Читать книгу Die Rosenlady und der Sekretär - Christine Meiering - Страница 14

KAPITEL NEUN

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„Hier siehst du, Adelaine, das sind die Kinder vom Franz; ein in jeder Hinsicht fleißiger Mann – als da sind zehn Stück an der Zahl! Zwei Frauen waren an der Hervorbringung nicht unmaßgeblich beteiligt. Das hier ist die Magdalene und die zweite Frau hier hieß Margarita.“ Er zeigt dabei auf zwei rechteckige kleine schwarz umrandete Rechtecke. „Da stehen nun wie bei all den vielen anderen nur zwei Zahlen, manchmal ist aber nur ein Name angegeben, in zackigerer, weich, ästhetischer oder auch linkischer Weise verewigt, von unterschiedlichen Schreibern verfasst“, resümiert die aufgeweckte junge Dame, die das philosophische Nachsinnen wohl mit in die Wiege gelegt bekommen haben muss.

„Jede der unscheinbar wirkenden Figuren steht für ein Leben, wie lang oder kurz, wie sinnvoll oder auch unbedeutend es auch gewesen sein mag. Aber immerhin ist das Kästchen, in dem ein Kind, das mit wenigen Tagen, Wochen oder Monaten die Erde schon wieder verlassen musste, genauso groß wie die Tintenbilder, in denen ein langes Leben festgehalten wird. Mein Gott, besteht ein Menschenleben denn nur aus zwei waagerechten und zwei senkrechten Linien, die mal mit Kantel, mal mit freier Hand aufs Papier gebracht werden? Guck’ mal hier, da macht die schwarze Linie einen klitzekleinen Schwenker nach oben!“

„Ja, warum denn nicht?“, unterbricht der Großonkel das junge Mädchen. „Vielleicht war einem Vorfahren beim Schreiben, so auch wie bei mir eben gerade, der köstliche Geruch von Schweinebraten in die Nase geweht oder der Betreffende hatte zu tief ins Weinglas geguckt! Wer weiß das alles schon? Denen war auch nichts Menschliches fremd!“

Die alte Dame muss lächeln. Der kurzen Anmerkung, an die Adresse des Schwagers gerichtet: „Ach, ihr Männer immer … mit euren oft so unpassenden Kommentaren!“, folgt ein verständnisvoller Blick auf ihre Enkelin, die im gleichen Moment ihre Großmutter ins Visier nimmt und die Ohren dabei besonders spitzt, als diese sie in fürsorglichem Ton ins Gebet nimmt. „Mein liebes Kind, beachte bitte, was ich dir jetzt zu sagen habe! Ich spürte schon wenige Jahre, nachdem du unsere Erdenbühne betreten hattest, dass du mit einer besonderen Empfindlichkeit ausgestattet worden bist. So edel dieserart Veranlagung auch sein mag, so führt sie doch andererseits allzu leicht zur Melancholie. Ich weiß um diese Trübsinnigkeiten und ich habe nach besten Kräften versucht, diese Unglückshäher zu vertreiben. Sieh’ mal, diesen Blumenzauber hier …, dieser betörende Duft …, diese filigranen Blütenblätter …, sieh mal, diese hier, rosarot getupft sind sie, sind sie nicht himmlisch?“ Großmutter berührt voller Inbrunst ein einziges Blättchen, das sich in ihre Handfläche schmiegt. „Erlabe dich an der wunderbaren Natur, umgib dich mit geliebten Menschen. Und wenn du dann noch einen guten Draht nach oben pflegst, dann wird der Herrgott dir seine Aufgabe für dich zeigen, und zwar diejenige, die er auf Erden für dich vorgesehen hat, das dürfte dann der beste Schutz gegen das Eindringen der dich auflauernden Schwermut sein.“

„Ja, ja meine liebe Kleine, pass’ du mal tüchtig auf, dass du nicht eines Tages mal in einer Anstalt landest so wie die Maria! Die ist sogar …!“

„Schwager!“ Selten hat Adelaine ihre Großmutter bisher so entrüstet aufschreien gehört. „Gib endlich Ruhe! Hast du denn kein Herz im Leibe?“

„Liebe Schwägerin! Sei nicht so schlimm erbost! Ein junger Mensch muss gewarnt werden, denn du weißt es selbst, was die ganze Familie mitgemacht hat, als Maria in die Themse gegangen ist!“

„Nein, so nicht! Nein, so nicht! Du verängstigt die Kleine ja bis aufs Blut! Wo bleibt deine Einfühlungsgabe, oh du mein Gott?“

Adelaine schweigt und zeigt Verwirrung. Sie versteht weder Großmutter noch Großonkel. Er malt den Teufel an die Wand, einen ganz großen, aber Großmutter mischt mit einem Teufelchen, einem ziemlich kleinen, einem schwermütigen, ebenfalls mit, wenn sie meine Gefühlslage dramatisiert. Adelaine schweigt noch immer, aber die Frage wie: Bin ich schwermütig, wenn ich übers Leben nachsinne?, schwirrt in ihrem Kopf herum und sie nimmt sich vor, beim nächsten Mal, wenn sie mit Grandma alleine ist, ihre geheimsten Ängste zur Sprache zu bringen. Großonkels Unbesonnenheit kann sie dabei überhaupt nicht gebrauchen, nein, wirklich nicht, nie und nimmer!

„Adelaine, sieh mal hier!“ Der runzelige Finger, der mit dem Tatterich, tanzt zwischen zwei Tinten-Rechtecken hin und her. „Hier wird’s für uns eigentlich erst interessant! Ab hier spaltet sich der Familienzweig in eine englische und in eine deutsche Linie. – Großonkel, meinst du diesen Franz hier oder etwa diesen Menschen hier, mal ausnahmsweise einen Johann?“

Adelaine beobachtet, wie sein Finger zwischen beiden Namen hin- und herpendelt. „Du zeigst mal mehr hier, mal mehr dort hin. Dein Finger wackelt hin und her.“

Der alte Herr kann es schwerlich ertragen, wenn ihn ein Mensch auf irgendeine seiner Unzulänglichkeiten hinweist. Energisch greift er nach dem zierlichen Obstmesserchen, das Mrs. Smith den dreien samt einem Korb glänzender, rotbackiger Äpfel auf den Tisch gestellt hatte. Und genauso energisch stupst er mit der Messerklinge, der schmaleren goldbesetzten Seite auf den Namen: Johann. „Warte mal ab, junges Gör, wenn du mal in solch’ eine Lage kommen solltest, dass du deine Gliedmaßen nicht mehr unter vollständiger Beherrschung hast!“

Großmutter und Enkelin werfen sich vielsagende Blicke zu, ehe Adelaine ausruft: „Oh, seht mal hier …!“ Dabei zeigt sie auf die beiden Herren Franz und Johann. „Das ist aber seltsam. Betrachtet euch mal die Zahlen genauer! Bei dem einen steht 1697 als Todesdatum, bei dem anderen als Geburtsdatum.“

„Ja, du hast recht, der Vater Franz ist vier Wochen vor der Geburt seines Sohnes gestorben!“

„Mein Gott, wie traurig!“ Adelaine macht ein bekümmertes Gesicht, als der alte Herr ihr unsanft über den Mund fährt.

„So war das eben! Geburt und Tod waren eng miteinander verzahnt. Ihr seid heute eben viel zu sehr verweichlicht! Schreib’ es dir hinter die Ohren: Das Leben ist wahrlich kein Zuckerschlecken!“

Großmutters Blick zur Enkelin spricht Bände; Bände, die nur ihr sehr vertraute Menschen entziffern können. Sie sagt keinen Ton; ihre Erregung zeigt sich lediglich darin, dass sie ihren Apfel sehr fahrig behandelt. Anstatt mit liebevollen Augen in gleichmäßige Stücke geteilt zu werden, spürt der rotglänzende Jonathan kreuzweise liederliche Einschnitte in seinem Fleisch, wobei zornige Augen ihm entgegen funkeln.

Der alte Herr rutscht derweil in seinem Sessel ein Stück nach hinten und zieht genüsslich an seiner Pfeife: „Ja, manchmal kann Alter eben auch ein Vorteil sein! So verhinderte es, dass ich 1914 eingezogen worden bin. England hat den größten Fehler aller Zeiten gemacht, dass es mit ins grauenvolle Kriegsgetümmel eingestiegen ist.“

Adelaine weiß nur zu gut, dass das Stichwort ‚Krieg‘ einen nicht endenden Redeschwall beim Großonkel auszulösen imstande ist! Und sie reagiert sehr geistesgegenwärtig. „Onkel Jacob! Sieh hier! Dein Namensvetter hat seine Namensänderung vollzogen. Aus Johann wird John. Ein Deutscher wird zum Briten. Und Johns gibt es eine Menge bei unseren Altvorderen! Der erste Sohn eines Johns wird mit eben diesem Namen ausstaffiert!“

Oh, Thema Krieg – erfolgreich besiegt, Thema Sohn; offenbar eine erneute Bedrohung? Oh, wie konnte ich auch? Dass ihr ihre Unbekümmertheit nicht immer zum Segen gereicht, spürt sie beim Anblick des Gegenübers. Großonkels ‚Zipfel vom Paradies‘, so pflegt er sein Pfeifenstündchen meist schelmisch zu nennen, droht augenscheinlich mit Flugkraft ein finsteres Terrain anzusteuern, denn der würzige Pfeifenrauch verändert zusehends seine Beschaffenheit, so dass eine säuerliche Duftnote mehr und mehr den Raum erfüllt.

„Darf ich dir einen Ratschlag geben, Jacob? Übe dich weiterhin in Geduld mit deinem schwierigen Sohn, mein Schwager! Manches Kind entwickelt sich erst später. Pflege deine Zuversicht, dass auch das deinige, das widerspenstige Kind, eines Tages würdig in deine und in deiner Vorfahren Fußstapfen treten wird!“

Oh, manchmal ist Grandma doch ein wahrer Engel und nicht das winzigstes Teufelchen scheint in ihr verborgen, so wie ich es eben noch geglaubt habe. Wie oft hat Großmutter nicht schon eine brenzlige Situation retten können? Sie hebt ihren wenigstens einer Sorge enthobenen Kopf wieder hoch, als Großonkel sich erneut zum Stammbaum hinunterbeugt, um die Reihe von fünf Kästchen abzugrasen, von links nach rechts verfolgt er, diesmal mit seiner ledernen Griffelhülle, die Kinderschar seines Namensvetters, der mit Elizabeth, der Frau verheiratet war, die, das ging von Generation zu Generation weiter, eine Mitgift von sage und schreibe 20.000 Pfund mit in die Ehe gebracht haben soll.

„Ja, mein Kind, hättest du in dieser Zeit gelebt, du wärest auf Gedeih und Verderb von der Gunst deiner Eltern abhängig gewesen. Zwischen Eltern und zukünftigen Schwiegereltern wurde ein regelrechtes ökonomisches Tauziehen veranstaltet und die Ehe glich einem Artikel, der bestmöglich versteigert werden musste. Wohlunterrichtete Teezirkel der Damen höheren Geblüts fanden ihren Gefallen daran, mit ihrer Einbildungskraft der Reihe nach alle zur Verfügung stehenden Heiratskandidaten zu verkuppeln. Das artete in ein beliebtes Gesellschaftsspiel aus. Ja, mein Kind, das waren noch Zeiten …!“

Kaum, dass der alte Herr zum Luftholen kommt, unterbricht Adelaine seinen Wortschwall. Scharfsinnig zu sein, das ist ihr eine keineswegs in die Wiege gelegte Gabe, die sie nach Verlangen abrufen kann. Aber nun? Tauben, die auf Marktplätzen lästig fallen, versucht jeder zu vertreiben, doch Tauben, die einen Funken Heiligen Geist versprühen, sind ersehnte, himmlische Begleiter, die wie in unserem Falle, dem jungen Mädchen das richtige Wort zur rechten Zeit eingeben. Adelaine weiß nämlich um die gefährlichen Redeschlachten mit dem Großonkel, besonders auch, was das Thema ‚Heirat‘ betrifft. Das Unangenehme an der ganzen Angelegenheit ist, dass er dabei so gut wie immer als Sieger hervorgeht.

„Lieber Onkel Jacob“, etwas Possierliches zu sagen, das kann nie verkehrt sein, befindet sie dankbar, „… bereite mir bitte eine große Freude und erläutere mir diesen wunderbaren Stammbaum! Vier Söhne und nur eine Tochter!“, konstatiert Adelaine etwas verwundert, auf die fünf dicht nebeneinander stehenden Rechtecke tippend, sie zeigt sich insgeheim aber erleichtert darüber, dass sie selbst nicht mit vier Brüdern gesegnet worden war, wo ihr doch einer von der anstrengenden Sorte schon mehr als genügte. „Der eine von ihnen, war der nicht jener, welcher …?“

Lady Ethel murmelt etwas vor sich, so als habe sie Angst, das Unglaubliche laut auszusprechen, denn Ungehöriges zu erwähnen, ja, auch nur anzudeuten, das verbietet sich eigentlich in ihrem anständigen Haus … Ja, das Unvorstellbare wurde doch immer hinter vorgehaltener Hand meistens von Ohr zu Ohr über die Damen weitergereicht, und niemand wagte so recht, dieses gewisse ‚Es‘ über seine Lippen kommen zu lassen, das Unaussprechliche, aber in der Weise wie der weibliche Klatschmund sich dabei zu einem versteckten Grinsen verformte und wie dieses geheimnisumwitterte ‚Es‘ die Damen zu erregen schien, das spricht Grandma in diesem Moment doch tatsächlich aus.

„Ja, der eine von ihnen, der soll sich doch mit einem Mann abgegeben haben, das tuschelte man doch ständig, oder, welche Meinung hast du denn dazu, mein lieber Schwager?“

„Ich kann und will es mir einfach nicht vorstellen, dass in unserer hoch angesehenen Familie solcherart Abartigkeiten vorgekommen sind. Beruhige dich, Ethel, das sind Weibergeschichten mit Pikanterie und Effekthascherei!“ Für den Alten scheint damit dieses delikate Thema abgehakt zu sein.

„Ist schon seltsam, dass sich jemand so etwas nur eingebildet und weitergegeben haben soll. Das wäre ja schließlich Rufmord gewesen! Und vielleicht ist sein Freund doch nur ein guter Kamerad gewesen, mit dem er aus wirtschaftlichen Gründen zusammengelebt hat.“ Großmutter scheint von ihrem Schwager eine Reaktion zu erwarten.

Aber er behält sich eisernes Schweigen vor.

Adelaine fühlt sich sehr verunsichert, was sie von dem ganzen unappetitlichen Thema halten soll. Großmutter hätte es lieber in Zweisamkeit mit ihr zur Rede bringen sollen. Nur ganz schnell einen anderen Gesprächsfaden knüpfen, das junge Mädchen bietet seine ganze Kraft auf, dieses brisante Thema abzuschütteln: „Sieh mal hier, Onkel Jacob, dein Namensvetter Jacob und der übernächste der Herren, Charles mit Namen, ist mit einer schwungvollen Linie verbunden. Kannst du das entziffern, was dort in kaum lesbaren Ziffern vermerkt ist?“

Der Großonkel fährt mit seiner Stielbrille, auch Lorgnette genannt, die winzigen Buchstaben ab und erklärt nach kürzester Zeit sehr sicher: „Die beiden Brüder haben zusammen ein großes Bankhaus gegründet. Das war, wie hier steht, 1762 in London passiert. Bald schon galten sie als die wohlhabendsten Familien in West-Country. Aber verfolgen wir mal diese Linie hier weiter: Unser Zweig ist das hier!“ Und sogleich tanzt Großonkels Griffelhülle eine Reihe tiefer und vollführt dabei einen rechtsseitigen Knicks. Sein Gesicht scheint leicht errötet, nur die Schläfenadern plustern sich mächtig auf, die feuerroten geschlängelten Rinnsale signalisieren eine Erregung, die in Adelaine ein Gefühl der Bangigkeit entstehen lässt. Von der Gefahr, dass im Kopf Äderchen platzen können, hatte sie schon gehört, aber diese hier sind mächtigere Schicksalsgefährten, die … oh, nein! Nur nicht! Nicht jetzt! – Ob Großmutter nicht doch ein klitzekleines bisschen recht hat mit ihrer melancholischen Besorgtheit? – Nein und nochmals nein, solche Gedanken scheuche ich jetzt einfach weg! Aber, eine blutüberströmte Fast-Leiche in einem Landhaus inmitten einer Pampa, weit und breit ohne Doktor in greifbarer Nähe, ein rotfleckiges Obstmesser in der Hand, die Äpfel haben eine rote Schale, sowie zwei Damen, die in größter Bestürzung das Weite suchen, um Hilfe zu holen, wobei das Hilfesuchen durchaus als ein Flüchten verdächtig erscheinen könnte. All dieserart Phantasien lassen sich nicht, mir nichts dir nichts, aus einem Gehirn vertreiben.

Und jetzt wird Großonkels Stimme auch noch lauter; sie schwillt mächtig an, als er loszudonnern beginnt: „Ja, es waren alles furchtbare Idioten in der Geschäftswelt, die dem Francis das Leben schwergemacht haben. Mit Schurken und Narren zurechtkommen zu müssen, das musste für ihn höchst aufreibend gewesen sein. Als solche hat er diese Männer nämlich selbst bezeichnet. Wir wissen das von unserem Vater, der das schließlich über seinen Großvater erfahren haben soll. Und der Francis muss auch ein höchst erregbarer Mann gewesen sein, einer, der bei Auseinandersetzungen blutrot angelaufen ist. Als sein Verdienst kann es gelten, dass er neben vielen anderen Leistungen auch Handelsstationen in Vorderindien gegründet hat! Aber dass er sich seinen Erfolg unter, zum Teil sehr erniedrigenden Umständen, erkämpfen musste, das ist zu Herzen gehend, das ist richtig bedauernswert.“

Die beiden Damen schweigen. Adelaine beobachtet intensiv, wie sich Großonkels Rinnsale kaum merklich verändern und muss feststellen: Ja, ja, der Apfel fällt nicht weit vom Stamm. Gleichzeitig schlägt sie ihren Zeigefinger fest auf ihren Mund, um ihm einen Riegel vorzuschieben, damit auch ja nicht der kleinste Wortfetzen daraus entfleuchen kann.

„Aber Schwager Jacob!“ Dame Ethel krault Kätzchen Käthe hinterm Ohr. Das schmusebedürftige Tier schmiegt sich behaglich an sein Frauchen. Jetzt bahnt sich etwas an, mag das ahnungslose kleine Wesen denken, gehen wir mal todesmutig davon aus, dass eine Miezekatze dazu in der Lage ist, ihren Erfahrungsschatz konditionieren zu lernen. Frauchens holt so tief Luft, dass sie glaubt, gleich vom Schoß fallen zu müssen. Aber im Schutz fürsorglicher Hände fühlt sie sich dennoch geborgen. Wenn nur Frauchens Herz nicht so toll bibbern würde, das gefällt Käthchen gar nicht und sie ahnt, dass Frauchen sogleich ihr Herz erleichtern wird.

Und dann purzeln, wie erwartet, die Worte nur so aus ihr heraus: „Der Erfolg ist zumeist auf steinigen Wegen zu erlangen, mein Schwager Jacob! Wie heißt es so treffend: Der Erfolg wird immer auf Schlachtfeldern erzielt! Ich bin nur zutiefst erzürnt darüber, dass du mit deinem Bruder Evel keinerlei Mitleid empfunden hast, damals als er sich in seiner Stellung äußerst bloßgestellt und gedemütigt gefühlt hat!“

Bum – Bum – Bum – Bum macht das Frauchen – Herz laut vernehmbar und Kätzchen Käthe empfindet jeden einzelnen Schlag wie einen Stromstoß, der durch seinen kleinen Körper flutet. Wie beruhigend für aufgewühlte Menschen und Katzenseelen, wenn Gestreicheltwerden und Streichelndürfen Besänftigung bringen. Schwager Jacob verstummt und pustet seinen Pfeifenrauch länger als gewöhnlich aus, ehe er sich seinem Shakespeare zuwendet, äußerst gebannt, wie es scheint, denn er achtet in keinerlei Weise darauf, dass Adelaine ihren elastischen Körper hin und her windet, so, als ob Brennnesseln unter ihrem Hinterteil ihr Unwesen trieben.

Anscheinend ruhig beugt sie sich über den Stammbaum, lässt ihre Finger über die unteren Gefilde des Blattes gleiten, ehe sie sich mit beherrschter Stimme der alten Dame zuwendet: „Großmutter, dort unten, das zweite Kästchen von links, das dürfte meines sein. Sieh’ hier, bei Adelaine ist zwar das e nach dem d verloren gegangen, aber das macht doch nichts, oder? Ich weiß doch, wer gemeint ist. Mein besonderer Name ist sicher in der Familienchronik bisher noch nie aufgetaucht, so vermute ich es mal!“ Adelaine verstummt, ehe sie sich ihrer Großmutter wieder persönlich zuwendet und ihr etwas zuflüstert, das, wie es scheint, nur für ihre Ohren bestimmt ist: „Geboren am 1.1.1905! Mama hat mir immer erzählt, dass ich ein verspäteter Silvesterknaller sei.“

„Ja, sie hat recht, du hast mit deinem Erscheinen das neue Jahr eingeläutet; fünf Minuten nach dem Ende des Glockengeläutes bist du auf der Bildfläche erschienen!“ Großmutter strahlt dabei wie die mittägliche Sonne: „Über alle Maße haben wir uns über deine Ankunft gefreut. Und du winziges Bündel Mensch hast mich schließlich zur Großmutter gemacht. Zu einer sehr stolzen obendrein! Wie wunderbar!“

„Grandma! …“ Adelaine stockt beim Weitersprechen. Und Großmutter spürt wehmütig, dass eigene Freudenstrahlen nicht immer auf entflammende Herzensgründe anderer treffen. „Grandma! …“

Adelaine holt tief Luft, ehe sie ihren Gedanken freie Bahn gestattet: „Ich würde ja so gerne mal Mäuschen spielen und wissen wollen, welches Datum hier dereinst an der zweiten Stelle stehen wird! Das klingt zwar neugierig, das weiß ich wohl! Aber ist der Mensch seit Anbeginn der Welt nicht schon immer von Neugier getrieben? Es ist der Grenzbereich von Neugier und Erschauern, mit dem er nur allzu gerne jongliert.“

„Adelaine, meine Kleine, natürlich weiß ich um das Vorrecht der Jugend, in unbekannte Welten vorzustoßen. Lass’ es dir von einer alten Dame wie deiner Großmutter jedoch gesagt sein, dass der Herrgott es sehr weise eingerichtet hat, die menschliche unvollkommene Sicht auf die Zukunft im Dunkeln zu halten. Zukunftspläne dürfen wir zwar machen, deren Treffsicherheit liegt jedoch nicht allein in unseren Händen.“

Adelaine nickt ihrer Großmutter zu; mit einer vagen zustimmenden Kopfbewegung, die ihr Gegenüber äußerst gezügelt erreicht, ehe sie mit dem Finger auf ein kleines, ihr vorbehaltenes Stammbaumfeld tippt. Diese besagte Stelle wird wohl noch eine Weile vor Leere gähnen, hoffentlich, so geht es ihr durch den Kopf, ehe ihr ein hoffnungsvoller Gedanke Auftrieb gibt. Und weil sie in gewissen Situationen Worte liebt, die wie Sprudelwasser vor sich hin glucksen, erhebt sie ihre Stimme in eine hohe Lage: „Tja, Ehemann und Kinder müssten hier eng zusammenrücken, wie ich sehe, bei diesem Platzmangel, die Ärmsten! Ich darf mir allerdings keinen Mann mit ‚von und zu‘ auswählen und muss für meine Kinderchen kurze und knappe Namen wählen. Am besten nur Bens oder Mias!“

Adelaine räuspert sich, ihre Stimme entschwebt wie ein Schmetterling in geheimnisvolle Weite.

„Das heißt wir, mein Mann und ich, die wir uns auf immer und ewig miteinander verbandeln werden!“ Sie lächelt geheimnisvoll, während sie dabei auf die leere Stelle unter ihrem Namen zeigt.

„Aber, Großmutter! …“ In Adelaines Stimme schleicht sich ein Mollton ein, der ihre gute Stimmung schlagartig dämpft. „Grandma, vielleicht muss ich ja auch alleine durchs Leben wandeln. Männer werden zu oft von Kriegen dahingerafft. Wir leben in aufregenden Zeiten. Die Vormachtstellung der Deutschen macht unseren Leuten Angst. Sind wir mit unseren deutschen Vorfahren da nicht in einem Zwiespalt?“ Adelaine betrachtet die Großmutter mit kummervollen Augen, sie spürt, dass diese ein Schweigen vorzieht, ehe sie weiter spricht: „Grandma, wir sollten uns nicht schon vorher … Wie heißt es so schön: Angst ist ein schlechter Ratgeber! Aber du hast mal wieder recht, meine lebenserfahrene Großmutter, Schreckliches auf uns Zukommendes sollte für uns Menschen besser im Ungewissen bleiben. Oh, Großmutter, nie und nimmer möge es über uns hereinbrechen, aber …“ Ihr Herz, zentnerweise mit Molltönen beschwert, sehnt sich nach Trost, das spürt die feinfühlige alte Dame, denn wie sonst sollte ihre Enkelin so plötzlich aufspringen und sie so fest an sich drücken wollen? Nur darf sie dabei nicht zu ungestüm ans Werk gehen, denn Kätzchen Käthe möchte keinesfalls von seiner angestammten Stelle weggedrängt werden, denn dieses, ihr Katzenliebling, ist eben ein eifersüchtiges Tierlein. Mit Erleichterung stellt sie fest, dass Adelaine die eine Hand von ihrer Schulter wegzieht, um Käthe auch ein zärtliches Kille-Kille verpassen zu können.

Und das Tierchen scheint die Liebestat durchaus zu würdigen, denn sie schnurrt noch behaglicher als zuvor, während sein Frauchen die stürmische Enkelin lauthals lachend ermahnt: „Aber, sachte, sachte, mein Fräulein, ich möchte noch ein bisschen leben! Alles, was Großvater lieb und teuer gewesen ist, das muss ich noch sichten, das habe ich ihm schließlich hoch und heilig versprochen. Dann erst kann ich mich auf meine große Reise zum ewigen Wiedersehen begeben!“

„Oh, Grandma! Nein, nimm’ dir dafür um Gottes Willen alle Zeit der Welt!“ Adelaine hält plötzlich inne, um auf die Ziffern der Standuhr zu blicken, worauf ihr Körper von einem Kribbeln durchzogen wird. „Es drängt mich, meine Festtagsgarderobe, das ‚Ihr-Werdet-schon-sehen-Kostüm‘, anzulegen! Zehn Minuten vor sieben! Entschuldigt mich bitte!“ Mit einem flüchtigen Blick auf die Standuhr und ein kurzes Inaugenscheinnehmen der beiden Alten verlässt sie tänzelnd mit wippenden Rockschößen den Raum, ehe die schwere Eichentür hinter ihr ins Schloss fällt, die ewig knarrende, den Enkeln seit jeher vertraut wie das Quietschen der Holzbalken in der Diele. Ein Geräusch, das sogar vor Shakespeare-Freuden des Alten nicht Halt macht.

„Wie?“ Der erstaunte Ruf des Schwagers zieht pfeifenrauchgeschwängert durch den Raum bis er sich in dem „Wo? und Was?“ der Gräfinnen Worte fängt, ehe Lady Ethel, sich eine graue, verschwitzte Lockensträhne aus der Stirn streichend, ein gedehntes „Ach, ja …!“ ausstößt.

Adelaine ist ja eingeladen! Wie konnte ich das vergessen! Bei Sir Miller nebenan! Geburtstagsparty bei Sohn Ronald! Anständige Herrschaften! Kein Grund, sich zu ängstigen!

Schwager setzt sein Pfeifendampfgrinsen auf, das breit und von bedächtiger Natur ist. „Nun, meine Alte, jetzt müssen wir miteinander vorlieb nehmen!“ Die schwägerliche Schulter tätschelnd, zischt er: „Die hier war auch schon einmal besser gepolstert. Es wird Zeit, dass du wieder Fett an den Rippen ansetzt! Wo nur bleiben die gebackenen Austern? Oh, ich kann schon das Klimpern vom Essgerät vernehmen!“

„Mein lieber verhungernder Schwager! Ich habe da mal eine Frage jenseits von Austern und Entenbraten. Was meinst du? Die ganze weibliche Gelehrsamkeit! Wo soll sie bloß hinführen? Sicher nicht unter die Haube!“

Der Angesprochene nickt für einen Tattergreis sehr beachtlich. „Da magst du ja recht haben! Aber jetzt lass’ uns zunächst genüsslich speisen, ehe wir uns schwer im Magen liegenden Themen zuwenden! Auf leerem Magen sich diese einzuverleiben, wäre höchst töricht und unbekömmlich! Und danach heißt es ja unwiderruflich: Abschied nehmen!“ Der Schwager zieht sich auf die Tischplatte gestützt hoch, äußerst gemächlich, seine Knochen, Gelenke und all jenes mühsam sortierend, was einen alternden Rücken mehr schlecht als recht noch zusammenkittet.

Lady Esther stützt sich mit beiden Armen auf dem Tisch ab, den Kopf weit nach unten gebogen, um dann im Schneckentempo Wirbel für Wirbel hoch zu strecken bis zu diesem berühmten ‚Geht-nicht-mehr-Punkt‘, jener Körperstelle, auf die sie oft zeigt, diejenige, die nicht so will, wie sie es will.

„Dieser Höcker hier ist mein Hexenbuckel, solch ein Geselle ziemt sich doch einer feinen Dame nicht!“, so hat sie ihre Enkelin wissen lassen und dabei hörbar gestöhnt.

Doch schließlich schleichen sich die beiden Alten Zentimeter um Zentimeter ins verheißungsvolle Schlemmerparadies. Großonkel hantiert gerade mit Messer und Gabel und kämpft seinen Kampf mit einer widerspenstigen Auster, die bei jeder geringsten Berührung der Schneideklinge einen Sprung seit-, vor- oder rückwärts machen will, als sich ihm plötzlich eine zarte, junge Hand entgegenstreckt und Worte wie ‚Adieu, lieber Onkel!‘ an sein Ohr dringen.

„Eins nach dem andern!“, gebietet er kurz und knapp. Ohne auch nur den geringsten Blick auf die eingetretene Person mit der Sing-Sang-Stimme zu werfen, nimmt ihn der Austernkampf dermaßen in Beschlag, dass um ihn herum die Welt untergehen könnte, ohne dass er es bemerken würde.

„Ach, du meine Güte! Wagt es ein so widerspenstiges Knusperteufelchen doch tatsächlich, anstatt auf meine dafür vorgesehene Serviette auf das gute Tischlaken zu springen!“ Großmutter und der Schmetterling in Menschengestalt, gerade hereingeschwebt, schauen auf, blicken amüsiert auf den Austernkampf bis sich ihre Blicke treffen und Großmutter in neckenderweise etwas zum Besten gibt, das ihr als Relikt der Kinderzeit gerade bei Adelaines Anblick so in den Sinn fliegt: „Schmetterling, Flatterfalter, spiel’ im Sonnenlicht, eh vergeht das Abendrot, bist du doch schon kalt und tot!“

Großmutter zupft flugs am luftigen Ärmel des hellblauen Spitzenkleides ihres Schmetterlings, schon summt sie das alte Kinderlied vor sich hin und blickt mit schwärmerischen Augen der tänzerischen Gestalt entgegen, als sie plötzlich die harte Realität wieder einholt, und – sie erschrickt bei diesem Fund – sie erkennen muss, dass die Wirklichkeit in Gestalt eines ausgedehnten Fettfleckes sich des wertvollen Dutzend-Teiles bemächtigt hat. „Aber, das ist doch keine Katastrophe, Jacob!“, spricht ihr Mund, aber Adelaine, das hellblaue Schmetterlingswesen, blickt tiefer als alle anderen direkt in Großmutters Herz hinein. Und dort vermutet sie, dass sich gerade sämtliche Adern verkrampfen, denn die große Familienschar weiß seit Urzeiten, dass jeder noch so kleine Fleck für Großmutter eine riesige Tragödie bedeutet. Immerhin sollte jedes Dutzendteil vor dem Angesicht aller lupenrein erleuchten. Jetzt bleibt sie nicht bei der Wahrheit, meine geliebte Grandma, diese gottesfürchtige Frau! Aber eine fromme Lüge, die aus Rücksichtnahme geboren ist, darf doch wohl auch sein! Adelaine lächelt über ihre Gedanken, die festverschlossen in ihrem Herzenskämmerlein eingeschlossen bleiben. So schnell wie das Schmetterlingswesen in den Raum geschwebt war, so rasch flattert es wieder fort, nicht ohne zuvor Großmutters Wange und den Arm des Onkels liebevoll getätschelt zu haben.

Onkel Jacob schweigt, gänzlich versunken, mit der Serviettenecke den Schandfleck zu vertilgen.

„Ach, lass nur, Jacob!“ Lady Esther winkt kurz ab. In weiser Voraussicht hat sie sich gar nicht erst auf einen spritzigen Austernkampf eingelassen. Stattdessen greift sie mit elegantem Griff zu einem der attraktiven Schinken-Canapés, Schinkenröllchen in ein Salatblättchen gehüllt, auf einer Remouladenrosette thronend, das sie schon die ganze Zeit über angelacht hat. Bevor sich dieserart Genüsse ihrer ganz bemächtigen können, zieht sich ihre Seele erst einmal zurück, in eine Sphäre, die ihre ureigene ist und die sie so gut sie es eben kann von der Außenwelt abzuschirmen versucht.

„Oh, du mein geliebter Schmetterling, meine Augenweide, sanft wehtest du wie ein Windhauch durch diesen Raum! Möge die Leichtigkeit eines Schmetterlings dich durch dein weiteres Leben tragen!“

Großmutter beginnt sich aus ihrem Sessel zu erheben, nachdem sie Zwiesprache mit ihrem ganz und gar menschlichen Schmetterlingsliebling gehalten hat, der sie genauso flugs wie er eingeflogen war, schon wieder verlassen hat, und jetzt bewegt sie sich wie von unsichtbarer Hand gezogen zum geöffneten Fenster hin, allein von dem Wunsch beseelt, die Frische der Abendluft einatmen zu dürfen. Sie tut dieses, sicherlich auch von der Hoffnung getragen, einen letzten Blick auf einen der Bläulinge werfen zu können, die sich als Tagfalter allzu gern auf den grünen Blättern niederlassen. Am Fenster stehend, stützt sie sich mit beiden Händen am Fenstersims ab und versucht mit einem Ruck weiter nach unten zu ihrer rankenden Rosenhecke herunterzureichen, lediglich in der Hoffnung, einen sich Nektar saugenden Schmetterling zu Gemüte führen zu können. Wäre da nicht der feste Halt durch zwei starke Hände, der männliche Ruf: ‚Pass’ auf!‘, sowie das mit Rosemarin getränkte Tüchlein einer weiblichen Hand gewesen, die ihre Schläfen sanft kreisend berührte, die alte Lady wäre, wie schon so oft, aus ihrem Schwindel vermutlich in eine kurze Ohnmacht gestürzt. Dieses Unglück verhinderte letztlich die gute Fee in Gestalt einer Mrs. Smith, die, die ihr Anvertraute, noch rechtzeitig aufgefangen und sie fürsorglich zu ihrem Sessel zurückgeleitet hat.

In Lady Ester erwachen sehr schnell die Lebensgeister wieder, so rasch, dass ihr das Schinken-Canapé förmlich in den Mund springt. Fleißige Kaubewegungen frischen ihr Gedächtnis zusehends auf, so dass frühere Schmetterlingserinnerungen an die Oberfläche gelangen können. Sie lächelt und wer sich ein Lächeln mit vollem Munde vorstellen kann, der wird sich ausmalen dürfen, wie sich ihre Miene grinsend verzieht und diese Mundakrobatik somit einer feinen Dame das Antlitz einer ziemlich gewöhnlichen Person verpasst.

Ihr Schwager, vor Schreck allen Austernkampfes entledigt, betrachtet die alte Dame mit sichtlichem Vergnügen und kann nicht umhin, eine spöttische Bemerkung zu machen. „Verehrte Frau Schwägerin! Da haben Sie bereits ein gesegnetes Alter erreicht, viel Lebenserfahrung gewonnen und so manche Tücke gemeistert, aber das Lächeln mit Schinkenröllchen im Munde, das gilt es durchaus noch zu erproben. Passen Sie auf, nach der Austernspritzgefahr droht jetzt die Schinkenspritzgefahr! Armes Tischlaken, möchte ich da bemitleidend ausrufen!“

Die alte Dame leert wie ein braves Kind zunächst ihren Mund, denn das hat sie mit der Muttermilch aufgesogen: Mit vollem Munde spricht man nicht!, ehe sich ihre Augen verklären und sich ihre ganz persönlichen Schmetterlingserinnerungen Bahn brechen können. Weitaus lieber wäre ihr jetzt ein weibliches Gegenüber, eines mit Sinn für Romantik, das eigene luftige Jungmädchenträume erinnern würde. Aber ein Mann bleibt eben ein Mann, der für solche Sperenzchen gewöhnlich nicht mehr als ein Lächeln übrig hat, ob mit oder ohne Austern oder Schinkenröllchen im Mund.

Also beschließt sie, ihre Erinnerung als Selbstgespräch aufzufrischen: „Ja, ich war damals im zarten Alter von vielleicht siebzehn Jahren. Mein erster Ball, wie aufregend! Unsere Hausschneiderin hatte ihr Glanzstück, einen dunkelblauen Reifrock, über und über mit glitzernden Pompons dekoriert. Meine Bluse, in leuchtendem schimmerndem Blau, eine schwarze Bordüre mit weißen Punkten zierte den Ärmelbund. Und aus dem gleichen Stoff trug ich ein Haarband, zur Bändigung meiner wilden Locken, die ich überhaupt nicht unter Kontrolle bringen konnte. Ich höre noch genau diesen rhythmischen Singsang der metallenen Absätze, die beim Hinuntersteigen der Treppenstufen eine gläserne Musik erzeugten. Dazu das verheißungsvolle Rascheln des Reifrocks, wie er in dem engen Korridor rechts und links das Geländer streifte. Und unten wäre ich bald meinem Traumprinzen in die Arme gefallen, als wie der blondgelockte Jüngling mit den blauen Augen mir damals erschien, oh, man bedenke, wie höchst unschicklich zu jener Zeit, wenn ich mich nicht noch in letzter Minute an dem Geländer festgekrallt hätte. Dieser Blondschopf im dunkelblauen Rock und einem farblich harmonierenden Beinkleid, er hielt in den festverkrampften Händen doch tatsächlich die Blume aller Blumen, eine rote Rose, in der Hand. Ob er damals schon um meine Rosenverrücktheit wusste? Oder, ob der Jüngling meine Rosenleidenschaft erst erwirkte? Jedenfalls berührte er meinen rechten aufgeplusterten Ärmel, als er mir recht ungelenk die Blume in die Hand drückte und ein Kompliment stammelte: Gnädige Dame, Sie erinnern mich an einen Schmetterling! Und dabei …“, jetzt fängt ihr männliches Gegenüber, das wider Erwarten – Oh, Wunder! – ganz aufmerksam gelauscht hatte, an, Töne von sich zu geben, unziemliche, eher einer gurrenden Henne als einem gelehrigem alten Herrn zuzuordnen.

„Und dabei wurde sein Gesicht sicher rot wie eine Tomate!“, tut er der lächelnden Schwägerin kund.

„Und woher weißt du das?“, will sie von ihm wissen. „Und überhaupt habe ich doch nur vor mich hingemurmelt!“ Lady Ethel schüttelt ungläubig ihr weißes Haupt.

„Nun, ja, wenn du deine Herzensdinge auch so rezitierst wie eine Erzählerin, die um Aufmerksamkeit buhlt, dann wundere dich bitte nicht, wenn … Und übrigens hätte ich durchaus auch jener junge Mann sein können!“

„Hm! Du? Hm! Du? Und …? Dann wärest du ein rechter Verwandlungskünstler gewesen!“ Der Mund, der Erstaunen signalisiert, schließt und öffnet sich wieder und erinnert an mundgymnastische Übungen. Das weißlockige Haupt mit dem Haarkrönchen drauf, es wackelt dabei hin und her. Es wackelt auch noch, als die alte Dame gar nicht mehr wackeln will. „Manchmal hört der greise Körper einfach nicht mehr so auf mich, wie er es sollte!“

„Mein Tatterich, dein Tatterich, unser Tatterich, warum sollte es dir besser ergehen als mir?“

Lady Ethel nimmt den schwägerlichen Ball nicht auf. Ihre Hauptgedanken sind und bleiben Rosenkavaliersgedanken. „Und so tollpatschig wie der auftrat! Oh, du mein Gott? …“

„Was willst du damit sagen, erst recht, wenn du mich dabei so irritierend anstarrst?“ Wenn Tatteriche Ansteckungscharakter aufweisen, dann ist Gefahr im Verzug. Der Herr droht zu explodieren. Seine zwei Schneidezähne, einsame Überbleibsel eines einst wackeren Kauapparates, beißen sich auf seine spröden Lippen, nicht ein einziges Mal sondern im rhythmischen Gleichklang mit dem Kopftatterich. Seine Augen funkeln. „Die beleidigten Leberwürste von den verweichlichten Damen heutzutage, die sind unserem Menschengeschlecht unwürdig. Die Erziehung der jungen Dinger lässt sehr zu wünschen übrig! Beherrschtes Benehmen lernen ist unerlässlich!“

Jetzt wird sie schäumen, vermutet der Streitwillige, wohl wissend um eine immer wieder erfahrene Ruhe vor dem Sturm, die für ihn zweifellos eine empfundene Hilflosigkeit offenbart, ehe sie anschließend zum Schwadronieren ausholt und dabei wirsche Handbewegungen ausführt, so als ob sie gefahrvolle Ungeheuer mit Macht vertreiben wolle. Aber statt der erwarteten Böe weht lediglich eine sanfte Brise durch den Raum. Mit aller Kraft hatte sie sich dazu zwingen müssen, diese Äußerungen nicht allzu nahe an sich herankommen zu lassen. Schließlich kennt sie die Herren der Schöpfung und diesen hier, ihren Pappenheimer, besonders gut. Ein tiefer Seufzer durchfährt sie, als sie sich und dem Schwager etwas einzugestehen traut, was ihr alles andere als leicht fallen muss.

„Ja, wenn ich es mir recht überlege, dann kann ich jetzt selbst als eine erwachsene Frau meine damalige seelische Beschaffenheit im Jungmädchenalter nicht mehr nachvollziehen! Es ist eine schwierige Zeit, die auch Backfisch- oder Halbseidenes-Alter genannt wird! Und wie sollte sich ein männliches Wesen je dort hinein versetzen können?“ Nichtgeachtet dessen fährt sie fort, ihre ‚Reifrock-Treppen-Erste-Ball-Erfahrungen weiterzugeben, vielleicht in der Hoffnung, dass sie die emotionale Überlegenheit ihres weiblichen Geschlechts gegenüber den gefühlloseren Männern zum Ausdruck bringen müsse. „Jacob, das Schmetterlingskompliment ließ mich damals in den siebenten Himmel fliegen, das, was danach folgte, ließ mich aber ebenso schnell wieder auf die Erde plumpsen. Nicht, dass mir der Bub Böses gesagt hätte, oh Gott, nein, aber in der Hoffnung auf ein schmachtendes ‚Du bist mein Augenstern!‚ brachte er es fertig, mir eine Schmetterlingslitanei zu halten, die in etwa so klang: ‚Wie ein morpho peleides!‚ … als er das sagte, tippte er auf meinen Schmetterlingsärmel. ‚Sein Vorkommen: Wälder Mexikos, Südamerika, westindische Inseln‚ und danach schoss aus ihm ein Redeschwall hervor, der mich schmerzhaft auf den Boden der Realität plumpsen ließ, einer Wirklichkeit, in der ich nur als ein winziger unscheinbarer, wissenschaftlich zu begründender Punkt auf einem herrlichen Flatterwesen sein durfte. Und seinen Blick auf meine Schmetterlingsbluse gewandt, machte er mir zu allem Überfluss auch noch ein riesiges Kompliment: ‚Traurig müsstest du sein, wenn ich dich als rostbraunen Dickkopffalter bezeichnet hätte. Glaube es mir, den gibt es tatsächlich! Interessierst du dich nicht für Schmetterlinge?‘, fragte er ungläubig, als er sah, wie meine Kinnlade herunterklappte. Und dabei hatte ich mich für ihn so schön gemacht!“ Der Schwager hört wortlos den Ausführungen zu, ehe er zu bedenken gibt, dass er an ihrer Stelle Spaß an einem so wissbegierigen jungen Mann gehabt hätte. „Später ist der Schmetterlingsfan sicher Professor für Schmetterlingskunde geworden! Aber du hast ja auch keine schlechte Partie mit deinem Evel gemacht!“

„Gestatten, meine Herrschaften! Der Chauffeur ist gerade vorgefahren!“ Mrs. Smith steht in der Tür, die Hände voll bepackt mit Herrenmantel, Zylinder und Regenschirm! Das gewöhnliche Wink-Ritual, der beschwerliche Gang zum Sessel, das Falten der Hände, der Blick nach oben und der wie immer sich beim Abschied einstellende tiefe Seufzer, verbunden mit der von ihm feierlich rezitierten Lebensweisheit ‚Alles hat seinen Preis, nur der Tod ist umsonst!‘, lässt sie geduldig wortlos über sich ergehen, wobei sie plötzlich ein starkes Verlangen nach der himmlischen Gemeinschaft mit ihrem Evel verspürt; fernab der anstrengenden buckligen Verwandtschaft; sie lächelt bei diesem Wunsch: Dabei habe ich selbst einen Buckel! Sogar einen viel buckligeren als Schwager Jacob ihn sein eigen nennt!

„Und trotzdem, Herrgott, du siehst alles, du hörst alles, nichts bleibt dir verborgen! Du schickst uns manches Mal richtige Störenfriede ins Haus. Und dann, lieber Herrgott, müssen wir kämpfen und fühlen uns von dir oft ziemlich allein gelassen. Aber heute beim Abendbrot habe ich doch Deine Güte erfahren dürfen, denn mein Herz hier …“, und während ihrer Worte streicht sie über die füllige Brust, in einem hochgeschlossenen Samtkleid versteckt, „… das brodelte dermaßen vor Wut bei Schwagers Worten, dass ich am liebsten …“ Jetzt macht sie dabei eine Bewegung, die an ein ‚In-die-Mangel-nehmen‘ erinnert. „… Aber, du hast mir in diesem kritischen Moment Ausgewogenheit geschenkt. Dankeschön!“ Und nach einem kurzen Moment des Innehaltens führt sie ein inwendiges Gespräch mit einem anderen lieben Menschen: „Adelaine, wie freue ich mich, dass ich dich noch drei Tage lang ganz allein unter meine Fittiche nehmen darf – und danach …“, sie holt dabei tief Luft, „und danach habe ich nur noch dich, meine liebe kleine Käthe.“ Das Tierchen hatte die Trostbedürftigkeit seines Frauchens gespürt und ihren Lieblingsplatz aufgesucht, die schmale Kuhle zwischen den Beinen der Lady, auch wenn es dort ein bisschen staksig ist. „Und die Rosen sind auch bald verblüht, wie traurig!“, sind die letzten Sesselworte, ehe sie von einem Nickerchen übermannt wird. Erstaunlich, wie schnell aus einem Nicken ein Nickerchen wird.

Die Rosenlady und der Sekretär

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