehmer zu gestalten.
»Hast du eigentlich deine Auslands-Semester schon komplett?«, kam Thorben mir zuvor. An seinem Gesichtsausdruck meinte ich zu erkennen, dass auch er froh war, nun endlich eine Möglichkeit für ein Gespräch gefunden zu haben.
»Oh, ja. Ich wär auch ganz schön spät dran, wenn es jetzt noch nicht so wäre. Hab ja gerade meine Master-Arbeit abgegeben.«
Urks. Was sage ich denn da? Oh, bitte, frag jetzt nicht nach der Arbeit.
Doch diesmal tat mir der Freitag den Gefallen, es nicht schlimmer zu machen als es schon war, denn Thorben stieg nicht auf meine Bemerkung ein.
»Ach, stimmt ja. Das ist bei euch Lehrern ja anders. Wo warst du denn?«
»Na ja, das Auslandsjahr habe ich vor zwei Jahren in Mexiko verbracht. Und letztes Jahr war ich zur Vorbereitung der Arbeit für ein paar Wochen weg, aber in Italien.«
»Hä? Warum denn Italien?«
»Dachte mir schon, dass du fragst.« Ich schmunzelte, als ich daran dachte, wie mir meine damalige Urlaubsbekanntschaft die gleiche Frage gestellt hatte. »Mein Dad wollte, dass ich mich in aller Ruhe vorbereiten kann. Also hat er mich in so ein verschlafenes Nest in Süditalien geschickt. Dann hab ich da allerdings Agata kennengelernt.«
»Agata?«
»Wenn du hin und wieder mal in nem Wartezimmer auf die Titelseiten von Gala und Co. schaust, dann ist sie dir vielleicht schon mal begegnet.«
»Ernsthaft? Diese Freifrau von Dingsbums?«
»Joachimsthal, ja. Aber woher weißt du denn den Namen?«
Thorben grinste schief. »Meine Freundin verschlingt alles, was mit der zusammenhängt.«
Freundin? Yes!
In den Monaten, die wir uns nicht begegnet waren, hatte sich offensichtlich auch in seinem Leben einiges getan. Ich entspannte mich ein wenig und lächelte Thorben zu.
»Hey, Glückwunsch.«
Er erwiderte mein Lächeln mit einem Schulterzucken. »Ja, manchmal kommt es aus einer Richtung, mit der man so gar nicht rechnet. Wir haben uns letzten September auf nem Klassentreffen wiedergetroffen und es hat sofort reingehauen. Aber nochmal zu deiner Freundin …« Er ließ seine Stimme verklingen.
»Willst du mich fragen, ob wir uns hin und wieder sehen?«
Sein Lächeln wurde vorsichtig breiter.
»Das tun wir tatsächlich, auch wenn das letzte Mal schon ein Weilchen her ist. Aber ich war auf ihrer Hochzeit.«
»Nicht dein Ernst.« Thorben blickte mich mit großen Augen an.
»Doch, doch. Immerhin war ich ja fast dabei, als sie mit ihrem jetzigen Ehemann zusammengetroffen ist.«
»Meinst du, du könntest von ihr mal’n Autogramm oder so besorgen? Ich hab bei Charly einiges gutzumachen.«
Ich zog eine Augenbraue hoch.
Gutmachen? Hat er sie betrogen?
»Nee, nicht, was du denkst. Ich hab sie bloß in den letzten zwei Monaten ziemlich vernachlässigt. Ging nicht anders, weil ich spontan die Chance zu nem Praktikum bekommen habe.«
»Okay, das ist zwar blöd, aber verständlich. Wo warst du denn?«
»Ach, hat Simon dir das gar nicht erzählt?«
Nicht doch.
»Nö, wir haben aktuell nicht so viel Zeit gehabt, um uns auszutauschen.«
»Ach, dann ist ja klar, dass du mich missverstehst. Ich war bei ihm und hab sogar da in der WG pennen können.«
Aus der Nummer kommst du nicht so schnell wieder raus. Also los. Augen zu und durch.
Ich schloss kurz die Augen, atmete tief durch und ignorierte das ungute Gefühl, das von der Magengegend her in mir aufstieg. »Oh. Aha. Und … wie war’s so?«
»Och, eigentlich ganz cool. Das Praktikum passte prima zum Thema meiner Master-Arbeit und ich konnte endlich mein Englisch mal so richtig aufpolieren. Ist da total international.«
»Hmm … und in der WG?«
Will ich das überhaupt wissen?
»Na da sowieso. Der dritte WG-Partner ist gerade für’n Vierteljahr nicht da. Also konnte ich bei dem im Zimmer schlafen. Wenn die Plastiktüte nicht gewesen wäre, dann …«
»Plastiktüte?«
»Ach, na ja, so nenn ich sie halt. Die bewohnt das andere Zimmer. Heißt eigentlich Egita Meilutytė, aber weil so viel an ihr gemacht ist, passte das …«
»Was?«, rutschte es mir heraus, obwohl meine Kehle sich wie zugeschnürt anfühlte.
Drei Zimmer. Simon, ein Typ, der nicht da ist und eine … Tüte?
»Was? Na, ich denke, sie hat Extensions. So lange Haare hat kein Mensch. Blond natürlich, auch wenn ich denke, die sind gebleicht oder wie man das nennt.«
Ich krächzte.
Verdammt. Wo ist die Luft, wenn ich sie brauche, um »Hör auf!« zu sagen?
Durch mein Schweigen schien Thorben sich aufgefordert zu fühlen, weiter nachzulegen. »Ja. Die Möpse sind definitiv gemacht und ich denke, auch in den Lippen hat sie was drin. Dieser Schmollmund …«
Ich versuchte es mit einem Räuspern. Es klang in meinen Ohren eher wie ein Todesröcheln.
»Insgesamt irgendwie eine Mischung aus Barbie und ner nordischen Elfe.«
»Alles klar«, hauchte ich. »Ich kann’s mir vorstellen.«
Menno, Freitag, wir waren doch gerade dabei uns ein bisschen miteinander anzufreunden.
»Das Einzige, was an ihr genervt hat, war das ständige Gekoche. Ach, wir sind schon da.«
Dann war sie das eben in der Küche!
»Wie?«
»Na bei dir zu Hause.«
»Was?«
»Ähm, was meinst du denn jetzt?«
»Ich … also … ähm«, stammelte ich, während ich all die Informationen einzuordnen versuchte, die gerade auf mich eingeprasselt waren. Ich wollte Thorben eben antworten, als sein Handy klingelte.
Er schaute aufs Display und ein Lächeln ließ sein ganzes Gesicht erstrahlen. »Das ist Charly. Brauchst du noch was oder kann ich …«
»Nee, alles gut. Danke schön.«
Sie ist all das, was ich nicht bin.
Und sie ist bei ihm.
Wenn ich ihn richtig einschätze, dann steht er nicht auf solche Ersatzteillager.
Aber sie ist bei ihm.
Und was ist, wenn es einfach nur die Gelegenheit macht?
Denn sie ist bei ihm.
Mit kraftlosen Fingern versuchte ich, den Türöffner zu betätigen, doch die Tür ging nicht auf. Ein Blick nach unten zeigte mir, dass ich stattdessen dabei war, die Seitenscheibe hinunterzukurbeln.
Aus dem Fenster springen wär jetzt gar nicht mal so übel. Aber dafür ist’s nicht hoch genug.
Ein hysterisches Kichern stieg in meiner Kehle auf. Also riss ich stattdessen am Türöffner und sprang aus dem Auto. Kaum dass ich das getan hatte, warf Thorben mir augenzwinkernd eine Kusshand zu und brauste vom Hof. Eine kleine Weile lang sah ich seinem Wagen hinterher. Dabei bemühte ich mich, in der Realität eine Antwort auf die Fragen zu finden, die hilflos in meinen Gedanken herumflatterten, wie Vögel, die einfach nicht in der Lage waren, die offene Käfigtür zu entdecken.
Ein stechender Schmerz in meinem rechten Fuß holte mich aus der Gedankenspirale. Ich blickte nach unten und stellte fest, dass ich ja barfuß auf dem geschotterten Platz stand. Vorsichtig verlagerte ich das Gewicht auf mein anderes Bein und hob den Fuß hoch, um die Fußsohle begutachten zu können. Sie war dreckig und ein besonders spitzes Steinchen hatte sich dort hineingebohrt. Zum Glück ließ es sich abstreifen und der Schmerz verebbte prompt. Ebenfalls zum Glück war es nicht die Glasscherbe gewesen, die nur Zentimeter daneben gelegen hatte. Was jedoch nicht abebbte, war das taube Gefühl in meiner Brust, das das Fehlen von etwas anzeigte, das mich bis eben noch begleitet hatte.
Na bitte. Zwei von dreien. Wahrscheinlich muss ich dir dafür noch dankbar sein, Freitag.
Ich tapste vorsichtig die Meter bis zum Hauseingang, um mein zweifelhaftes Glück nicht doch noch herauszufordern, und trottete die Stufen hoch, bis ich an der Wohnungstür angekommen war. Ich hatte sie noch nicht einmal hinter mir geschlossen, als auch schon Hannes seinen Kopf durch die Küchentür in den Flur streckte.
»Und? Hat’s geklappt?«
Ich schaute ihn verständnislos an.
Was soll denn geklappt haben? Ach ja, die Arbeit. Erstaunlich, wie schnell eine Katastrophe die andere überlagern kann.
Ich zuckte mit den Schultern und versuchte mich an einem neutralen Gesichtsausdruck. Hannes war zwar der Einzige, dem ich vielleicht etwas über meine neuesten Erkenntnisse erzählen würde, aber das war alles einfach noch zu frisch. Unnötig, ihn schon jetzt damit zu belasten.
»Kann ich nicht wirklich sagen. Die Datei konnte ich schon mal nicht entfernen lassen. Hab aber keinen Plan, ob das nun alles zunichtemacht. Der Giftzwerg hat Andeutungen gemacht, die ich nicht einschätzen kann. Ich muss einfach abwarten.«
»Ach, Mensch, Kopf hoch. Das wird schon. Fahr du jetzt erst mal nach Riga und hinterher sieht alles bestimmt viel besser aus.«
Ich gab ein unartikuliertes Grunzen von mir und senkte meinen Blick ein wenig, während ich an Hannes vorbeiging. Er sollte die Tränen nicht sehen, die sich nun doch ihren Weg aus den Augenwinkeln bahnten. Bevor ich hinter der Zimmertür verschwand, gab ich ihm vorsichtshalber noch ein Daumen-hoch-Zeichen. Kaum war die Tür ins Schloss gefallen, entrang sich meiner Kehle ein leises Stöhnen. Ich gab dem Wunsch meiner Knie nach, die sich unbedingt beugen wollten. Bevor ich jedoch in der Horizontale angekommen war, klingelte mein Handy und ich zuckte wieder hoch.
Simon? Oh, bitte lass es Simon sein. Ich brauch das jetzt.
Schnell stürzte ich zum Schreibtisch und griff mir das Telefon.
Scheiße, Freitag. Das kriegst du irgendwann zurück!
Was mir eigentlich schon der Klingelton hätte sagen sollen, bestätigte mir nun das Bild auf dem Display. Es war nicht Simon, sondern die einzige Person, die dazu geeignet war, meine Stimmung noch mehr zu senken.