Читать книгу Die Rosenlady und der Sekretär - Christine Meiering - Страница 10
KAPITEL FÜNF
ОглавлениеLady Ethel und ihre Rosen, eine Symbiose, die in die Familiengeschichte der Earls eingehen wird. Jeder Nachbar, der in Herrgottsfrühe das Sträßchen entlang der exquisiten Landgüter passiert, weiß, dass der in der Morgendämmerung wahrgenommene Schatten, zwischen Rosensträuchern gespenstig hin- und her wandelnd, der im wehenden Morgenrock umhüllten alten Lady, der Rosennärrin, zugeordnet werden muss. Und jeder Passant versucht möglichst lautlos von dannen zu schreiten, um die himmlische Morgenidylle des gräflichen Gartens ja nicht zu stören.
Selten geschieht es, dass die alte Lady aufschaut, weil sie ein Knistern oder Knarren vernommen hat, welches ihr Gehör, zu dieser frühen Morgenstunde noch traumselig, als Störenfried ausmacht. Streckt sie ihren Kopf dennoch ein wenig in die Höhe, der weiblichen Neugier wegen, die schließlich doch über ihren Unmut triumphiert, weil sie einer Person gewahr wird, die nicht wie Dr. Goldman oder Mr. Miller zügig zur Arbeit eilt, sondern mit einem mehr oder weniger braven Vierbeiner vom Hundespaziergang zurückkehrt, dann ergreift sie manches Mal besonders flink die Gartenschere, um dem dazu gehörenden Zweibeiner einen einzelnen Duftling zu präsentieren. Dieser Rosenduft auf dem Frühstückstisch, wie betörend muss er auf Ihre Sinne wirken – den ganzen Tag lang!“ Bei diesen Worten spürt sie, wie Herr Nachbar oder Frau Nachbarin ihren morgendlichen Rosengruß aufs Höchste schätzen! Das verschönert nicht zuletzt auch Rosenladys Tag mit seinen rituellen Gepflogenheiten. Ihre Rosen tragen Namen wie ‚Portland‘, ‚Gallica‘ und ‚Bourbon‘. Lady Ethels Ansicht zufolge drücken diese Namen nicht annähernd solcherart Herrlichkeit aus wie diese Blütenfülle in natura. Diese Pracht schätzt sie stets als ein Geschenk von oben, ihrem einfühlsamen und begeisternden Herzen in die Arme gelegt. Dornenstachel, die ganz schön pieken können, machen ihr immer wieder bewusst, dass das Lebensglück nicht ohne Blessuren zu haben ist. Ihre Rosen blühen zwar nur sechs bis acht Wochen im Jahr, aber oft denkt sie, dass ein Mensch diese Überschwänglichkeit gar nicht länger ertragen könnte. Wie ein kleines Kind am Heiligen Abend in Begeisterungstürme ausbricht, nein, nicht so lautstark, eher still verzückt, so lässt sie jede neu entdeckte Knospe, die sie hervor brechen sieht, durch ihre Hände gleiten, dann, wenn sie im zeitigen Sommer ihren morgendlichen rituellen Rundgang durch den Garten vollzieht. So flüstert sie der einen oder anderen Blume eine Liebeserklärung zu: „Innig freut sich mein Gemüt, eine neue Rose ist erblüht!“
Einen Nachklang der füllig rankenden Rosen darf sie jeden Morgen tagein, tagaus neu erfahren, auch meist dann noch, wenn Väterchen Frost sich rau und unerbittlich zeigt. Rosenranken schmücken nämlich das Innere der Porzellanschüssel und ein paar Tropfen Rosenöl verleihen dem Brunnenwasser, das Miss Adelheid allmorgendlich aus dem Rosenkrug in das Waschgefäß schüttet, einen besonders betörenden Duft. Ladys morgendliche Toilette erfolgt anschließend durch das Besprengen diverser Körperteile mit wenigen Tropfen, die auf ihrer abendlich eingesalbten Haut abperlen. Die alte Dame mag ihr ‚La nuit de Chanel‘, weil sie spürt, wie ihre spröde Haut diesen Feuchtigkeitsbalsam gierig aufsaugt. Lady Ethel liebt eben ihre täglichen Rituale. Weil ein altes Frauchen ihrer Meinung nach klapprige Knochen und schlaffe Muskeln hat und ihren Zopf nicht selbst flechten und hochstecken kann, so hat sie sich nach einem dienstbaren Geist umgesehen, der ihr allmorgendlich das Kämmen und Hochstecken der Haare abnimmt, meiner Silberfädchen, wie sie die ihr noch verbliebene schüttere Haarpracht nennt. Miss Adelheid, eine Arbeitsmagd vom benachbarten Kensington-Gut hat sich in der Nachbarschaft als eine Person mit fleißigen, geschickten Händen einen Namen gemacht. Hier und da verpasst sie der Lady auch einen leichten Stups, um ein Kleid ohne große Halsöffnung über ihren Kopf stülpen zu können, vor dem Frisieren, versteht sich, und erst nachdem das letzte Kleidungsteil, wie etwa ein wollenes Schälchen gekonnt um ihren Hals drapiert auf sich aufmerksam macht, erst dann wird der große ovale Spiegel an der Wand als letzter Ratgeber hinzugezogen. „Oh, mein Lieber!“ Wenn sie sich unbeobachtet fühlt, dann verwandeln sich sämtliche, meist alte vertraute Hausgegenstände zu Gesprächspartnern, deren Geduld beim Zuhören keine Grenzen zu kennen scheinen und die, Lady Ethel schätzt das besonders, ihr keine Widerworte geben. Und da sie sich heute noch unbeobachtet fühlt, weil Adelaine immer schwer aus den Federn kommt, flüstert sie ihrem Gegenüber weitere Worte zu, diesem Gegenüber, das unverwechselbare Züge ihres eigenen Ichs trägt, und das jetzt festtagsmäßig mit einem Hermelin besetzten Kleiderkragen punktet. Sie möchte sich heute in vollem Staat präsentieren, weil, so hofft sie es jedenfalls, dieser Tag ein besonderer Tag zu werden verspricht.
„Mein goldiges Stück …“, so spricht sie den großen Spiegel an, während sie mit ihren spitzen Erdbeer-Fingernägeln seine seitliche Goldeinrahmung streichelt. „Ich habe dich besonders gerne, weil du mir immer deine voll erblühte Rose offenbarst!“
Und jetzt fährt sie besonders liebevoll über die an dieser Stelle ein wenig erhabenere Schnitzarbeit.
„Du blühst zwar nicht in den wunderbarsten Farbnuancen, wie deine Schicksalsgenossen dort draußen, und auch dein Duft entbehrt jeder Romantik, aber du bist verlässlich immer für mich da. Ja, in deiner Geburtsurkunde steht: Barockstück aus dem 18. Jahrhundert. Dein Geburtsort ist Bologna! Und in deiner Girlande, die sich wie eine Blumenranke von der einen bis zur anderen Seite erstreckt, ist eine Shakespeare-Weisheit verewigt, die besagt: Kein hübsch Weib hatte je ein Gesicht ohne Falsch!“
Teils verschmitzt, teils verdrießlich richtet sie nun ihre Maßregelung an den großen Meister: „William, welch’ eine Schmähung allem weiblichen Geschlecht gegenüber! Spricht daraus nicht Ihre eigene Erkenntnis? Aber …“, sie stutzt milde lächelnd, „vielleicht steckt in dieser Weisheit doch ein Fünkchen Wahrheit?“ Lady Ethel betrachtet die Falten auf ihrer Stirn. Ihr von strahlendem Glanz leuchtendes Gegenüber verdeckt nicht die kleinste Runzel ihres Gesichtes und des Halses – schonungslos bringt es sogar jeden Pickel ans Tageslicht, vorausgesetzt, dass er auch ohne Monokel für ein an Sehkraft geschwächtes Auge erkennbar ist. „Ja, mein Lieber …“, und jetzt ist ihr William, auch der ‚Shakespeare‘ genannt, wieder gemeint, „… ich will mich mit dir versöhnen und nicht mehr meinen Schmollmund aufsetzen. Damengesichter ohne Falsch, da werden Sie, verehrter Dichter recht haben, laufen nur selten über Gottes schöne Erde! Aber Männer ohne Falsch, sie kann man gewiss auch zählen! Wer …“, und da wendet sie sich wieder an den goldumrandeten Spiegel, „wer mag sich hier schon alles an Dämlichkeiten seiner Schönheit versichert haben? Oder wer mag sich gar der Ernüchterung gebeugt haben, dass es mit seiner Schönheit nicht zum Besten bestellt ist? Wie viele betagte Damen haben hier eine Träne oder gar einen ganzen Tränenbach vergossen und im Lauf der Zeit ihrer verblichenen Anmut nachgetrauert? Du allein weißt es und verstummst! Oder handelst du nach der Devise: Da schweigt des Sängers Höflichkeit? Höflichkeit hin – Höflichkeit her! Warum verrätst du uns nicht dein Geheimnis? Oder glauben Sie gar …“, jetzt ist der verehrte, längst verblichene Spiegelspruch-Meister wieder angesprochen, „… dass das Falsch sich nur auf unsichtbare weniger liebenswürdige dämliche Seelenzustände bezieht? Da mögen Sie vielleicht auch ein klein wenig recht haben, sind aber die Herren als Krone der Schöpfung …“, ein leichtes Räuspern bleibt nicht aus, „… sind sie nicht ebenso dem Fluch der Vergänglichkeit und der Bruchstückhaftigkeit ausgesetzt? Zwar zeichnet sich diese Sorte Mensch gewöhnlich nicht durch übermäßige Spiegelbetrachtungsprozeduren aus und scheint vor Creme-Tüpfelchen-Auftragen gefeiter zu sein als ihr Pendant, eine Versicherung allerdings, ob mit dem Bart beziehungsweise seiner gewünschten Abwesenheit alles in bester Ordnung sei, mag auch für manchen Gentleman eine Beruhigung gewesen sein.“
Lady Ethel muss schmunzeln, als sie vor ihrem argwöhnischen Gegenüber feststellen muss, dass sie mit einem Lächeln auf den Lippen weitaus attraktiver aussieht als mit ihren Sorgenfalten auf der Stirn. Rituale schenken Geborgenheit. ‚Mein Seelentröster-Ritual‘ nennt Lady Ethel die kurze Zeit, die sie jetzt nicht mehr auf den Knien verbringt, weil dieses verflixte Ziehen und Stechen bei jeder kleinsten Kniereibung auf dem Fußschemel sie in ihrer morgendlichen Andacht ziemlich gestört hatte. „Ein klein wenig Pein bringe ich meinem Erlöser gerne als Opfergabe dar!“
So dachte und sprach sie zunächst, als sie auf den Knien vor dem Messingkreuz auf ihrer Kommode auf den Knien hin- und her rutschte, ehe sie sich zu der Erkenntnis durchrang, dass ihr Herrgott schon genug Opfer für sie und für alle Gläubigen erbracht habe, so dass sie sich keine blutende Knie mehr zu holen bräuchte, um vor Gott als gerecht dazustehen. Und von diesem Moment an setzt sie sich nun allmorgendlich auf einen weichen Lehnstuhl, den Blick auf das Messingkreuz gerichtet, wobei sie ihrem himmlischen Vater dafür dankt, dass sie Ihn, nun so schön behaglich, ohne Schmerzen erleiden zu müssen, anbeten darf. Das uralte Gebet, das sie ein wenig verschlankt hat, ohne ein schlechtes Gewissen dabei zu haben, denn wie sollte das eine Sünde sein, sich auf das Wesentliche ihres Glaubens zu besinnen? Und ohne es sich selbst und den anderen einzugestehen, schnuppert sie bereits den herrlich frischen Kaffeeduft aus der Küche, das köstliche Aroma der lebenspendenden Bohnen, die Mrs. Smith, ihre treue Perle, zuvor frisch gemahlen und mit kochend heißem Wasser überbrüht hat. Und jeden Morgen hofft sie erneut, dass der Duft sich, bitteschön, bis zum Ende des Gebetes Zeit nehmen möge, ehe er gedenkt, durch die Ritze der Tür in ihre Nase zu ziehen und ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen lässt.
„Ich stehe auf in Gottes Kraft. Ich stehe auf in Christi Segen. So behüte mich Gott, die allerheiligste Dreifaltigkeit, die mich aus Nichts erschaffen hat, es behüte mich Gott, der Sohn, der mich mit seinem rosafarbenen Blut erlöset hat. Es behüte mich Gott der Heilige Geist, der mich …“
(Was klirrt da nebenan? Verzeihung, lieber Gott, immer diese unpassenden Gedanken zwischendurch!)
Lady Ethel hält kurz im Gebet inne und danach geht einfach alles ein wenig schneller als gewöhnlich, ja, im Sauseschritt, ohne, dass sie es bewusst steuert, diesen rituellen Gebetsfluss; er strömt dem Ende entgegen, ohne dass sie ihn aufhalten kann. (Neugierde, dein Name ist Weib! Wer hat das noch gesagt? Warum belästigen mich immer wieder diese Störenfriede?) Sie fährt fort! (Von diesen Bösewichtern lasse ich mich doch nicht unterkriegen!)
„… in der Heiligen Taufe geheiligt hat. Gott, dem Vater ergeb’ ich mich! Gott, der Heilige Geist, unterweise mich! Maria, Mutter Gottes, stehe für mich! Alle heiligen Engel beschirmet mich!“
Lady Ethels Hand bewegt sich schließlich noch purzelbaumartig im Kreis, beim hastigen Kreuzzeichenmachen, bevor sie die Türe zum Wohnraum zu öffnen versucht. Bei diesem Vorhaben knacken allerdings hörbar ihre Knochen, so dass sie mit der verpatzten Kreuzhand sogleich ihr eigenes Kreuz abzustützen sucht, denn eine zu eng geschnürte Gürtelschnalle beeinträchtigt sie in ihrer Beweglichkeit.
„Ach, du mein Gott …!“, entfährt es ihr beim Herunterdrücken der Klinke, „… auch das noch …?“ So schnell wie das Wehwehchen gekommen war, so schnell hat es allerdings auch wieder Reißaus genommen, als ihr eine strahlende Frau entgegen lacht, die gerade den dampfenden Kaffee in zwei goldverschnörkelte Tassen eingießt. „Wenn der Himmel uns dereinst solche wunderbaren Düfte bescheren sollte, dann kann ich’s kaum erwarten, zur Himmelspforte zu gelangen!“, ruft die Großmutter, wie ein Honigkuchenpferd strahlend zu ihrer Enkelin. „Was für ein Duft-Potpourri! Rosen, Kaffee, Quitten!“
Adelaine trägt an diesem Morgen eine spitzenbesetzte weiße Bluse, weil heute ein alter Herr mit ihnen zusammen dinieren wird, einer der Sorte Mensch, der besonderen Wert auf Etikette legt. Dieser Tatsache gebührend Rechnung zu tragen, das hatte ihr die Großmutter schon vor Tagen ans Herz gelegt. „Onkel Jacob liebt frische Muscheln! Und die soll er auch bekommen!“, lässt sie ihre Enkeltochter wissen, die sich gerade ihre Scheibe Weißbrot dick buttert, um anschließend einen Berg des köstlichen Quittengelees darauf zu verteilen. „Betrachte dir diese butterfarbigen Wildrosen! Dieses Farbenspiel, ist es nicht ein Gedicht?“ Und während Großmutters Augen sich an ihrem Gartenschatz nicht sattsehen können, an diesem Blumenschmuck, der seine schweren, doppelt gefüllten Blüten tief, fast bis auf die weiße Leinendecke, eine besonders edle von besagter Dutzend-Sorte, herunterschweben lässt, da flüstert die alte Lady ihrer Enkelin zu: „Jetzt schlägt’s aber dreizehn! Thema ‚Hochzeit‘ ist angesagt!“
„Grandma, du hast dich vertan! Die Uhr hat gerade neune geschlagen!“ Adelaines Blick geht zur Großmutter, die ein Lächeln nicht unterdrücken kann, und streift dann die Wanduhr, ehe er schließlich auf der Wanddekoration haften bleibt.
„Adelaine, mein liebes Kind, kennst du die Teppich-Geschichte von unserer Hochzeit schon?“
Adelaine schüttelt den Kopf. Es ist ein Kopfschütteln zwischen zwei Welten, genauer gesagt, ein Kopfschütteln zwischen einem Ja und einem Nein, ein undefinierbares Oben-, Unten-, Rechts- und Links-Schütteln, denn das junge Mädchen scheint ein deutliches Ja oder ein noch deutlicheres Nein umgehen zu wollen. Schließlich möchte sie allzu gerne ihre Großmutter zum Erzählen herausfordern, auch wenn diese ganze Teppich-Geschichte schon geschätzte Dutzende Male innerhalb der Familie preisgegeben wurde.
„Ja, bitte, bitte, Grandma! Erzähle nur, ich lausche!“, fordert sie ihre Großmutter auf, denn Adelaine liebt es immer aufs Neue, wenn sich Großmutters sprühende Erzähl-Fontaine über sie, die luchsende Zuhörerin, ergießt.
„Adelaine, mein Kind, würdest du dich freundlicherweise erheben und Schublade Nummer vier öffnen, dort zwischen der dritten und vierten Unterteilung, da ziehe bitte die dunkelrote Leinentasche hervor!“
Und während sie ihren rechten Zeigefinger zu strecken versucht, so gut es eben mit dem Höcker geht, wenn einem das Zipperlein plagt, sortiert die folgsame Enkelin derweil ihre übereinandergeschlagenen Beine, zunächst jedenfalls, um sich anschließend mit frischem Schwung aus dem Sessel zu erheben.
„Na ja, ich will es ja nicht gesehen haben, junges Fräulein! Es geziemt sich für eine Dame einfach nicht, Rockschöße wie ein Wirbelwind hoch wehen zu lassen!“
Enkeltöchterchen schluckt, schuldbewusst schlägt sie wortlos ihre Augen nieder. Dann ergreift sie brav den Messinggriff der vierten Schublade, öffnet sie und erspäht ganz unten auf dem Holzboden eine dunkelrot glänzende Angelegenheit. Großmutter hält ihre Hand ausgestreckt, sie giert regelrecht danach, das Gewünschte endlich in den Händen halten zu können.
„Hier, Adelaine, schau dir mal diesen Brief an!“
„Oh, Grandma, ein rotes Wachssiegel!“
„Ja, meine Kleine, wenn du das Band mit dem Siegel entfernst und das Pergamentpapier aufwickelst, dann, sieh’ mal hier, da kommt ein Stück Seidenstoff hervor, welches dereinst einmal als weißes Läppchen an der Wandteppichrückseite angebracht war. Inzwischen hat es sich als gräuliches Gebilde mehr und mehr vom Teppichvater abgenabelt. Betrachte mal, was hier drauf gestempelt steht! Es lässt sich nur mit Adleraugen entziffern!“
„Grandma, ich glaube, dass ich Adleraugen, vielleicht sogar Luchsaugen habe. Die brauche ich hier wirklich, denn die Schriftzeichen sind schon kaum noch auszumachen. Das hier könnte ein N sein, dann kommt vielleicht ein a und ein s…“
„Du, ich glaube, ich entsinne mich, es muss der Naser ad-Din, der Schah von Persien sein, der hier verewigt worden ist.“
Mein Gott, … immer dann, wenn Großmutter verzückt ist, dann ist sie nicht voll bei Sinnen, geht es Adelaine durch den Kopf, stillvergnügt registrierend, wie sich Großmutters erdbeerrote Lippen dem angegrauten Seidentüchlein in voller Zartheit nähern und ihr Mund dabei beschwörende Worte haucht: „Oh, du Herrscher aller Herrscher! Du hast mit hoheitsvollen Händen schon dieses unscheinbare Stück Stoff berührt und diesen da erst recht, denn du hast ihn vor meinem Herrn Vater eigenhändig ausgebreitet, diesen unseren Teppichschatz, der schon seit Ewigkeiten unsere Wand ziert!“
Adelaines Augen folgen wie gebannt dem Blick ihrer Großmutter zur Wand hin. Betrachte ich mir dieses Kleinod jetzt nicht zum ersten Male in gebührender Weise? Eigentlich hatte sie in ihren zwanzig Erdenjahren den Wandschmuck mit den Jägern, Tieren und Pflanzen nie bewusst wahrgenommen. Hatte die sich immer wieder als indigofarbige mit Petrolschattierung über den Wandteppich erstreckende Pflanzenranke je ihre Aufmerksamkeit auf sich gezogen? Nein, eher nicht, denn dieser Teppich gehörte wie selbstverständlich in Großmutters Reich, er war einfach vorhanden, hing immer an vertrautem Ort und an gewohnter Stelle und dort war er einfach nicht mehr wegzudenken, ebenso wenig wie der Kinder Masernpunkte nach einem herzhaften großmütterlichen Schmatz auf Kinderstirn oder Kinderwange oder der liebevolle großväterliche Schultertatsch bei der Begrüßung. Zum Landhausinventar zu gehören war auch einem geheimnisvollen Möbel, dem Schreibsekretär vergönnt, dessen Innenleben sich vor den Kindern keineswegs in ständiger Sicherheit wähnen durfte. Ebenso wenig wegzudenken war der Klaps auf die Finger bei zu ungestümen Vorgehen der Kleinen, der konsequenterweise erfolgte, sobald die streng untersagte Sekretär-Inspektion der Innereien erfolgte und weil Kinder nun mal Weltmeister im Rein und Raus, im Hoch- und Runterschieben sind, kurzum im Bewegen allermöglichen und unmöglichen Dinge, haben Schubladen für sie höchsten Aufforderungscharakter. Auch die ‚Bim-Bam-Standuhr‘, kindliches Faszinationsobjekt erster Güte, gab es so und keineswegs anders nur im Landhaus. Im Gegensatz zum besagten Teppich machte sich diese jedoch viertelstündlich durch einen glockenähnlichen reinen Klang bemerkbar. Der Wandschmuck fristete dagegen ein von den Kleinen kaum beachtetes Dasein, bis er mit zunehmendem Alter und Interesse der Kinder als ein Stück lebendiger Großmutter-Vita stärker in Erscheinung trat, denn Großmutter liebte es ihren vernünftig werdenden Enkelkindern ihre spannende Teppich-Geschichte darzubieten.
„Einhundertzwanzig mal einhundertachtzig, das müsste die Größe sein und dann steht hier noch eine Zahl, ob mit drei oder vier Nullen dahinter, das ist hier gar nicht mehr zu erkennen! Das ist sicher die Anzahl der Knoten.“
Jetzt betrachtet Adelaine das sich vom Teppich abgenabelte Seidentüchlein aus dem Sekretär überaus sorgfältig, und beim Entziffern der Druckbuchstaben erinnert sie sich nur an eines: Je mehr Knoten, desto wertvoller ist das Stück! Das hatte sich durch die wiederholten Teppich-Erzähl-Geschichten in ihrem Schülerkopf damals festgesetzt.
„Der Schah von Persien“, ihre Augen weiten sich und blicken einen langen Moment wie gebannt durch das Butzenfenster hindurch in den tiefblauen Himmel – das tun sie immer, die Großmutteraugen, wenn sie inwendig auf Schatzsuche gehen. „Ja, der Schah, … stattlich wie es stattlicher nicht ging … bedenke mein Kind, dass sich mein Herr Papa über dieses imposante Mannsbild immer wieder bewundernd ausgelassen hat und so brannte sich das alles bei mir hier tief drinnen ein – hier, weißt du!“, und dabei stupst sie einmal kurz zwischen ihre Brüste. „… genau hier hat sich dieses für alle Ewigkeiten festgesetzt. Ein einziger Händedruck des Schahs – und das Lebensgefühl meines Herrn Papa schien explosionsartig zu expandieren. Damals in jenem denkwürdigen Moment! Hatte Mutter Natur ihn sowieso schon bezüglich seiner Statur nicht stiefmütterlich behandelt, so drohte in diesem besagten Moment sein Brustkorb vollends zu zerbersten. Und wie schön erzählte er später von dieser großartigen Erfahrung: ‚Mein eigener Körper strahlte im Glanz aller kaiserlichen Orden und goldenen Gehänge stärker als die wärmsten Sonnenstrahlen es je vermocht hätten!‘ Adelaine, mein Kind, du kennst doch einen Zylinder! Und dann stell’ dir mal vor, wie hoch drei Zylinder aufeinandergetürmt aussehen! Mit solch’ einem schweren Koloss auf dem Kopf liebte er es, durch die Gegend zu stolzieren. Auf ihm prunkte eine Diamanten-Agraffe ohnegleichen! Auf jedem Schulterstück funkelten drei große Smaragde. Doch der arme Kerl, welch’ jähes Ende war ihm beschieden, meine liebe Adelaine, denn schließlich fiel er einem heimtückischen Anschlag zum Opfer. Aller Welten Reichtum konnte das nicht verhindern. Ob es die gerechte Strafe gewesen war? Aber darüber möchte ich nicht urteilen, das dürfen wir getrost unserem Herrgott überlassen. Du musst nur wissen, mein Kind, dass er zig Jahre zuvor seinen Premierminister zur Strecke gebracht hatte. Nichts für zartbesaitete Gemüter! Und dann …“
Adelaine hält sich die Hand vor den Mund, weil sie nicht unanständig kichern will, ehe sie die Großmutter mit weit aufgerissenen Augen fragend anblickt und sich in einer Lachpause zu vergewissern sucht, ob ihre Vermutung stimmt: „Ist das nicht der Vierundachtzig-Frauen-Schah gewesen, wie es von ihm überliefert ist, oder?“ Amüsante ‚Harem-Schah-Geschichten‘ machten immer wieder die Runde im Familienkreis und falls jemand sich nur mit einer einzigen Silbe in eine ungehörige Richtung äußerte, warf Lady Ethel ihm einen Blick zu, einen der beschwörenden Sorte, die denjenigen wenn schon nicht töteten, ihn zumindest hochrot anlaufen oder erbleichen ließen.
Nur Großvater hatte da ein wenig mehr Narrenfreiheit genießen dürfen, so dass Großmutter, als er sie mit der Bemerkung frotzelte: ‚Na ja, alle vierundachtzig auf einmal werden ja nicht gerade Kopfschmerzen oder Migräne gehabt haben!‘, ihm zwar einen kleinen Schubs verpasste, aber, ehrlicherweise erwähnt, wirkte dieser kurze Stoß eher verschämt belustigt, denn schließlich, so glaubte sie felsenfest, konnte keiner der Enkel auch nur erahnen, was Großvater durch seine flapsige Äußerung da von sich gegeben hatte.
Nur Adelaine mit ihren siebzehn frischen Lenzen erspürte bereits gewisse Dinge, unaussprechlich Geheimnisvolles, das Großmutters Ansicht nach nur verheiratete Frauen erfahren durften. Auch Adelaines pikanter Einwurf hält sie jetzt nicht davon ab, gräflichen Anstand aufrechtzuhalten und ihre Bemerkung geflissentlich zu ignorieren.
„Adelaine, mein Kind, dieses Teppichglück verdanken wir allein der Tatsache, dass Großvater und ich in selbigem Jahr ein paar Wochen später zum Traualtar geschritten sind. Der Schah von Persien verweilte in dieser Zeit in London, um seinen wertvollsten Teppich überhaupt, dem Londoner Victoria und Albert Museum zu vermachen. Er ist jetzt bestimmt schon weit über achthundert Jahre alt! Die durch seinen Verkauf eingebrachte große Geldsumme wurde benötigt, um die Moschee, in der er gehangen hatte, zu restaurieren. Das war im Jahre 1876! Dieser Teppich, der eine Länge von über zwölf Metern aufweist, wird auch als ‚heiliger Teppich von London‘ bezeichnet. Es ist ein Ardebil-Teppich, ein Teppich, der in einer bestimmten Gegend besonders fein geknüpft worden war. Ja, und weil mein Herr Papa als bekannter Londoner Bankier bei der Übergabe zugegen weilte, antwortete er auf die höfliche Frage des Schahs nach seinem Befinden: ‚Oh, meine Tochter heiratet bald!‘, worauf dieser seinem Leibwächter etwas zuflüsterte, der daraufhin kurz verschwand. Der Schah zelebrierte höchst persönlich das Aufrollen seines Hochzeitsgeschenkes, dieses wunderbaren Prachtstücks dort oben!“ Adelaine sitzt während Großmutters Geschichte wortlos auf ihrem Schemel, bewegungslos dazu, ihren Blick unentwegt auf Großmutters Lippen geheftet. „Ja, Kind, dort an der Wand siehst du, da hängt er nun schon seitdem wir hier Wohnstatt bezogen haben und vorher schmückte er den Salon in Cromer … ja, das alles ist auch schon wieder so sehr lange her. Dem guten Stück sieht man nicht an, in welche großen Aufregungen er uns versetzt hat, damals, ein paar Tage vor unserer Hochzeit in London. Aber weißt du, ich erzähle dir das alles morgen weiter, mein Gott, eine alte Lady wie ich, sollte nicht zu viel aus dem Nähkästchen plaudern, denn das ermüdet doch gewaltig …“, Adelaine beobachtet, wie Großmutter sich die Augen reibt, „… und vernünftigerweise sollte ich ein Stündchen schlummern, bevor der Onkel uns mit seinem Besuch beehrt!“