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KAPITEL SIEBEN

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Ein erwähltes Duft-Duo erfüllt den Raum. Das liebliche Wildrosen-Odeur, dem betörenden Blumenbukett in der Tischmitte entströmend, versucht, um die Gunst der Speisenden zu buhlen. Der ernst zu nehmende Mitstreiter, ein knusprig gebratener Truthahn, auf einer Wedgwood-Fleischplatte mit geschwungenen Füßchen platziert, er liegt in mächtigem Wettstreit mit der buttergelben Gartenschönheit, dem von Großmutter eigenhändig gepflücktem Rosenstrauß; dabei prescht der aromatische Truthahngeruch gewaltig die Nasenwände der drei Genießer empor und lässt die zarteren Düfte verblassen.

„Nehmen Sie bitte auf dem Ohrensessel Platz, da thronen Sie komfortabler als auf dem Stuhl!“ Mit diesen Worten bot Mrs. Smith ihm, dem uralten Mann, zuvor die bequemere Sitzgelegenheit an, nachdem sie seinen Kragenmantel, Hut und Stock in der Garderobe pfleglich in Obhut genommen hat.

Adelaine kennt die Vorliebe des vornehmen Onkels für ein ihm ebenbürtig bekleidetes Gegenüber. So trägt sie heute ihre spitzenbesetzte weiße Festtagsbluse, eine silberne Fischkette, ihr Taufgeschenk, scheint in baumelnder Weise dem Onkel seine Aufwartung machen zu wollen. Werden der einstige Meeresbewohner und der Froschschenkel zur Harmonie befähigt sein? Adelaine lächelt ob ihrer phantasievollen Denkabschweifungen. Neben barockem Teller und Silberbesteck glänzen heute drei Exemplare von Großmutters Dutzend auf dem Festtagstisch, als blütenweiße Servietten, in höchst gestärkter Zurschaustellung ihrer unumstößlichen Werte! Und weil Adelaine heute ein wenig verschnupft ist, zieht sie ihr Taschentuch, keineswegs eines aus ‚Großmutters-Dutzend-Sortiment‘, sondern ein besonders luftiges, mit zartbunten Vögelchen bestickt, aus ihrem Ridikül, wie der Handgelenkbeutel einer feinen Dame vornehm genannt wird. Oh, Onkels Rabennase! Sie ist bestimmt für die feineren Düfte nicht in derselben Weise empfänglich wie Grandmas’ und meine wohlgeformten Riechorgane es sind. Aber das würzige Rebhuhnaroma wird es auch in seine Nase schaffen und ihn nach Mehr lüstern lassen. Seine Nasen-Besonderheit war ihr schon als Kind aufgefallen und einmal, da musste sie sogar lachen und Schwester Marie hat ihr den Mund zuhalten müssen. Wie hochnotpeinlich! Was war passiert? Onkels Gabel mit dem schwarzen Klecks Johannisbeergelee als Krönung drauf, war mit seiner Adlernase so kollidiert, dass der Klecks sich unter den beiden Nasenlöchern in seinen feinen Nasenhärchen verfangen musste. Das sah einfach sehr lustig aus, erinnert sich das junge Mädchen und muss jetzt als junge, beherrschte Dame zwar nicht mehr wie früher lauthals losprusten, aber ein Schmunzeln kann sie sich nun doch nicht verkneifen. Und dieses Schmunzeln verstärkt sich noch, als sie den Großonkel jetzt ins Visier nimmt, der ganz der Alte zu sein scheint, in seiner unverwechselbaren Art, wie er, völlig vertieft in das Hantieren mit Messer und Gabel, dem Rebhuhn kräftig zu Leibe rückt, …

Adelaine amüsiert dieser Anblick nicht wenig, besonders in diesem Moment, als ihm, ja, als dem uralten Herrn vor Anstrengung die Gesichtsröte in die Wangen steigt und Schweißtropfen sich auf seiner Stirn ein Stelldichein geben, ehe sich der eroberte Hahn, in kleinen Häppchen ausgebreitet, vor ihm aalen darf. Die Serviette steckt wie immer gekonnt in seinem Hemdkragen. Der Latz präsentiert sich nicht mehr in reinem ursprünglichem Weiß, ja, es war einmal; nein, vielmehr hatte die vibrierende Hand des Alten, beim Schlürfen aus dem Weinglas einen leichten Seegang bewerkstelligend, die perlenden Rosé-Weintropfen genüsslich auf der ganzen Serviettenoberfläche versprengt. Adelaine und Großmutter, letztere in ein anthrazitfarbenes Kostüm gehüllt, alle beide wissen es nur zu gut, dass der alte Herr sich in diesem geheiligten Moment absolute Ruhe wünscht, nämlich dann, wenn er mit Messer und Gabel hantierend oder seine Suppe löffelnd, sämtliches Weltgeschehen um sich herum zu vergessen scheint. Genauso wird es auch gleich sein, wenn er sich seine Vanillecreme genießerisch im Gaumen zergehen lassen wird. Beide schweigen in der Vorahnung, dass seine Redezeit erst nach einem kurzen Nickerchen auf dem Kanapee volle Fahrt aufnehmen wird. Wie recht sie doch haben?

Zwei bis drei Tassen des Wundermittels Kaffee, nach einem Nickerchen wohlig geschlürft, erwecken wie immer Onkels Lebensgeister derart, dass er sich in seinen gewohnten Redeschwall hingeben lassen kann: „Na, Adelaine, mein junges Fräulein, was macht der Herr von Bismarck?“

Die Angesprochene weiß um seine Vorliebe, die nicht nur dem Truthahn gilt, sondern auch dem deutschen Reichspräsidenten Bismarck. Und weil er mit seiner Großnichte einen Anknüpfungspunkt sucht, ist es einzig und allein der Herr von Bismarck, der auf dem Präsentierteller landet, weil er weiß, dass sie sich für alles, was mit ihrem Studienfach Deutsch zu tun hat, interessiert.

„Aber, mein lieber Jacob, sei dir bitteschön im Klaren darüber, dass der Herr von Bismarck schon lange nicht mehr unter den Lebenden weilt! Sein Tod ist schon bald nicht mehr wahr! Seitdem hat sich die Welt mächtig weitergedreht! Zu Bismarcks Todeszeit lebte mein lieber Evel sogar noch! Und …“

Großmutter mischt sich in das Gespräch zwischen beiden ein, spürt aber schon genau, was ihr Schwager mit seinem Bismarck bewirken will, wie immer, wenn das Gespräch auf den ersten bekannten Vorfahren der Familie gelenkt werden soll. Und tatsächlich fährt der alte Jakob fort und beendet Großmutters Satz: „…Ja, ja, ich weiß das doch natürlich alles! Unser Franz ist Superintendent in einer Elbstadt gewesen und der Herr von Bismarck besaß dort in jungen Jahren ebenfalls ein großes Landgut. Dort nannte man ihn den ‚Wilden‘! Den Herrn von Bismarck, so versteht sich! Er fungierte damals schon als Landtagsabgeordneter. So könnt ihr euch vorstellen, dass er nicht gerade als einer der Scheuesten gegolten hat. Adelaine, mein Fräulein, du weißt als kluges Mädel doch sicher, dass wir auch deutsche Vorfahren aufweisen können.“ Der Onkel nickt seiner Großnichte zu.

Deren Miene gaukelt wie immer eine gewisse Unwissenheit vor. Das gefällt dem Großonkel ebenso wie es der Großmutter zusagt, konnte sie doch ihre ‚Teppichgeschichte‘ sicher zum hundertsten Male auftischen. Und wer weiß, so sinniert Adelaine, wie ich später einmal als kuriose alte Dame wirken werde, dann, wenn ich meinen Enkeln zum hundertsten oder gar tausendsten Male meine besten Episoden zum Besten gebe und mir dabei jedes Mal erhoffe, ihr größtes Vergnügen damit herauskitzeln zu können.

„Ethel, lass’ uns unsere matten Glieder hinüber ins andere Zimmer bewegen! Ich möchte nämlich etwas Bestimmtes aus dem Sekretär holen, um es Adelaine zeigen zu können. Mrs. Smith, ich bitte Sie mir freundlichst den Stock zuzustecken! Adelaine, reich’ du mir bitte deine Hand zum Aufstehen!“

Ja, … geht es seiner Großnichte durch den Kopf, … so ist er und so wird er bis zu seinem Ende bleiben …, der Onkel Jakob, eben ganz der Alte!

„Man schiebe mir bitte diesen Schreibtischstuhl vor den Sekretär! Ich muss mir das gute alte Stück noch einmal genauer betrachten!“ Der alte Herr zeigt auf den braunen Ledersessel und nach dem braven Gehorchen seiner hilfreichen Geister lässt er sich, auf die Seitenlehnen gestützt, dort hinein plumpsen. „Mein Gott, das gute alte Stück!“, wiederholt er sich, um dann das Möbelstück sanft zu berühren. „Adelaide, zieh’ bitte mal die Schreibunterlage hervor, ich möchte mal sehen, ob die alte braune Lederunterlage mit der goldenen Blumenranke als Verzierung noch an den Rändern zu bewundern ist.“

Noch bevor Adelaine zu Werke gehen kann, fällt sein Blick ins untere Bücherregal des Sekretärs, wo ihn in der Mitte ein dicker roter Leineneinband anlacht. „Du meine Güte! Diesen da! …“, und während des Sprechens greift er mit seinem neben dem Sessel stehenden Stock, erhebt ihn, um genau an der richtigen Stelle dort oben einmal nicht sehr sanft gegenzustoßen. „Mein Gott, Jacob, das Glas! Das wertvolle Kristall! Das alte gute Glas! Ich habe es immer wie meinen Augapfel gehütet und du, was machst du jetzt?“

„Ethel, beruhige dich, das ist noch beste Wertarbeit und was soll ihm solch ein kleiner Stoß schon schaden? Adelaine, streck’ dich mit deinen jungen Knochen mal hoch und reiche deinem Großonkel mit seinen alten Knochen diesen Bucheinband dort mal herunter! Ich möchte darin etwas nachsehen!“

Adelaine, folgsam wie sie sich stets gegenüber den alten Herrschaften verhält, stellt sich auf ihre Zehenspitzen, um seinen Wunsch erfüllen zu können. Der Großonkel fährt wenig später mit seiner knorrigen großen Hand über den roten Ledereinband auf seinem Schoß, nicht nur einmal, sondern immer und immer wieder, ja, so zärtlich berührt er das weiche Leder, gerade so liebevoll wie er einst seine Enkelkinder gestreichelt hat. Adelaine erinnert sich an die hübsche kleine Amabel, ein Kind mit einer Unmenge schimmernder brauner Locken auf dem Kopf. Seine Lieblingsenkelin trug zu festlichen Gelegenheiten oft ein rosafarbenes Hütchen, das durch die forschen Bewegungen der Kleinen ein wenig zur Seite gestupst, ihr einige widerspenstige Löckchen über die Stirn bescherten. Großvater zupfte manchmal an den feinen Härchen, ganz leicht neckend und Amabel hatte ihren Spaß daran, wenn sie jedes Mal wie am Spieß schrie: ‚Hilfe! Du ziepst mich!‘ Aber genau dieses Zeremoniell gehörte einfach dazu, wenn die Kleine ihren Grandpa besuchte. Und genau solche hübschen dunkelbraunen Locken besitzt jetzt Amabels jüngstes Töchterchen. Aber diese liebt es überhaupt nicht, von anderen Leuten liebkost, geschweige denn, geziept zu werden. Und außerdem wohnt sie viel zu weit weg, als dass sie und ihre zwei Geschwister dem Urgroßvater sehr vertraut geworden wären.

Adelaine beobachtet Großonkel Jacob mit Vergnügen, denn seine Augen blinken und blitzen wie Sonnenstrahlen, als er zunächst zaghaft, dann immer rascher hier und da eine Buchseite umschlagend, blättert und blättert, neugierig, genauso, als warte er voller Vorfreude auf etwas Entscheidendes. Dazwischen nickt er mit dem Kopf, einige Male, um schließlich mit seinem Finger auf dicke, fette Lettern zu tippen und freudig auszurufen: „Ich hab’s! Ich hab’s!“ Sind die Alten manchmal nicht wie schwärmende Backfische?, durchfährt es Adelaide, ihren Großonkel beobachtend, wie er wild in seine Hände klatscht, ehe er seine knorrige Hand auf die runzeligen Lippen legt, sicherlich um seinem Mund doch lieber einen Riegel vorzuschieben. „Mein Geheimnis, allein meins! Ich werde es mit ins Grab nehmen.“

Sie spürt: Der alte Mann ist da und ist doch nicht da. Wie sonderbar! Seine Augenlider schließen sich für einen kurzen Moment, während es um seinen Mund leicht zuckt und die Lippen sich zu einem Schmunzeln verziehen. Wie himmelwärts gewandt – dieser Gedanke kommt Adelaine – in seinem Traumland küsst er jetzt bestimmt ein blutjunges Mädchen, liebestrunken wirft es sich an seine behaarte männliche Brust. Jung ist er und jung ist die Maid und die Welt um ihn herum tanzt und schwebt im Reigen. Warum denkt sie plötzlich an eine Maid? Wie ein Schlag durchfährt es sie. Hat es in Onkel Jacobs Leben nicht eine Tragik gegeben, die flüsternd, von einer zur anderen Generation weitergegeben worden war? Eine Liebe, von Beginn an dazu verdammt, unglücklich zu enden und Leid über die Maid und ihren Bastard zu bringen. Armer Onkel, durchfährt es sie, ich würde dich jetzt so gerne trösten und dir sagen, wie Leid es mir für dich, deine Angebetete und euer geliebtes Kindchen tut. Und jetzt wird dieses, dein dir fremdes Kind, auch schon Kinder haben, die du nicht streicheln und ziepen darfst. Wie schlimm muss es für einen Vater sein, sein eigenes Fleisch und Blut verleugnen zu müssen. Aber, es ist dein ureigenes Geheimnis! Du hast es selbst gesagt. Und so soll es bleiben!

Als der alte Mann wieder zu sich kommt, tippt er wieder auf diese eine Seite in dem, ihm so wertvoll erachtetem Buch. „Von Shakespeare! Ich hab’s damals abgeschrieben!“ Hastig verschließt er wieder seinen Mund. Wie er jetzt sehr gefasst und würdevoll den Vers liest „Heiß rollt ihr die Träne und erweicht das Gestein! Sing Weide, grüne Weide!“, überfällt Adelaine ganz viel Mitleid, ganz viel Trauer, ganz viel Liebe für diesen Menschen; so seltsam er auch war und es immer bleiben wird, der so wie alle anderen Männer, die sie kannte, unter den widrigsten Umständen stark sein musste. Eine Träne sah ich bei keinem einzigen Mann, das heißt nur eine halbe Träne bei meinem Vater, die er verlegen wegtupfte, damals an Großvaters Grab, so geht es ihr durch den Kopf, aber dafür erlaube ich es mir jetzt, einer geweinten Träne ihren Lauf zu gewähren und sie, wer weiß wohin, kullern zu lassen. Aber dieser einen Träne leisten schließlich noch einige ihrer Kameraden Gesellschaft, die allesamt an ihren truthahnfettgeschwängerten roten Lippen abprallen. Mitleid zeigen durch ein herzhaftes An-sich-Drücken eines männlichen Respektwesens, allein schon dieser Gedanke erschiene ihr als ein unverzeihlicher Regelbruch. Der Großonkel spürt nur zu gut, dass er sich schnellstens auf unverfänglicheres Terrain begeben muss.

„Was macht dein Bismarck, Adelaine?“

„Oh, der Bismarck … Ja, der Bismarckhering schmeckte ausgezeichnet. Ich habe ihn bei meinem Deutschlandbesuch genossen!“ Oh, Dank sei dir, du Himmel! Adelaine freut sich über diese Eingebung von oben, hat sie sich doch oft genug bitter darüber beklagt, dass Schlagfertigkeit ihr wohl nicht in die Wiege gelegt worden zu sein scheint. „Ja, der Herr von Bismarck und seine Leidenschaften …!“

Onkel Jacob lacht laut auf, als er das Wort wieder ergreift; Adelaine schmunzelt und Lady Ethel hat sich die ganze Zeit nicht offen an der Unterhaltung beteiligt. Stattdessen hält sie ihren Kopf an Adelaines Schulter gepresst. „Flau im Magen wird es mir, auch wenn wir vor kurzem erst gespeist haben“, flüsterte sie ihrer Enkelin gerade noch zu, die blubbernde Gegend mit beruhigenden Handgriffen umkreisend.

„Truthahn, wo bist du geblieben? Hast du dich schon in tiefere Gefilde begeben? So, jetzt aber muss selbst ein Schwerhöriger vernommen haben, wie der große Stein von meinem Herzen geplumpst ist. Aber … der Schlussakkord deutet nun in eine friedsame Richtung, dank unseres Bismarckherings!“, stellt das junge Mädchen erleichtert fest. Ihr Mund hatte Großmutters Ohr berührt – Adelaine fährt nun mit ihrem Finger über jene Stelle ihres rechten hinteren Ohrläppchens, das die Hinterlassenschaft von Großmutters feuchter Tuschelei abbekommen hat und das sie jetzt mit ihrem Taschentuch abzutupfen versucht. Zum Schwager gewandt, richtet sie kluge Worte; nicht zum ersten und einzigen Mal kramt sie Aussprüche aus dem Vermächtnis ihres geliebten Evels hervor: „Der deutsche Reichskanzler von Bismarck soll gesagt haben: Wenn Heringe genauso teuer sind wie Kaviar, werden ihn die Leute weit mehr schätzen!“

„Ethel, bitte tue mir einen Gefallen!“ Die alte Lady wird auf diese Weise mitten aus ihren tiefen Gedankengängen gerissen. „Alles Menschenmögliche wird dir geschehen!“ Ihre Worte – laut gesprochen, langsam betont, mit einem Lächeln gepaart – mögen sie doch die Seele des Schwagers erreichen. „Ist der angestammte Platz von Mutters Bild, vom Schreibsekretär aus gesehen, nicht immer der in der vorletzten der breiteren Schubladen gewesen, und zwar in der linken, soweit ich mich recht entsinne?“

Adelaine reagiert prompt. Sekunden später liegt Uronkels gewünschtes Bild auf seinem bügelgefalteten Hosenschoß.

„Ach, ja …“, gerät der alte Herr ins Schwärmen, „… ich sehe hier ein Lichtbild, das mich zutiefst beglückt: Unsere verehrte Frau Mutter sitzt an diesem Sekretär und erledigt ihre Post. Ihr Kopf ist über die Schreibplatte gebeugt. Einzelne dunkle Haarlöckchen umspielen ihr Ohr, das dem Betrachter zu allererst ins Auge sticht. Sieh’ mal hier! Mamas Fledermausohren! Wie oft verwünschte sie diese Schönheitskiller!“ Der uralte Herr streicht mit seinem tanzenden Finger über die filigrane Hand seiner Mutter. „Diese passen so gar nicht zu ihren Riesenohren! Seht mal, wie die weißen Armrüschen im Kontrast zu dem schwarzen Kleid ihre dunkle Erscheinung auflockern! Ihrem Briefeschreiben, ihrer Lieblingsbeschäftigung, der widmete sie sich am liebsten zur Zeit des Sonnenuntergangs, vornehmlich dann, wenn rotgoldene Strahlen das ganze Zimmer in warmes, anheimelndes Licht versenkten. Unsere Mama, die gute, mit ihrer Feder malte sie so wunderbare Blumen auf Pergamentpapiere. Sie war eine rechte Könnerin auf diesem Gebiet! Ganz besonders liebte sie es auch, einzelne Blumenblüten aus dem Garten zu pressen … Ethel, sie schwärmte auch, wie du es tust, von Rosen in allen Facetten …“

„Ja, meine Schwiegermutter, sie hat mir ihre Rosenliebe in jungen Jahren eingepflanzt!“ Dankbar fällt Ethels Blick auf die gelbe, voll erblühte Pracht in der Wedgwood-Vase. „Ich glaube, ihr dürstet wieder nach feuchtem Element!“ Mit Hingabe streichelt sie über eine Blüte, die schon fast eine ihrer ‚Dutzend-Decken‘ berührt.

Der alte Herr lässt sich nicht gerne unterbrechen und fährt fort, seine Erinnerungen kund zu tun. „Unsere Mama, ja, sie legte oft Vergissmeinnichtbünde zwischen Löschpapier und verstaute sie zwischen diesen Büchern …“, dabei gleitet sein Blick weiter von den Schubladen des Sekretärs bis zu den Glasscheiben hoch, hinter denen die farbigsten und die farblosesten Buchbände zumeist einen langen Schlaf halten dürfen. „Einigen von ihnen war die besondere Ehre zuteil geworden, als Plätteisen für Blüten und Gräser zu dienen. Mama klebte die filigranen Trockenblumen danach fein säuberlich auf Büttenpapier, so dass sie damit Verwandte sowie gute Freundinnen gerne mit ihren individuell gestalteten Grüßen erfreuen konnte!“

Adelaine, über die Schreibtischablage gebeugt, versucht, ihre Gedanken zu sortieren. Vergissmeinnicht und Co., Löschpapier und Federzeichnungen erst einmal adé! – jetzt muss zunächst die Schatzsuche nach dem Stammbaum beginnen, jetzt muss die Fährte aufgenommen werden! „Grandma, die vorletzte? Richtig so? Wie weiter?“

„Bei dir, oh, du mein Kind, da müsste doch noch ein frischer Wind im Oberstübchen wehen, oder? Aber … ich gebe es unumwunden zu, … ich bin diejenige, die sehr viel mehr Sekretär-Erfahrungen hat! Adelaine, ziehe bitte die vorletzte der breiteren Schubladen heraus! Und zwar die linke!“

„Grandma, guck’ mal hier! Meine neueste Entdeckung! Wie reizend! Eine wahre Schatztruhe, dein Sekretär! Eigentlich euer Sekretär! Und ganz eigentlich auch der meinige!“ Und während sie eine Lobeshymne auf ihren unbeabsichtigten Fund ausstößt, tippelt sie mit tänzerischen Schritten, die luftige Entdeckung zwischen ihren Fingern, ihrer Großmutter entgegen.

„Um Himmelswillen!“ Großonkel, auf Stammbaumfreuden geeicht, wird ungeduldig. „Immer diese Weibergeschichten!“ Sein Blick richtet sich auf das zierliche Ding da, das ihm irgendwie bekannt vorkommt, nicht dieses spezielle hier, sondern solcherart weiblicher Spielerei im allgemeinen, die mit seiner Jugendzeit untrennbar verbunden gewesen war, der Walzerklang, Rosalias Lippen in erreichbarer Ferne und der hauchdünne aufgefaltete Fächer als Tugendwächter dazwischen. Aber nein, weg mit diesen weibischen Angelegenheiten! Sein Blick fällt auf den Shakespeare-Band vor ihm auf dem Tisch – oh, nur nicht schon wieder irgendwelche Rührseligkeiten …, gemahnt er sich und beginnt darin zu blättern.

Die alte Dame ergreift ihr Monokel, entfaltet glänzenden Auges den Fächer, begleitet von den Worten: „Mein Kind, das ist ein ganz edler, aus feinster Ziegenhaut!“ Betastend und liebkosend befingert sie ihr Kleinod, auf ihrem Schoß liegend ist es halbkreisförmig entblättert. Goldverzierte Stäbe verleihen dem Kunstwerk einen verheißungsvollen Glanz. „Weißt du, Adelaine, wie Damen von Welt ihn geschickt verwendet haben? So, betrachte dir das genau, so …“, sie erzeugt durchs Wedeln einen Luftzug, „… so und nicht anders!“

„Bald schwelgt mein Blick in deiner Schönheit Fülle!“ Schwagers Blick bleibt auf einer bestimmten Buchseite hängen und flüstert diese Zeile vor sich hin. „Nein und nochmals nein! Ich bin schließlich ein alter Mann!“ Er packt sicher hundert Seiten auf einmal, schlägt sie forsch um und bekommt endlich eine Buchseite geliefert, die ihn augenblicklich ins Hier und Jetzt zurückzurufen hat, wie er es sich ersehnt: „Ein Schatten nur, der wandelt, ist das Leben, weiter nichts!“ Er stutzt und fasst dabei die verrückten Frauen ins Auge. „Grandma, zeig’ mir’s noch einmal!“

Adelaine betrachtet das Bild vor ihren Augen mit größter Andacht. Mit koketten Bewegungen wedelt Lady Ethel den kunstvollen Fächer hin und her, mit Liebreiz und Koketterie! Wie ein junges Mädchen, denkt sie und schnuppert geradezu den ausströmenden Veilchenduft ein, denn diese wunderschönen blauen Blümchen verzieren, zum Bukett gebunden, dieses Damenaccessoire vergangener Jahrhunderte, einer von den vielfachen, mit romantischen Motiven bemalt, die die Herzen der Damen höheren Geblüts eroberten.

„Mein Gott, ihr beiden, jetzt lasset uns endlich zu handfesten Dingen übergehen.“

Der alte Herr, der schwereren Buchkost jetzt eher abgeneigt, schmunzelt vergnügt ob seiner anmutig fächelnden Schwägerin.

„Adelaine, sieh mal! Der Fächer konnte früher eine Herzenssprache sprechen. Das hier …“ Und bei ihren Worten zieht sie den Fächer über ihre Wangen, den rötlich schimmernden. „Dieses bedeutet: Ich liebe dich!“ Ein schnelles „Ja! Ja!“, dem Schwager zugerufen, und schon beendet sie diese Fächergeschichte mit den Worten: „Meine Großmutter hat mich noch in diese Sprache eingeweiht. Das meiste hab’ ich wieder vergessen. Das Wichtigste, nämlich das mit der Liebe, behält eben auch ein alter Kopf!“

Adelaine beobachtet, wie Grandmas flüchtige Gesichtsröte beim Zusammenfalten des Fächers nach und nach wieder entweicht. Direkt neben der Rosenvase kommt das Tausenderinnerungsstück wieder zum Liegen.

„… ja, Rosen, Veilchen und Vergissmeinnicht …“, so sinniert Großmama hörbar, „… alles Herzensblumen! Zum Verlieben!“

„Aber ja, jetzt ab zum Stammbaum, ihr meine beiden Lieben!“ Adelaine sagt’s und spürt sogleich, dass Großmutter sich nicht allzu gerne aus ihrer Traumwelt herausreißen lassen möchte! Aber ihr Gegenüber ist nun mal ein Herr, ein Herr, der wie alle Herren der Welt Empfindsamkeit als weibliches Attribut belächelt, ein äußerst gestrenger Herr dazu.

Dieser streckt für einen kurzen Moment seine knorrige Hand aus, zeigt mit den Fingerspitzen auf die Familien-Schatztruhe, räuspert sich, seinen buckligen Rücken kurzzeitig in eine streckende ‚Ja, wer sagt’s denn Haltung!‘ bringend, ehe sich sein herausfordernder Blick mit dem erwartungsvollen Blick seiner Schwägerin kreuzt und er mit ernster Miene zum Sprechen ausholt: „Ethel, diese Rolle hier …“, und dabei zeigt er auf ein aufgewickeltes Papier, etwas vergilbt, mit dem Kennzeichen: ‚Eselsohr, rechts oben‘, und vergeblich über die umgeknickte Ecke streichend, murrt er etwas von einem armseligen Zeichen von Geringschätzung, ehe er sich wieder der Angesprochenen zuwendet: „Ethel, ich möchte dir eines ans Herz legen: Diese Rolle ist immer und überall in Ehren zu halten. Es ist ein besonderes Papier …“, währenddessen faltet er die Rolle auseinander, nachdem er zuvor Ethels Vase leicht zum Tischrand gestupst hat, zugegebenermaßen nicht sehr liebevoll, zum Leidwesen der Rosenlady.

„Adelaine, stell’ die Blumen bitte auf die Vitrine!“, bittet sie ihre Enkelin daraufhin.

Beim Aufrollen fällt dem Familienoberhaupt noch eine weitere kleine Rolle entgegen, die sich in der großen sicher und geborgen aufgehoben wusste. „Bedenkt mal, ihr beiden, das hier betrachte ich durchaus als sinnbildlich: Der Einzelne sieht sich im Großen und Ganzen einer Familie geborgen. Er lebt eingebunden in den Familienverbund, fühlt sich als wichtiges Glied seinen Vorfahren verpflichtet und schuldet ihnen Ehrerbietung. Was waren das alles für stattliche, honorige Persönlichkeiten, die sogar Weltgeschichte geschrieben haben? Unser Urstammvater, ja, als solchen würde ich ihn wohl bezeichnen, das war der Franz, hier der da! Sieh’ mal, Adelaine …“, und dabei tippt er ganz oben auf eine Spalte des Papierbogens. Mit feinem Federkiel gezeichnete Linien umranden einen mit kräftigerer Feder markierten Namen.

„BAREN, FRANZ“, liest das junge Mädchen vor und fügt dann die Jahresdaten hinzu, die kleingemalt darunter stehen: „1522 – 1589.“ Und haargenau unter diesen Zahlen ist zusätzlich notiert: „1565 – 1582 Superintendent in Lauenburg/Elbe. Unvorstellbar! Über dreihundert Jahre ist das jetzt her! Ein Kommen und Gehen!“

Großonkel schiebt sein rechtes Ohrläppchen mit seinem Zeigefinger ein wenig in die Höhe und hält es fest nach oben gezogen. Ob er durch die so entstandene Trichterform die Schallwellensignale leichter aufzufangen gedenkt? Er nickt, scheinbar zufrieden schenkt er seinem malträtierten rotgewordenen Ohrläppchen die Freiheit zurück, das schwammige Fettgewebe baumelt wie eh und je herunter. Ein weit verzweigtes Geflecht rotbläulicher Wangenäderchen lassen auf eine bestens funktionierende Kopfdurchblutung schließen. Er nickt wiederholt. Kopfgymnastik vom Feinsten! Ein entschiedenes Ja! folgt, von nichts und niemanden in Frage gestellt. Sein Kopf bewegt sich schneidig wie in alten Zeiten. Militär … geht es dem jungen Mädchen durch den Kopf … da geht es doch so stramm zu, dass der ganze Mann Haltung zeigen muss.

„Wieso ist der Großonkel mit einem Mal zum Sitzriesen mutiert, oder bilde ich mir das nur ein?“ Adelaine flüstert’s der Großmama ins Ohr, fast speichellos tuschelt sie es, ohne feuchte Rückstände zu hinterlassen, aber sie erschrickt umso mehr, als sie Großmutter anschließend von der Seite aus betrachtet. Wie Rötelflecke sehen sie auf ihrem Ohrläppchen aus, diese winzigen Lippenstift-Tupfer, kleinste rote Pünktchen, die wirr umhertanzen. „Komm, da bin ich eben wohl zu stürmisch gewesen …“, spricht sie im Gleichklang mit Großmamas Worten und betupft mit ihrem speichelbehafteten Finger die rote Punktegalerie.

„Wie stolz er ist! Unheimlich stolz, meine Kleine! So wie ich es auch bin!“ Großmutter streichelt ihr Kätzchen wonnevoll. Käthe schnurrt selig, während ihr Frauchen tief einatmend den Brustkorb erhebt. Dass zwei paar uralte Augenpaare noch wie Backfische strahlen können! Die Jüngste im Bunde zeigt sich erstaunt.

Mit solchen Alten kann ich Staat machen, sinniert sie, als Großonkel als erster seine Genugtuung in Worte kleidet: „Stellt euch das nur mal vor! M e i n e Familie! D e i n e Familie! U n s e r e Familie! Die Familie deiner zukünftigen Kinder und deiner noch zukünftigeren Enkel!“

Adelaine stutzt plötzlich. Ihr Blick war zwischen Sternchen- und Kreuzdaten umhergewandert, während ihr Hirn hochkonzentriert zu sein scheint. Ihre Stirn zeigt sich noch gekräuselt, die Augen blicken schwermütig verträumt vor sich hin, als sie in gedämpftem Ton erklärt: „Ja, ihr Leben, es war vor allem auch ein Gehen! Gerade angekommen, mussten zu viele schon viel zu früh wieder von der Welt Abschied nehmen! Sieh’ mal, was sein Nachfahre hier auf diesem Papier schreibt: ‚Mein Großvater Franz verlor in frühester Kindheit vier Schwestern und zwei Brüder. Nur ein Bruder überlebte.‘ – Adelaine, lies bitte mal den gesamten Text vor!“

Der Großonkel lehnt sich behaglich in seinem Ohrensessel zurück, faltet seine Hände und beim Gongschlag sieben schwillt seine Brust um ein Vielfaches an, in diesem spannenden Lauschmoment, den er genüsslich mit seiner Pfeife im Mund genießt.

„Er war ein außergewöhnlicher Mensch mit unermesslichen Begabungen, die noch über Kinder und Kindeskindern hinaus Beachtung erfahren werden.“ Adelaine verstummt.

Mit ihren Gedanken scheint sie allein, als sich Großonkel wieder zu Wort meldet: „Mein lieber Freund …“

Der alte Herr hält wohl Zwiesprache mit seinem Vorfahren, denn er sieht mit konzentriertem Blick auf die Stammbaumstelle, wo er mit großen Lettern den FRANZ verewigt sieht.

„… seit dreihundert Jahren dürfen wir uns in deinem Glanze sonnen. Hättest du das damals schon erachtet? Und wer weiß, ob dein Evel …“, und dabei betrachtet er mit großer Genugtuung seine Schwägerin, „… ob dein Ehemann sich so viele Orden über die Brust hätte hängen können, wäre er nicht diesen bedeutenden Vorfahren entsprungen? Na ja, und ich erst einmal …!“, das fügt er zwar leiser, aber doch mit einer gewissen Betonung hinzu, einer pointierten Heraushebung, die Bände spricht: „… auch ich brauche mein Licht keineswegs unter den Scheffel zu stellen! Ich fühle mich von deinem Glanze ebenfalls höchst bestrahlt!“ Er spricht’s genau in dieser Weise aus, so und nicht anders, während er seinen Blick vom Tisch mit dem ausgerollten Eselsohr-Papier hinüber zur Großnichte mit dem ‚Franzen-Papier‘ auf dem Schoß wandern lässt, von dort gleitet er bis zur Gestalt der Schwägerin, die augenblicklich ihr Seidenschälchen etwas hochschiebt, um es dann höher an den Hals zu drücken, ehe er ihn, seinen Blick, diesen wandernden aufgeweckten Gesellen, schlussendlich auf dem Ziffernblatt der Standuhr zur Ruhe kommen lässt.

Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong – Dong! Onkel Jacob hat die acht Schläge mitgezählt. Er zeigt sich zufrieden. Das alte Uhrwerk erfüllt seinen Dienst noch zuverlässig – wie mein altes Herz, sinniert er, das arme alte, das muss allerdings noch wesentlich öfters schlagen! Schwägerin Ethel rollt bei den schwägerlichen Lobhudeleien ihre Augen nach oben, ihre Stirnfalten kräuseln sich zu Rinnsalen, währenddessen sie ihre erdbeerfarbigen Lippen fest aufeinanderpresst, sicher aus Furcht davor, dass ein unbedachtes Wort Reißaus nehmen könne.

„Adelaine, lies bitte weiter!“ Großonkel meldet sich wieder zu Wort. Fernab jedes Eigenlobes beginnt er zu jammern: „Verehrte Frau Schwägerin! Mein Magen knurrt wie verrückt! Dein Essensritual, meine liebe Ethel, hat sich bereits seit zwei Stunden verzögert! Oder wollt Ihr etwa, dass in diesem Familienstammbaum dereinst für alle Ewigkeiten eingraviert stehen wird: Der ehrenhafte Herr Jacob Baren hat das Zeitliche gesegnet. Auf tragische Weise wurde er im Salon seiner Schwägerin Ethel, Witfrau des adeligen Herrn Evel Baren, aus dieser Welt abberufen. Todesursache: Vorenthaltung eines lebenswichtigen Krumen Brotes!“

Adelaines Mund verzieht sich zu einem Grinsen und auch Ladys Lippen öffnen sich leicht, erst zaghaft bis ihre Mundwinkel sich immer mehr in Richtung Ohren verziehen und sie ihr Glöckchen vom Teewagen neben ihrem Sessel ergreift, um wie gewöhnlich durch dreimaliges Läuten desselbigen Mrs. Smith ihr Anliegen zu Gehör zu bringen: „Mrs. Smith, bitte decken Sie im Esszimmer ein! Wedgwood, das Weiße, Dekor: Efeublätter! Die Canapés bitte mit kalter Truthahnbrust und mit Wildschweinpastete belegen! Möglichst rasch, damit wir keine Landhausleiche zu beklagen haben!“

„Grandma, würde nicht gerade sie, die Landhausleiche, eine atemberaubende Sensation für unseren Stammbaum darstellen?“ Adelaine grinst wie ein Honigkuchenpferd, als sich der Großonkel lachend zu Wort meldet.

„Du willst deine heißgeliebte Großmutter doch nicht etwa hinter Schloss und Riegel bringen? Das würde ich dir unter keinen Umständen raten, mein Mädchen! Lass’ dir das von deinem weisen Großonkel gesagt sein!“ Der hungrige alte Herr fährt sich mit der Zunge über die Lippen, so von wegen Truthahnbrust und Wildschweinpastete, das hört sich vielversprechend an! Die nasse Zunge fährt über seine spröden Lippen, die eine feuchte Prise nur allzu willig entgegen nehmen, ehe er weiterspricht: „Adelaine, lies’ uns bitte den Brief bis zu Ende vor! Solange wird mein Lebensodem noch fließen, das erhoffe ich doch inständig!“

Das junge Mädchen streicht mit ihrem Zeigefinger über das Blatt und staunt: „Wie gestochen scharf die Schrift ist! Mir gefallen die Verschnörkelungen! Guckt mal das G hier und alle anderen großen Buchstaben besonders am Beginn jeden Satzes, welch’ Labsal für einen ästhetisch veranlagten Menschen! Wie viel Sorgfalt wurde dafür verwendet, um jeden einzelnen Buchstaben zu pinseln! Stellt euch nur mal vor, wie oft ein Federkiel in das Tintenglas getaucht und wie oft überschüssige Farbe abgestrichen werden musste, bis das Schreibwerk zur Zufriedenheit seines Schöpfers fertiggestellt war. Adelaine liest weiter: „Ich bemühe mich hierbei nach bestem Wissen und Gewissen, meiner großen Nachkommenschaft Kunde darüber zu geben, was mir durch meine Vorväter zu Ohren gekommen ist und was sie durchs Studium von Kirchenbüchern, alten Briefen oder Mitteilungen persönlicher Art in Erfahrung bringen konnten. FRANZ BAREN – der Name ist dick, mit geradem Stift unterstrichen, hervorgehoben – er ist als Vertreter des strengsten Luthertums in die Annalen eingegangen. In Geldern geboren (1522), besuchte er die Lateinschule und wurde Mönch, später achtzehnjährig Messpriester zu Köln, trat dann aber von den Theologen Melanchthon und dem Reformator Bruce beeinflusst, zum Protestantismus über. In der Universität Rostock trug er sich unter dem Namen ‚Franz von Geldern‘ in die Matrikel ein. Nach Predigeranstellungen in Elverdorf, Krempe (Holstein) und Buxtehude ersuchte ihn Herzog Franz I. von Lauenburg um eine Stellung als Superintendent. Er entsprach dieser Bitte anno 1564 nach Christi. Eine große Freundschaft verband ihn mit dem Hamburger Superintendenten Paul von Eltzen …“ Gehörig außer Atem gerät der alte Herr, als er seine Gehirnarbeit in zügigem Tempo offeriert. Die jüngere Frau kann sich schwerlich ein Lächeln nicht verkneifen, denn für einen kurzen Moment scheint der betagte Onkel in die Rolle eines rotwangigen Jünglings zu schlüpfen, der dem besten Freund seine neueste Eroberung präsentiert.

„Eitzen, mein Liebling, Eitzen, heißt dieser gute Mann! Evel erwähnte diesen Namen früher einige Male! Wir haben da doch noch … Ja, meine Käthe, was meinst du dazu?“ Lady Ethel krault Kätzchens Fell. Das Tier hat es sich im Faltengewand der alten Dame derweil gemütlich eingerichtet, wohlig schnurrend.

„Ja, Adelaine, wir müssten ihn gewissermaßen noch haben!“

Schwager Jacob, der bisher kopfnickend dem Vorgetragenen gelauscht hatte, spreizt seine eben noch gefalteten Hände, beugt sich zu Ethel mit seiner rechten Seite so weit hinüber, wie es sein altersschwacher Rücken ohne in die einzelnen Bestandteile zu zerbrechen, gerade noch erlaubt, und stellt die Frage: „Gnädigste, würden Sie bitte so gütig sein, Ihre Mitteilung in vollkommener Gänze darzubringen?“

„Oh, selbstverständlich verehrter Herr, ich werde das Vergnügen haben, Ihnen mitteilen zu können, dass dieser besagte Ochsenknecht-Brief des Herren von Eitzen sich in derselbigen Schublade befinden müsste wie die dargebotenen Schätze hier!“ Einer ihrer Finger zeigt auf den Tisch, während die andere Hand auf Käthchens Miauen hin, zu dieser Stelle zwischen den Ohren dorthin langt, wo es ihrer Katzenfreundin immer besonders behagt, liebkost zu werden. „Du bekommst auch gleich deinen Schmaus, meine Süße!“

„In der vorletzten der breiteren, und zwar in der linken wirst du ihn finden!“ Adelaine amüsiert sich köstlich über die Konversation der Alten und angelt sich nach wenigen erfolglosen Bewegungen diesen sensationsversprechenden Brief hervor. „Aber erst später wird er studiert.“ Sie betont das ‚später‘ so sehr, dass die beiden anderen sie erstaunt ansehen, sich aber schließlich ihrem Wunsch wortlos fügen. „Ich möchte nämlich, dass mein verehrter Großonkel noch lange mit dem Lebensborn verbunden bleibt. Nur diesen begonnenen ‚Franzen-Brief‘ lese ich noch zu Ende, ehe wir uns auf Wildpastete & Co. stürzen. Und dank hervorragender Kooperation ihrer Augen und Finger gelingt es ihr bald, die richtige Briefstelle wiederzufinden.

„Ja, Adelaine, komm’ bald zu einem Ende, du hast recht, du weißt es …“ Der alte Herr reibt sich die Augen, ehe er weiterspricht. „… wenn sich zum Magenknurren noch Schläfrigkeit gesellt, dann kann es für alte Herrschaften nur eine Devise geben: Wachsamkeit allerorten!“

Weil zwei altersschwache Pferde nicht mehr genug Energien aufweisen, hastet die junge Vorleserin in ziemlichem Tempo ihrem Leseziel entgegen: „Franz B. durchlebte eine sehr schwere Zeit in Lauenburg. Schon zuvor hatten Herrscher des askanischen Uradelsgeschlechtes im dortigen Umkreis Kirchen überfallen und ausgeplündert. Bürger und Bauern vergriffen sich ebenso an kirchlichem Besitz. Der ihm als Superintendent zur Seite gestellte Diakonus verrichtete sein Amt nur mangelhaft, so dass Franz immer wieder vehement gegen die kirchlichen Missstände angehen musste. Streitereien der Theologen verschiedenster protestantischer Glaubensrichtungen versuchte er zu besänftigen. Als er sich 1581 weigerte eine neue Kirchengesetzordnung, basierend auf zwölf Punkten der Konkordienformel, auch ‚Bergisches Buch‘ genannt, zu unterschreiben, wurde er infolge dessen seines Amtes enthoben. Er blieb damit seiner streng lutherischen Glaubensüberzeugung treu. Anschließend als Pfarrer in der Gemeinde Lütau tätig, vermerkt er später: ‚Die Leute seind fleissig, zu Gottes Wort halten sie auch die Kinder dazu, sie sind willig, dem Pastor seine Gebühren zu geben.‘ Im Kreise seiner großen Familienschar verstarb er 1589. Sein genaues Sterbedatum ist nicht bekannt. Diese Zeilen verfasste Sir Francis Baren, Lord of Northbrook im Jahre 1800.“

„Amen!“ Der alte Herr faltet die Hände wie zum Gebet. Aber so ganz richtig stimmig vereinen sich die Finger nicht mehr miteinander. Seine Hände bewegt er nach oben, wobei die Fingerspitzen steil hoch gerichtet stehen. „Verdammt und zugenäht, das ewige Reißen in den Fingern! Es schaut ja so aus, als ob sie dem lieben Gott einen Stups verpassen wollten. Mich kannst du ruhig noch etwas vergessen!“, murmelt er nach dem Amen und ruft vorsichtshalber noch hinzu: „Hast Du’s auch wirklich gehört, lieber Gott? Ich habe nämlich hier unten noch einiges zu tun! Jetzt vor allem meinen Magen mit Deinen Köstlichkeiten füllen.“ Sein Blick gen Zimmerdecke streicht an seiner Schwägerin vorbei, die sich bekreuzigt und das wiederholt, was sie ihr gesamtes langes Leben getan hat, diesen Wunsch für die Verstorbenen auszusprechen, dass sie in Frieden ruhen mögen. Und wie inständig diese Bitte sein kann, wie sehr sie sich damals aus traurigsten Herzen nach oben quälen musste, das hatte sie bei Evels Tod erfahren müssen. Bettelnd hatte sie diese dem Allerhöchsten vorgetragen, um ja sicher zu gehen, dass sie bei Ihm auch Gehör findet.

„Adelaine, bitte reiche mir meinen Stock! Stütze mir bitte meine Arme! Ach, mein Gott, oder wäre es doch nicht besser, wenn … Alles ist so beschwerlich im hochbetagten Alter … Aber, nein, lieber Herrgott, es bleibt doch dabei, oder ….? Ich rieche schon den Wildschweinduft! Komm’ Adelaine, kommen Sie verehrte Schwägerin, es ist alles für uns bereitet, wie ich mit Freuden sehen darf!“

Mrs. Smith hält die Türe zum Esszimmer geöffnet und alle drei werden der Köstlichkeiten gewahr, die ihnen die vorzüglichen Hände der Frau Köchin zubereitet haben. Dieser Duft!

Die Rosenlady und der Sekretär

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