Читать книгу Die Rosenlady und der Sekretär - Christine Meiering - Страница 13

KAPITEL ACHT

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„Ethel, Mamas Quittengelee schmeckte irgendwie runder! Und Marys auch! Sie hat nämlich das Rezept ihrer Mutter mit in unsere Ehe gebracht! Und das mundete genauso gut wie dasjenige unserer Mutter!“

Bums, das saß aber!

Adelaine spürt wie Großmutters Buckel noch etwas mehr in sich zusammensackt. „Grandma, höre bitte, ich prämiere dein Gelee als das Allerbeste, was ich je genossen habe!“ Die Enkelin streckt ihre Hand aus, führt sie gemächlich über den Großmutter-Buckel und spürt bei ihrer Berührung wie die Schulterblätter ein wenig pieken. Ihr Rücken hat schon bessere Zeiten erleben dürfen. Stark wie eine Eiche! Es war einmal, so fangen alle Märchen einmal an! Adelaine spinnt ein Gedankennetz: Mit Großmutter im Garten Fangen spielen, als Huckepack auf ihrem strammen Rücken durch Feld und Wald laufen, gegen ihren warmen Körper gepresst, auf Großmutters Schoß ‚Hoppereiter-Schaukeln‘ und ihren kuscheligen Bauch dabei spüren, all das war so wunderschön und ist unwiederbringlich! Aber auch wenn ihr Rücken runder und runder wird – so zeigt sie durchaus noch Rückgrat, gerade so wie in alten Zeiten! Haltung beweisen, wenn es hart auf hart kommt, wenn es darum geht, Prinzipien zu verteidigen … ja, dabei ist sie ganz die Alte – ihre verehrte Grandma! Adelaine zuckt sekundenlang zusammen. Ach, ja, … jetzt, heute ist es auch schön, anders schön! Ich sollte doch nicht …, ich sollte das Gedankenkarussell stoppen!

„Meine Grandma! Meine liebste Grandma!“ Und frisch und forsch wie ein junges Erdenwesen es sich noch erlauben darf, auch wenn es gewissen Kreisen nicht schicklich erscheint, so befreit sie sich jetzt von jeglichen konventionellen Zwängen, springt auf, um einen herzhaften Schmatzer auf Großmutters Stirn zu drücken, genau dorthin, wo sich jetzt Schweißrinnsale gebildet haben. Großmutter transpiriert mehr als früher, das vertraute sie einigen Wenigen in einer stillen Stunde einmal an. Und Schwagers Despektierlichkeit wirkt sicher nicht gerade schweißtötend, vermutet das junge Mädchen, das daraufhin eine großmütterliche Verwandlung erleben darf: Die alte Dame lächelt und die junge Dame merkt, wie sich ihr Rücken mehr und mehr wieder hebt, soweit dies einem Buckel, der in die Jahre gekommen ist, noch möglich ist.

„Über unseren Urvater Franz etwas zu erfahren …, wieder etwas zu hören“, verbessert sie sich „… das ist aufregend für mich und wunderbar, auch wenn er wahrlich kein leichtes Leben gehabt hat. Ich stelle mir dann immer vor, wie die hochwürdigen Theologen vor ihre Gemeinde getreten sind: Mit langem wehenden Talar, mit einer so eng in Rüschen gefassten Halsbekleidung, dass man Angst bekommen musste, dass den Geistlichen die Luft zum Atmen genommen wird. Auf dem Kopf des Reformators Luther – das habe ich auf einem Bild so gesehen – da thronte solch’ ein großer schwarzer Hut, der so aussah, als ob der hohe geistliche Herr schon allerhand Kopfnüsse über sich hatte ergehen lassen müssen, denn der Hut wirkte oben herum sehr eingequetscht. Ja, mir gefällt es, dass unser Vorfahre absolut kein Draufgänger gewesen ist. Bei all den elendiglichen Zuständen in der Pfarrgemeinde und beim Adel wäre ich sicher nur zu gerne mit Pauken und Trompeten gegen die Missstände vorgegangen, aber Franz vertrat seine Meinung zwar vehement, er war jedoch höchst besonnen stets um Ausgleich maßloser Überzeugungen bemüht geblieben. Meine Hochachtung!“

„Mein Mädchen, ja, da siehst du, dass Vernunft und Einsicht die Männer unserer Familie ausgezeichnet haben. Ich bin erfreut darüber, dass du, als junges Wesen, deinen bedeutenden Vorfahren ebenso viel Wertschätzung entgegen bringst wie unsereins.“ Der Großonkel scheint voller Lob für das große Interesse, das seine Großnichte für seine Familiengeschichte aufbringt. „Nicht wahr, meine verehrte Schwägerin, du zollst deiner Enkelin doch ebensolchen Respekt wie ich es tue? Wenn eine sehr alte Frau noch so schnell reagieren kann, dann kann es nur Großmama sein, bedenkt Adelaine, denn der Greisenkopf mit den Silberfädchen, wie Grandma ihn selbst tituliert, wendet sich flink wie ein Wiesel zur Seite, um ihr, der Enkelin, einen Blick zu schenken, einen ganz besonderen, einen ganz und gar liebevollen, einen solchen Blick, der nur zwischen zwei Seelenverwandten möglich ist. Worte bedarf es dabei keiner mehr! „Großonkel, eine Frage habe ich da noch an dich: Der Francis schreibt über Franz, der unter der Herrschaft von Franz dem I. lebte – so viele Franzens auf einmal, wirklich unglaublich! – dass unser Franz, der aus Deutschland, die zwölf Punkte, die Ko… ich weiß nicht mehr, wie sie richtig heißen, diese Ko…formeln nicht unterschrieben hat. Weißt du da Näheres, Onkel Jacob?“

Der Angesprochene bleibt für Sekunden still, was selten genug geschieht und seine Nachdenklichkeit zeigt. Dabei zieht er seine Nasenflügel so lustig zusammen, bemerkt Adelaine, in der Art wie er seine Stirn dabei runzelt und die Augen so starr nach oben geblickt hält, es sieht ganz danach aus, als inspiziere er inwendig seine Gehirnregionen aufs Gründlichste.

„Hm! Adelaine! Mein armer, alter Kopf! Aber ein Gedanke, der ist mir aus der Tiefe entgegen gekrochen gekommen, denn damit habe ich mich früher einmal beschäftigt.“ Seinen Kopf ein wenig gesenkt, fährt er mit dem Reden fort, während die Fingerspitzen der rechten Hand seinen Gedankenträger und Ideensortierer, sprich ‚Kopf‘, abzustützen suchen. „Kon – hm! – Konkor – hm! Konkordienformel heißt das berühmte Exemplar mit den zehn Punkten, wenn ich mich nicht täusche! Einen davon habe ich mir besonders gemerkt, weil er meine Aufmerksamkeit und mein Interesse auf sich gezogen hat. Dabei ging es um die Höllenfahrt Christi, da heißt es also, dass Christus nach seinem Tode zur Hölle gefahren ist und dort gegen den Teufel kämpfte, um ihn schließlich besiegen zu können, damit er selbst in den Himmel gelangen konnte. Alles in allem stritten Vertreter der protestantischen Kirchenrichtungen um den rechtmäßigen Glauben.“

„Oh, das Ganze klingt ja wirklich höchst befremdlich für jetzige Ohren! Christi Himmelfahrt – ja, aber Christi Höllenfahrt zuvor, obwohl er doch der Sohn Gottes ist. Ja, aber andererseits ist er auf Erden ja auch vom Teufel versucht worden. Ach, mir ist das alles viel zu kompliziert. Ich bin froh, dass ich nicht in dieser Zeit gelebt habe. Aber als weibliches Wesen damals überhaupt ein Theologiestudium zu erwägen, das wäre ja sowieso schon völlig abwegig gewesen.“ Adelaines Blick bleibt unverwandt auf den Großonkel gerichtet, als dieser nach einer längeren Schweigeminute seinen Mund wieder öffnet, um sein ‚war ja auch gut so!‘ zum Besten zu geben. Geistesgegenwärtig und weit vorhersehend wie Großmama es noch immer ist, wendet sie sich ihrem Schwager zu und fragt abrupt nach seinem weiteren Wunsch für den heutigen Nachmittag.

„Adelaine ist so wissensdurstig. Sie möchte ganz bestimmt nochmals in die Familiengeschichte eintauchen, so wie ich sie kenne. Nicht wahr, meine junge Dame? Wir werfen nochmals einen Blick auf den großen Stammbaum. Er liegt ja noch drüben auf dem Tisch ausgebreitet. Und schließlich werde ich gegen siebzehn Uhr von meinem Chauffeur heimgebracht.“

„Wollten wir uns nicht auch noch den Brief von Franzens Freund zu Gemüte führen? Ich bin wahrlich neugierig auf den ‚Ochsenbrief‘ geworden.“ Adelaine fasst sich einen Moment auf den Mund, als ob sie ihre Lippen schließen möchte. Sie war dem Großonkel ins Wort gefallen. Oh nein, ob er es gemerkt hat und aufbegehrt oder ob er so sehr mit seinen eigenen artikulierten Wünschen beschäftigt ist, dass ihm ihr Vorpreschen entgangen war.

„Wie schön, dass ich solch eine neugierige Nichte mein eigen nennen darf! Ja, komm bitte, reiche mir deine Hand und führe mich hinüber zum Tisch!“ Der alte Herr erhebt sein fülliges Hinterteil, die eine Hand auf die Armlehne gestützt, die andere sich der ausgestreckten Hand der Nichte entgegen streckend. Wie eine Ewigkeit erscheint es dem jungen Mädchen bis ihre beiden alten Herrschaften um den runden Tisch Platz genommen haben.

„Wo hast du diesen Familienschatz das letzte Mal gesehen, Grandma? Versuche bitte, dich zu entsinnen! Mir kommt gerade der Gedanke, dass du gestern irgendetwas von der vorletzten Schublade, der breiteren, gesagt hattest. Ich werde dort mal nachsehen, wenn es dir genehm ist!“

Dame Ethel nickt, Kätzchen Käthe hat es sich wieder auf ihrem Schoß gemütlich eingerichtet und scheint sich, vom schwarzen luftigen Chiffon umhüllt, geborgen zu fühlen, zumal die morgendlichen Streicheleinheiten zu beiderseitigem Vergnügen fester Bestandteil des landhäuslichen Rituals geworden sind. Diesmal dauert es ein wenig länger; das Stöbern im geheimnisumwitterten Sekretär. „Das nicht, das nicht, oh, das dürfte auch interessant sein, Briefe aus Ägypten, aber, warte mal, nicht zu ungestüm, ich werde nicht das letzte Mal hier auf Entdeckungsreise gehen! Alles der Reihe nach!“, spricht sie sich selbst zu, klugerweise, so überlegt sie, während ihre Finger durch Papierstapel wandern und ihre Augen auf Absender und Aufschriften von Umschlägen gerichtet sind, aber ich lasse meine Gedanken besser nicht nach außen dringen, denn, wer weiß, ob nicht Großonkel daraufhin wieder seine speziellen Kommentare abgäbe, ganz und gar nicht zu meinem Gefallen. Sie spürt im Hintergrund zwei Luchsaugen auf sich gerichtet und erinnert sich an die Onkel-Bemerkung: „Na, meine kleine Schnüfflerin! Wieder eine Fährte gefunden?“

„Findest du den Umschlag nicht, mein Kind? Sieh mal bitte in dem senkrechten Fach, dem zweiten von rechts nach! Vielleicht hast du da mehr Glück!“

Großmutters Worte im Ohr gleiten Adelaines Finger in die oberen Gefilde der Schatztruhe, treffender gesagt, in dieses, ungeahnte Schätze offenbarendes Schreib-Mobiliar, das jedem auf Stöberjagd gehenden Eiferer faszinieren muss. Adelaines Kopf beginnt auf Hochtouren zu arbeiten. Gab es da nicht dereinst auch das Verwirrspiel um König Georges, III, der in der Zeit der ‚regency period‘ gelebt hat? In dieser Epoche, in der das gute Stück aus Mahagoniholz entstanden war? Ob hier vielleicht noch Briefe zu finden sind, in denen meine Vorfahren, vornehmlich weiblichen Geschlechts, ihre Herzensergüsse über diese Tragödie um diesen englischen Herrscher zum Besten gegeben haben? Adelaines Hirn arbeitet sichtlich auf Hochtouren! Es läuft nämlich puterrot an. Oh da, ja, auf einem Kuvert, der schon wie von Mäusen zerfressen scheint, mit verblichenen gestochenen gemalten Buchstaben, oh, hier, Moment mal, hier steht es vorn doch drauf: von Mary an Elisabeth, Datum vom 6.7.1821. Wer auch immer diese beiden Damen sind, ich werde diesen Brief später einmal mit Großmutter lesen; denn Großonkel würde bei dieser Angelegenheit nur stören, befindet sie insgeheim, denn er liebt solchen Weiberkram überhaupt nicht.

„Adelaine, hast du den Brief von Paul denn gefunden?“ Großmutter wundert sich über der Enkelin Geschäftigkeit und schüttelt ihren grauen Knoten-Kopf, während der Großonkel bedächtig, wie er es über alle Maßen liebt, sich Tabak, den er zuvor aus der bunten Blechdose genommen hat, in sein Pfeifchen stopft. Jetzt bringt Großonkel nichts mehr so schnell aus der Ruhe, das weiß das junge Mädchen, denn genauso wie Großmutter ihre Glaubensrituale schätzt, so scheint Großonkel für das nächste halbe Stündchen in einen heiligen Raum der Ruhe einzutreten.

„Juchhu, da bist du ja endlich, du Ersehnter! Du wolltest mich wohl ein wenig foppen und hattest dich in die äußerste Ecke verkrochen!“ Adelaine greift nach dem Kuvert und trägt es, mit sich und der Welt zufrieden, zum Tisch hin. „Grandma, diese Schrift, sieh’ mal! Ich hab’ mehr geraten als dass ich es entziffern konnte. Das hier ist doch ein P, und dahinter, so denke ich mir mal, sind das a, u und das l. Grandma, würdest du uns bitte den Brief vorlesen? Du kennst die Schrift sicher besser!“ Adelaine hatte ihn vorsichtig entfaltet und hält ihn der Großmutter unter die Nase!

„Kind, reiche mir bitte mein Brillenglas!“ Genau dann, wenn Großmutter ihr Monokel mit ihrem Augenlidmuskel festklemmt, dann verzieht sie jedes Mal ihren Mundwinkel ein wenig nach oben, so als ob sie einseitig lächele. Wie ein gelehriger Herr Professor wirkt sie in solchen Momenten, ein Gelehrter in Kleidern, ach wie komisch! Einer, der, auch wenn er Ernstes vorträgt, im Gepäck oft auch Bruder Leichtfuß mitträgt. Adelaine muss lächeln, gedankenverloren wie sie es häufig ist.

„Also, ich beginne, meine liebe junge Dame und mein verehrter betagter Herr Schwager!“ Sie räuspert sich einmal. „Ich glaube, dass mir noch ein Krümelchen Brot im Hals stecken geblieben ist.“ Sie räuspert sich zum zweiten Male. Dieser Räusperer hallt noch lautstarker durch den Raum als sein Vorgänger und scheint dem Quälgeist im Hals endgültig den Garaus machen zu wollen. „Ich vermute, dass sich ein Teil des Quittengehäuses in meinem Schlund verfangen hält!“ Dame Ethel holt einmal tief Luft, lässt ihre Hand sich vorne fest um den Hals krallen und bittet, kläglich nach Luft schnappend: „Klopft bitte … hierhin!“, und zeigt dabei auf ihren Rücken.

„Erst einen Schluck Tee nehmen! Ethel! Dann rutschen die Kernlein auch dorthin, wo sie hingehören!“ Nachdem der alte Herr über Jahre gelernt hat, seinen Tatterich als einen freundschaftlichen Lehrmeister des sich näher und näher heranschleichenden Gevatter Tods zu akzeptieren, so stört es ihn auch wenig, dass nicht alle Tröpfchen dorthin fließen, wo sie eigentlich hingehören, nämlich aus der Wedgwood-Tasse, die Mrs. Smith in ihrer flinken Weise bereitgestellt hat, in seinen Schlund. Großmutter, mit erhobenen Händen die befreienden Rückenschläge ihrer Enkelin erwartend, kehrt sich jetzt reichlich wenig um die braunen Spritzer auf der Spitzendecke, zu sehr ersehnt sie aus dem Zusammenspiel der beiden Akteure am Tisch, dass sie den Störenfried in ihrem Hals endlich los wird. Und – oh, Wunder – Adelaines Bemühungen scheinen doch von Erfolg gekrönt zu werden. „Fort ist er, fort, tatsächlich fort, dieser Eindringling!“ Großmutter klatscht in die Hände, vernehmlich nach oben gewandt spricht sie: „Lieber Herrgott! Danke! Danke! Wie schön ist das Leben, wenn ein Mensch wieder zum Leben notwendige Luft schnuppern darf! Oder …“, die alte Dame stützt ihren Kopf auf ihre Finger, „… liegt das Luftwegbleiben sogar an einem schrecklichen Gedanken, der mich gerade überfallen hat, als ich an Paul dachte, an den Freund unseres Vorfahren? Aber jetzt lese ich erst einmal den Brief vor, diesmal, so hoffe ich wenigstens, ohne diesen Quälgeist! – Lieber Freund! Jetzt möchte ich aber nicht länger verweilen und Dir auf Deinen Brief antworten. Mein aufrichtiges Mitgefühl bringe ich Dir hiermit entgegen. Du hast Dich mit zu viel Unbill herumzuschlagen, wie allerorts Kunde gegeben wird. Dass Du mit tiefster Trauer erleben musst, wie Deine zweimalige, mit unzähligen Mühen erstellte Kirchenordnung den Wirren des Landes zum Opfer gefallen ist, das rührt mich zutiefst. Gerade kommen mir die Worte vom Luther in den Sinn: ‚Nehmen Sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib: lass fahren dahin, sie habens kein Gewinn, das Reich muss uns doch bleiben!‘ Jesus Christus wird für uns und den rechten Glauben streiten. Daran lasst uns mit allen unseren Kräften festhalten! Es tut mir aufrichtig Leid, dass Du nur halb so viel Lohn erhältst, wie es Dir versprochen worden war. Du musst so viele Mäuler stopfen und außerdem dafür Sorge tragen, dass Deinen Söhnen eine gute Gelehrsamkeit zu Teil wird und Deine Töchter eine stattliche Mitgift aufweisen können. Wie gekränkt musst Du Dich gefühlt haben, dass Du die Geringschätzung eines Ochsenknechtes ertragen musstest! In Rostock läuft alles ohne besondere Schwierigkeiten. Meinen Studenten versuche ich den lieben Reformatoren Flacius nahezubringen, um bei ihnen die wahre lutherische Lehre zu stärken. Von meinem Eheweib und den sechs Kindern ist nichts Schändliches zu berichten. Nur meine Margarethe, jetzt in dem schwierigen Alter des Übergangs vom Mädchen zur Frau, erweist sich manches Mal als ziemlich störrisch. Sie ist kein so hübsches Mägdelein wie die andere Tochter, eher klein und von gedrungener Statur. In allen Dingen, die uns hier auf Erden nicht so sehr behagen, in allem Kampf lasst uns wie Luthern beten: ‚Ach, Gott, vom Himmel sieh darein und lass dich des erbarmen!‘ In freundschaftlicher Verbundenheit von Haus zu Haus verbleibe ich Dein Dir stets verbundener Paul.“

Stille! Der alte Herr und Adelaine, seine Großnichte, sitzen auf ihren vier Buchstaben angenagelt wie auf Kirchenbänken, andächtig, so aufmerksam, als ob sie des Herrn Pastors Auslegungen Silbe für Silbe inhalierten. Ihre Hände halten sie brav über dem Schoß verschränkt, als Lady Ethel sich als erste zu Wort meldet: „Ob es jetzt das Krümelchen Brot oder Teilchen vom Kerngehäuse der Quitten gewesen ist, das mir die Luft zum Atmen nahm, ist jetzt einerlei. Oder sollte es etwa doch die Schauergeschichte gewesen sein, die hier …“, und dabei zeigt sie, den Brief noch auf ihrem Schoß haltend, auf diese Seite ganz unten, auf der in Form einer Notiz, in einer anderen Schrift, mit Griffel gemalt, etwas angefügt worden steht. „Hier liest man schwarz auf weiß: ‚Die jüngste Tochter Paulus von Eitzens, namentlich Margarethe, wurde zusammen mit ihrem Gatten, dem Amtsschreiber, anno 1610, hingerichtet. Das Urteil erfolgte wegen Mitschuld an der Ermordung des Schwiegersohnes aus Apenrade. Dies fügt unter Berücksichtigung aller Nachforschungen in Gemeindeämtern der Ururenkel des Sohnes vom Superintendenten Paul von Eitzen, anno 1730, hinzu.‘ Unterschrieben ist mit Magnus von Eitzen, Domherr zu Lübeck.“

Stille – die beiden Zuhörer verharren in Schockstarre, bis die alte Dame erneut das Wort ergreift – sehr still und traurig klingt das nun, was sie jetzt zu sagen hat: „Da hat der Herrgott aber noch ein Einsehen mit dem Paulus gehabt, dass er diese Schmach nicht mehr selbst erleben musste. Die eigene Tochter! In einer Familie, in der Gottesfurcht und Gottesliebe zuhause gewesen sind – solch’ ein Verhängnis! Unglaublich!“ Adelaines Seufzer durchbricht die sekundenlange Stille, die nach Ethels Wehklage eingetreten war, bis sie erleichtert feststellt: „Wie gut, dass ich heute leben darf!“

Der Großonkel zuckt augenblicklich seine Schultern, während sich seine Nasenflügel zum tiefen Luftholen rüsten und dabei noch verschrumpelter aussehen als im gelockerten Zustand sowieso schon. „Mich deucht, hier duftet es nach Schweinebraten! Sogar nach einem besonders saftigen in kross gebratener Ummantelung! Adelaine, würdest du mir bitte aufhelfen?“

Und die Folgsame springt schnurstracks aus ihrem Sessel auf, um ihre Hand um das Armgelenk des Hungerleiders zu legen und diesen wahrlich nicht ausgehungert wirkenden Mann zum Genuss versprechenden Mahl zu führen – und jetzt heißt es: Schritt für Schritt dem dampfenden Schwein entgegen.

Die Rosenlady und der Sekretär

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