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Kapitel 5 Aufbruch nach Miragon

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In Dalwas herrschte eine seltsame, geradezu unheimliche Stimmung. Die sonst so belebten Plattformen, Brücken und Häuser der Elfen waren leer, niemand war zu sehen, alles war still. Selbst von den sonst so lautstarken Vogelscharen, die in den Kronen der Bäume hausten, war kaum etwas zu hören.

„Na endlich, da seid ihr ja“, erklang eine aufgeregte Stimme. Fuldaf, einer der Ältesten, kam auf seinen knorrigen Stab gestützt und mit verschwitztem, blassem Gesicht auf sie zu. „Es gibt Neuigkeiten“, erklärte er. „Kommt, folgt mir, wir werden bereits erwartet.“

„Geht es um Zemeas und Azarol, sind sie hier?“, erkundigte sich Saruna sogleich. Obwohl sie versuchte, ihre Worte so leichthin wie möglich klingen zu lassen, verlieh die Aufregung, die unaufhaltsam in ihr aufkeimte, ihrer Stimme einen ungewöhnlich hohen Klang.

„Nein ...“ Fuldaf betrachtete die junge Frau einen Moment mit zusammengezogenen Brauen. „Nein, die Feuerelfenbrüder sind nicht hier. Aber des Magiers Eishabicht, Nilwa.“

Die Elfe nickte und gab sich gleichgültig, unterdrückte jedoch die Enttäuschung, die sich zu einem dicken Kloß in ihrem Hals entwickelte. „Dann ist also nur Nilwa da?“

„Ja ... ich meine nein. Raja, sie ist auch hier ... und Taluas.“

„Taluas? Der Taluas? Mitglied der Königswache?“

„Genau der.“

„Aber ... warum?“

„Warum er sie begleitet hat? Das weiß ich auch noch nicht. Aber wir werden es gleich ... werden es ... ach verflixt. Gweldon, komm, hilf mir.“ Der narbengesichtige Fuldaf deutete auf einen Berg Schriftrollen, der ihm gerade aus dem Arm zu rutschen drohte.

Der Alchemist schnappte sich einige der Pergamentrollen und betrachtete sie neugierig. „Sind das Landkarten?“

„Ja, sind es.“

„Aber wofür ...“

„Geduld, Gweldon, Geduld. Ihr werdet gleich mehr darüber erfahren“, tadelte der Alte.

Inzwischen hatten die vier den nördlichen Kuppelsaal erreicht. Die Stirn von Sorgenfalten durchfurcht, stemmte sich Fuldaf gegen die hohe Tür und drückte sie auf. Augenblicklich erklang ein lautes Stimmengewirr. Loweon und die Geschwister staunten, scheinbar hatte sich ganz Dalwas im Saal eingefunden. Junge Frauen und Männer, Greise und Kinder, sie alle drängten aufgeregt durcheinanderschwatzend nach vorne in Richtung Podest. Dort standen zwei Älteste, Marele und Larum, ein schmalgesichtiger Greis von schmächtiger Statur.

Während Fuldaf und die drei jungen Elfen sich behände einen Weg durch die Menge bahnten, verstummte ihr Volk mit einem Mal. Neugierig den Blick noch vorn gerichtet erkannte Loweon zwei kleine Hände, die vielsagend in die Höhe gehalten wurden. Rajas Stimme erklang.

„Meine lieben Freunde, wie ihr gewiss alle bereits erfahren habt, gibt es Neuigkeiten. Nilwa, des Erolar-Veroganden Eishabicht hat uns heute Nachricht aus Walgerad überbracht.“

Während die Zwergin mit kräftiger Stimme dem Volk der Waldelfen die Botschaft überbrachte, erreichten Saruna, Gweldon, Loweon und Fuldaf das Podest. Raja stand dort oben, ganz vorne, in eine edel aussehende Lederrüstung gekleidet, das Haar zu einem strengen Zopf geflochten. Ihr ernster Blick war auf die besorgt aussehenden Elfen gerichtet. Als sie ihre Freundin Saruna und deren Begleiter entdeckte, huschte jedoch ein kleines Lächeln über ihre Lippen.

Etwas im Hintergrund standen die beiden Ältesten und Taluas, der wie seine Herrin in eine Respekt einflößende Lederrüstung gekleidet war.

„... und deshalb werden wir uns heute Nachmittag noch auf den Weg machen“, endete die Zwergin.

„Und was ist mit den Yargen, was, wenn sie uns genau in der Zeit eurer Abwesenheit angreifen?“, erscholl eine Stimme aus der Menge.

„Keine Sorge“, beschwichtigte Raja, „ das werden sie nicht. Nalaj meint, dass unser Feind zurzeit vielmehr darauf bedacht ist, sein Heer zu stärken und es weiter aufzubauen. Und da wir es unlängst in Walgerad zusätzlich geschwächt haben, dürfte in der nächsten Zeit kaum mit einem Angriff zu rechnen sein. Aber selbst wenn es so wäre, würdet ihr früh genug gewarnt werden, um euch vorzubereiten. Wir haben unsere Königswachen an sämtlichen Außenposten des Landes verteilt. Sie halten ununterbrochen Wache und schlagen Alarm, sowie Gefahr droht. Also bitte, ängstigt euch nicht. Für eure Sicherheit ist gesorgt.“ Die Menge schwieg. „Nun, da wir uns so rasch wie möglich auf den Weg machen müssen, übergebe ich das Wort an Marele. Solltet ihr weitere Fragen haben, wendet euch bitte an sie.“

Die in ein schlichtes Leinengewand gekleidete Älteste trat vor. Auf ihrem jung gebliebenen Gesicht lag ein besorgter Ausdruck. Nachdenklich strich sie sich eine ihrer grauen Locken hinters Ohr und nickte Taluas und Raja zum Abschied zu, bevor sich die beiden, gefolgt von Loweon, Fuldaf und den Geschwistern, durch eine Seitentür zurückzogen.

„Also, nun erzähl schon“, drängte Saruna ihre Freundin, als diese sich auf einen der für sie viel zu hohen Stühle setzte. Sie hatten sich in das Besprechungszimmer der Dorfältesten im hinteren Teil von Fuldafs Behausung zurückgezogen. Ausgestattet mit einem runden Tisch, etlichen Stühlen, deren hohe Lehnen mit edlen Schnitzereien verziert waren, und einer winzigen Sitzgarnitur mit Beistelltisch, die in einer Ecke stand, bot der Raum ausreichend Platz für ihre Zwecke.

„Hmm“, überlegte Raja laut. „Wo soll ich anfangen ...“

„Wie wär’s mit Zemeas und Azarol? Warum sind die beiden nicht hier?“ Saruna merkte, wie ihre Stimme unwillkürlich wieder diesen hohen Klang annahm. Sie errötete.

„Weil das zu lange gedauert hätte. Die Zeit drängt. Darum müssen wir auch schon heute Nachmittag aufbrechen. Wir treffen uns mit den Brüdern gegen Abend im Brennenden Busch in Miragon.“

„In Miragon?“, stutzte Gweldon.

„Ja, Azarol meinte, das wäre der ideale Treffpunkt. Von dort aus ist es nicht mehr allzu weit ins Mittelgebirge.“

„Du sprichst vom Feliador-Mittelgebirge, oder?“

Raja nickte.

„Ich weiß zwar nicht, was genau die Brüder da oben wollen, aber wäre es nicht vernünftiger, wenn wir uns gleich in Scheldasan oder Melbador träfen? Das wäre doch um einiges näher.“

„Stimmt, aber zu auffallend. Azarol befürchtet, dass sich in Scheldasan, Melbador und den anderen umliegenden Dörfern Spitzel des Feindes aufhalten. Du kannst dir bestimmt vorstellen, was für ein Aufsehen wir erregen würden, wenn wir dort mit den Felsschwingen anreisten. Miragon hingegen liegt recht weit vom Gebirge entfernt. Es ist also eher unwahrscheinlich, dass sich dort ein Spitzel aufhält, und falls doch, meint Zemeas, gelänge es uns bestimmt, ihn auf unserem Weg abzuschütteln oder in die Irre zu führen.“

„Ich finde, Azarol hat recht. Miragon ist zweifellos der beste Treffpunkt für euch. Und mithilfe meiner Karten erreicht ihr das Gebirge in wenigen Tagen“, versicherte Fuldaf, nahm Gweldon die Schriftrollen ab und breitete einige davon auf der großen Tischplatte aus. „Hier“, er tippte mit seinem knochigen Finger auf das Papier, „angenommen ihr reist über Melbador, dann führt von hier aus ein Pass, der nur wenigen bekannt ist, direkt ins Herz des Gebirges. Solltet ihr den Weg in Richtung Degenhol einschlagen, so empfehle ich, dass ihr den Pfad entlang des Bergkamms wählt. Er ist in dieser Gegend der sicherste und vermutlich auch kürzeste.“

Gweldon und Loweon beugten sich interessiert über die Karten und ließen sich von Fuldaf die Tücken und Gefahren des Gebirges erklären.

Während die drei Männer über den Karten brüteten, wandte sich Saruna an Raja. „Also, du hast vorhin im Kuppelsaal erzählt, dass König Xagon und seine Männer entführt wurden?“

„Ja, es muss passiert sein, kurz nachdem wir Walgerad verlassen hatten.“

„Und Nalaj, denkt sie wirklich, dass wir sie retten können? Ich meine, wir sind nur zu sechst, wer weiß, wie viele von diesen dunklen Wesen, die der Fremde erwähnt hat, da oben auf uns lauern.“

Die Zwergin zuckte die Achseln. „Und? Ich fürchte mich nicht. Schließlich haben wir Azarol dabei, mit seinen magischen Kräften wird er diesen Kreaturen schon Einhalt gebieten. Abgesehen davon haben wir selbst auch einiges zu bieten, oder etwa nicht? Hey, wir sind das Bündnis, wenn es uns nicht gelingt ... Du wirst sehen, wir schaffen das. Wir müssen uns nur möglichst unauffällig verhalten. Das Einzige, das mich an der Sache stört, ist, dass wir die Felsschwingen in Miragon zurücklassen müssen. Ich hasse es, so weit zu Fuß zu gehen.“

„... und dann gäbe es an dieser Stelle hier drüben noch die Möglichkeit für einen Abstieg. Doch Vorsicht, der Großteil des Gesteins besteht aus Sandquarz, ist also sehr brüchig“, hörten sie den Narbengesichtigen erklären.

„In Ordnung, ich werde es mir merken“, versicherte Gweldon, nahm eine der Karten vom Tisch, rollte sie zusammen und verstaute sie in seiner Kräutertasche. „Gibt es sonst noch etwas, auf das wir achten sollten?“

„Nein, das war alles oder zumindest fällt mir im Moment nichts mehr ein.“

„Gut, dann würde ich vorschlagen, wir packen unsere Rucksäcke und machen uns auf den Weg.“

„Und was ist mit mir? Soll ich einen Verband um den Fuß legen?“, erkundigte sich Loweon.

„Ach verflixt, dein Gelenk. In der Aufregung habe ich das ganz vergessen. Hmm, wie machen wir das am besten?“ Der Alchemist rieb sich grübelnd die Stirn. „Saruna“, sagte er schließlich und richtete seinen Blick auf die blasse Schönheit. „Würdest du bitte mit Raja und Taluas alles Nötige zusammenpacken? Fuldaf und ich kümmern uns inzwischen um Loweon.“

„Natürlich.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, machten sich die drei auf den Weg. Gweldon lauschte noch einen Moment ihren Schritten, die hinter der zufallenden Tür verstummten, dann wandte er sich seinem Freund zu. „Also gut, dann wollen wir uns dein Gelenk mal ein wenig genauer ansehen.“

Eine Stunde später klopfte es an der Tür des Besprechungszimmers. Raja, Saruna und Taluas hatten sämtliche Vorbereitungen für die Reise abgeschlossen und alles Nötige wie Kleidung, Essen, Waffen und einige Goldstücke zusammengepackt.

Saruna hatte inzwischen ihre Sandalen und das einfache Leinengewand gegen eine eng anliegende braune Stoffhose und kniehohe Lederstiefel getauscht. Oberhalb der Gürtellinie trug sie ein weißes Leinenhemdchen, welches ihre zierliche Figur betonte. Um die Taille selbst lag ein erdbrauner Gürtel, an welchem ihr Dolch in seiner kleinen Lederscheide hing. Das schwarze Haar der Elfe wurde von einem Ring aus Lianen zurückgehalten und fiel in sanften Wellen über ihre Schultern.

„Wir wären dann so weit“, sagte Taluas, als die drei mit dicken Rucksäcken beladen den Raum betraten.

„Ja, gut, einen Moment noch“, gab Gweldon zurück, der mit verschränkten Armen vor Loweon stand.

Der Waldelfenkrieger saß mit steinerner Miene auf einem der Sessel und betrachtete angespannt den Verband, den Fuldaf ihm gerade vom Gelenk wickelte. Er war getränkt mit einer dottergelben und unangenehm nach Schwefel riechenden Tinktur. Als der Älteste den Verband gänzlich abgenommen hatte, hob er vorsichtig den Fuß und betrachtete skeptisch das Gelenk.

„Und? Wie sieht es aus?“, drängte der Krieger den Alten ungeduldig.

„Schwer zu sagen. Gut möglich, dass die Knochen noch nicht gänzlich verwachsen sind. Schließlich war es ein schwerer Bruch.“ Fuldaf nahm den Fuß in beide Hände und drückte behutsam dagegen. „Eigentlich müsste ...“ Ein Unheil verkündendes Knacken ließ den Alten verstummen und auf Loweons Gesicht breitete sich ein schmerzverzerrter Ausdruck aus.

„Es tut mir leid, das war zu fest.“ Eilends wickelte Fuldaf den Verband erneut um das Gelenk.

„Verflucht!“, entfuhr es dem Krieger. Den Kopf vor Enttäuschung gesenkt murmelte er schließlich durch seine zusammengebissenen Zähne: „Ihr werdet wieder ohne mich gehen müssen.“

Gweldon seufzte und wandte sich an Fuldaf. „Fällt dir denn nichts mehr ein? Es muss doch was geben, das Loweons Bein heilen kann. Irgendetwas.“

Der Alte schüttelte den Kopf und senkte den Blick auf den Verband. „Nein, so leid es mir tut. Es gibt nichts, das Loweons Verletzung in so kurzer Zeit heilen könnte. Selbst das Steinhautelixier benötigt für derlei Brüche mehr als einen Tag.“

„So viel Zeit haben wir nicht.“ Gweldon klang niedergeschlagen.

„Ich weiß“, murrte Loweon, die braunen Augen enttäuscht auf seinen Fuß gerichtet.

Einen Moment schwieg die Gruppe, dann meldete sich der bärtige Taluas zu Wort. „Es hilft nichts, die Zeit drängt, wir müssen aufbrechen.“

„Ich verstehe. Geht schon mal voraus, ich komme gleich nach“, versicherte der Alchemist.

Die Zwerge und Saruna nickten bestätigend, verabschiedeten sich von Fuldaf und dem zerknirscht dreinblickenden Loweon und verließen den Raum.

Draußen schien die Frühlingssonne in all ihrer Pracht. Smaragdgrün leuchtete das Blätterdach über ihren Köpfen und die Luft war erfüllt vom würzigen Duft des Waldes. Endlich herrschte wieder Leben in Dalwas. Überall gingen die Waldelfen geschäftig ihren alltäglichen Verrichtungen nach. Nur wenige von ihnen hatten sich noch immer in ihre Behausungen zurückgezogen.

Als die Elfen Saruna und die Zwerge über die Plattformen und Brücken in Richtung Felsschwingen schreiten sahen, hielten sie mit ehrfürchtigen Mienen inne, denn ein jeder von ihnen wusste, dass Nibelars Schicksal in ihren Händen liegen würde.

Als die drei die stattlichen Böcke mit den gewaltigen Schwingen erreicht hatten, legte sich unwillkürlich ein Lächeln auf Sarunas Lippen und ein prickelndes Gefühl der Nervosität überkam sie. Als sie das letzte Mal auf dem Rücken dieser Tiere geflogen war, hatte sie Zemeas begleitet. Sie fühlte, wie ihre Wangen heiß wurden, als sie an den Kuss dachte, den ihr der Jäger zum Abschied gegeben hatte. Zemeas. Endlich würde sie ihn wiedersehen. Zugegeben, die Umstände, die zu diesem Treffen führten, waren zweifellos tragisch, aber sie würde ihn wiedersehen ihren Zemeas. So viele Tage waren inzwischen vergangen, so viele Stunden der Sehnsucht. Unzählige Male hatte sie voller Wehmut an ihn gedacht, sich nichts sehnlicher gewünscht, als dass er endlich zurückkehren würde. Wo er wohl gerade war und was er machte? Vermutlich befand er sich auf dem Weg nach Miragon. Sarunas Herz brannte vor Aufregung, als ihr einfiel, dass sie ihrem so sehnlich vermissten Jäger in wenigen Stunden wiederbegegnen würde.

„Da bist du ja“, unterbrach Raja Sarunas Gedanken. Gweldon kam mit bedrückter Miene auf sie zugetrottet.

„Und ist es sehr schlimm für Loweon?“, fragte Saruna.

Die Lippen zum schmalen Strich gepresst nickte der Alchimist. „Es war sein sehnlichster Wunsch, mit uns gehen zu dürfen.“ Der Alchemist fuhr sich gereizt mit der Hand durchs Haar. „Es nützt nichts, es gibt keinen Weg, das Gelenk in so kurzer Zeit vollkommen heilen zu lassen.“

„Vielleicht ist es gar nicht das Schlimmste, wenn Loweon hierbleibt. So verfügt unser Volk im Falle eines Angriffes wenigstens über einen fähigen Krieger“, sagte Saruna aus tiefster Überzeugung, was Raja und Taluas einen ungläubigen Blick austauschen ließ.

Gweldon schwieg und griff nach dem Rucksack, den ihm seine Schwester entgegenhielt. „Hast du alles eingepackt?“

„Ja, ich glaube, ich habe nichts vergessen.“

„Hast du auch den Malustrank und die anderen Elixiere und Tinkturen aus meinem Arbeitszimmer mitgenommen?“

„Ja, ist alles dabei.“

„Und mein Ersatzkräutermesser?“

„Findest du in der Seitentasche deines Rucksacks.“

„Gut, dann lasst uns aufbrechen.“ Mit einem unangenehmen Druck in der Brust wandte sich Gweldon seiner Felsschwinge, einem gigantischen geflügelten Steinbock mit leuchtend orangen Augen, zu.

Minuten später waren sämtliche Rucksäcke auf die Rücken der Reittiere gebunden und die vier Freunde sattelten auf. Eine Handvoll Waldelfen, darunter Fuldaf und Marele, waren zum Abschied gekommen. Sie alle wirkten bedrückt, alle bis auf Fuldaf, der als Einziger eine gewisse Zuversicht ausstrahlte und dem Alchemisten aufmunternd zunickte. „Auf bald“, rief Mareles sanfte Stimme über die Zuschauer hinweg. „Mögen eure Wege sicher sein.“

Die Freunde hoben die Hand zum Abschied. „Auf bald!“ Schon öffneten sich die Schwingen der Böcke und die vier hoben unter rauschenden Flügelschlägen und aufwirbelnden Blättern ab.

Grünbraun flog der Wald in Farbfetzen an ihnen vorbei. Die durch die hohe Geschwindigkeit kühl wirkende Luft ließ sie frösteln und brachte Sarunas Augen zum Tränen. Die Zeit verging. Bald brach das Dickicht des Andusgehölzes vor ihnen auf und die Felsschwingen mit Taluas, Raja, Saruna und Gweldon flogen der Reihe nach hinaus aufs freie Land. Grüne Wiesen und Auen, soweit das Auge reichte, erstreckten sich vor ihnen. Kleine Bäche, Seen und größere Flüsse, deren Plätschern nur gedämpft an ihre Ohren drang, durchzogen das Land. Weit im Norden erhob sich, umrahmt von dunklen Wäldern, eine Bergkette, dort musste Cindur liegen. Es war ein wundervoller Tag, die Sonne lachte vom Himmel und die frische Frühlingsluft war erfüllt von zartem Blumenduft.

Gweldons nachdenklicher Blick war in die Ferne gerichtet. Bei der Geschwindigkeit, die die Felsschwingen an den Tag legten, würden sie Miragon in wenigen Stunden erreichen. Ob die Feuerelfenbrüder sie im Gasthaus Zum Brennenden Busch schon erwarteten? Möglich. Und wenn nicht, dann wäre es auch nicht weiter schlimm, schließlich hatte er selbst noch einiges für ihre Reise vorzubereiten. Saruna hatte zwar all seine Sachen eingepackt, doch die Tränke und Elixiere musste er sich schon selbst zusammenbrauen. „Zwei bis drei Stunden“, dachte er bei sich, „wird diese Arbeit gewiss in Anspruch nehmen.“ Er hob den Kopf und betrachtete eine Weile den Himmel. Noch war er strahlend blau und wolkenlos, doch das würde sich bald ändern. Er fühlte es, ein Gewitter bahnte sich an, auch wenn jetzt noch alles ruhig war, der Sturm würde kommen. Gweldon konnte nur hoffen, dass die Regenschauer bis zum nächsten Tag nachlassen würden, denn spätestens dann würden sie bestimmt ins Gebirge aufbrechen.

Versonnen streichelte der Elf seiner Felsschwinge über den muskulösen Hals. Die Tiere in Miragon zurückzulassen, würde ihm schwerfallen. Aber es half nichts, die edlen Böcke mit ihren gigantischen Schwingen wären in der Tat zu auffallend, als dass sie sie mitnehmen konnten. Es nutzte also alles nichts, sie mussten zu Fuß gehen, obwohl die Reise auf dem Rücken der Tiere nicht annähernd so lange, geschweige denn so gefährlich gewesen wäre.

„Taluas!“ Rajas Stimme riss den Alchemisten aus seinen Gedanken.

„Ja?“

„Hast du Ranons Nachricht für Prinzessin Tristade dabei?“

„Ja, habe ich, warum?“

„Zum Glück! Die hatte ich nämlich ganz vergessen.“

„Das habe ich gesehen, du warst so damit beschäftigt, dich von Ranon zu verabschieden, dass du sie glatt auf dem Tisch hast liegen lassen.“

„Oh, hab ich das?“, murmelte die Kleine, in Gedanken bei ihrem Gemahl, dem der Umstand, dass sich seine geliebte Frau erneut auf eine gefährliche Reise begab, gar nicht gefiel. Trotz der Tatsache, dass Taluas sie begleitete, war Ranon bis zuletzt unglücklich über ihre Entscheidung gewesen. „Hauptsache, du hast sie dabei!“

„Darf ich fragen, warum Ranon seine Nachricht an Prinzessin Tristade und nicht an ihren Vater, König Werus, richtet?“, erkundigte sich Gweldon verwirrt.

„Weißt du es denn noch nicht?“

„Was?“ Der Alchemist flog näher an Raja heran.

„König Werus ist Ende letzten Jahres gestorben.“

„Er ist tot?“

„Ja, der Blutbrand hat ihn und Hunderte weiterer Miraner niedergerafft.“

„Und nun regiert Tristade?“

„Ja.“

„Aber sie ist doch noch ein so junges Mädchen.“

„Mag sein, aber es heißt, sie beherrsche ihr Amt und regiere ihr Volk mit derselben aufopfernden Hingabe wie einst ihr Vater. Sie soll eine ebenso strenge wie gerechte Herrscherin sein.“

„Interessant. Und Ranon hat also eine Nachricht für sie?“

„Ja, Ranon ist sich sicher, dass es uns nicht gelingen wird, so kurzfristig, also in den paar Stunden, die wir in Miragon verbringen, eine Audienz bei ihr zu erhalten. Er fand, es wäre das Vernünftigste, ihr eine schriftliche Nachricht über Nibelars Situation zukommen zu lassen. Er wird ihr außerdem ein Treffen vorschlagen, um ihr die Lage genauer zu erörtern.“

„Denkst du wirklich, dass Tristade dich nicht empfängt? Ich meine, du bist Raja, König Algars Nichte sowie einzige und letzte Nachfahrin des hohen Geschlechts der Meranzwerge.“

„Schwer zu sagen. Ich denke auf jeden Fall, dass es schwierig wird. Soweit ich weiß, ist die Prinzessin eine sehr beschäftigte Frau. Vielleicht, wenn ich beharrlich darauf bestehe ... aber uns bleiben ja nur wenige Stunden, also ...“

„Ich würde sagen, dass du bald schon eine Antwort auf deine Frage erhalten wirst. Seht nur, da vorne, Miragon!“, rief Saruna, die das Gespräch der beiden verfolgt hatte und in der Ferne die Umrisse des auf einer Anhöhe liegenden Schlosses erkannte.

„Saruna hat recht“, bestätigte der bärtige Taluas. „Da vorne liegt Miragon.“

„Ich würde vorschlagen, wir landen außerhalb der Stadt, bringen die Felsschwingen in die Stallungen des Brennenden Busches und sehen nach, ob die Feuerelfen schon auf uns warten“, schlug der Alchemist vor.

Knappe zwanzig Minuten später hatten die Freunde ihr Ziel erreicht. Wie besprochen hatten sie die Felsschwingen etwas außerhalb des Dorfes, am Rande eines Kornfelds, zu Boden gebracht. Der Flug über Miragon war atemberaubend gewesen. Das Schloss mit all seinen Türmen und Zinnen, die strohbedeckten Steinhäuser, die schmalen Gassen, die wie ein Labyrinth durch die gesamte Stadt führten und doch alle am gleichen Ort, dem Marktplatz mit seinen bunten Ständen, zu enden schienen. Um Miragon selbst lag eine gewaltige, meterhohe Steinmauer, die ausschließlich durch das große Stadttor passiert werden konnte.

„Habt ihr gesehen?“, fragte Saruna, als sie die Tiere auf den Feldweg hinausführten. „Am Tor standen Wachen, zwei Stück, und wenn ich das richtig gesehen habe, waren sie schwer bewaffnet.“

„Ja, das ist mir auch aufgefallen“, pflichtete Raja ihr bei. „Seltsam, ich kann mich nicht erinnern, je in Miragon auf Wachposten an den Toren gestoßen zu sein.“

„Vielleicht haben sie ja von den jüngsten Vorfällen in Walgerad gehört“, meinte Taluas.

„Nein, das glaube ich nicht, das Volk der Feuerelfen lebt äußerst zurückgezogen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Miraner etwas vom Angriff auf Walgerad erfahren haben“, mischte sich Gweldon ein. „Ich würde eher vermuten“, fuhr er fort und ließ den Blick über die reich bestellten Felder schweifen, die sich, soweit das Auge reichte, in grünen und gelben Farbteppichen erstreckten, „dass sich hier in der Umgebung etwas zugetragen hat, das die Bewohner in Angst und Schrecken versetzt.“

„Wie kommst du darauf?“ Taluas klang skeptisch.

Gweldon zuckte die Schultern. „Ist einfach so ein Gefühl.“

Endlich mündete ihr Feldweg in eine große, mit Steinen gepflasterte Straße, die nach Miragon führte. Saruna schluckte, irgendwie war ihr seltsam zumute. Vermutlich lag es daran, dass sie in wenigen Minuten ihren so schmerzlich vermissten Zemeas wiedersehen würde. Beim Gedanken an den Jäger verkrampfte sich ihr Magen und ihr Herz brannte, als stünde es in Flammen. Dieser Feuerelf hatte ihr wirklich den Kopf verdreht. Noch nie hatte sie für irgendjemand anderen ähnliche Gefühle gehegt. Ihre Handflächen wurden feucht und ihr Mund mit jedem Schritt, mit dem sie dem großen Tor näher kam, trockener. Plötzlich war sich die junge Frau nicht mehr so sicher, dass dieses brennende Gefühl in ihrer Brust Zemeas zu verdanken war.

Nein, etwas anderes, irgendwie Unangenehmes schien sich in ihr breitzumachen. Saruna drückte die gefalteten Hände an ihre Brust, es war Angst! Hilfe suchend sprang ihr Blick hoch zu Gweldon, der neben ihr herging. Er hatte die Aufregung, die in seiner Schwester aufkeimte, bereits bemerkt.

Besorgt zog er die Brauen kraus. „Was ist, was hast du?“

„Fühlst du es denn nicht?“, flüsterte die blasse Schönheit.

„Nein, warum? Und vor allem, was soll ich denn fühlen?“, fragte der Alchemist mit gedämpfter Stimme.

„Irgendetwas stimmt hier nicht. Ich kann es nicht erklären, aber es macht mir Angst.“

„Keine Sorge, das ist bestimmt die Aufregung, oder ist es etwa die Vorfreude auf Zemeas?“ Gweldon hob eine Braue und sah seine Schwester mit gespielter Strenge an. Noch vor elf Tagen hatte er ein Problem damit gehabt, dass sich seine Schwester, seine kleine, süße Schwester in den stattlichen Feuerelfen verliebt hatte. Doch heute hatte er die Tatsache, dass die beiden zusammengehörten, akzeptiert. Gweldon wusste, dass Zemeas ein anständiger und ehrbarer Feuerelf war. Solange er lebte, würde er gut auf seine Saruna achtgeben und sie, falls nötig, mit dem Leben beschützen. Noch dazu musste Gweldon zugeben, dass Zemeas ihm in der letzten Zeit zu einem guten und treuen Freund geworden war.

Während sich auf den Zügen des Alchemisten ein gedankenverlorenes Lächeln ausbreitete, verengten sich Sarunas Augen zu Schlitzen. „Du wirst schon sehen“, sagte sie so leise, dass es nur ihr Bruder hören konnte. „Irgendetwas stimmt hier nicht.“

Schweigend und unter den klackernden Schritten der Felsschwingen erreichten sie den Eingang. Die Wachmänner am Tor beäugten die Neuankömmlinge, vor allem aber deren geflügelte Böcke interessiert.

Entschlossen trat einer der beiden aus seiner Position und stellte sich den Freunden in den Weg. „Halt, wer seid ihr und was führt euch nach Miragon?“

„Meine Name ist Taluas, dies sind Gweldon, seine Schwester Saruna und König Algars Nichte Raja.“

„Und? Was wollt ihr in Miragon?“

„Wir sind auf der Durchreise und hier, um im Gasthaus zu nächtigen.“

„Welches Gasthaus?“

„Zum Brennenden Busch.“

Der Pförtner rieb sich das stoppelige Kinn. „Und morgen wollt ihr also wieder abreisen?“

„So ist es.“

„Und wo, wenn man fragen darf, soll es dann hingehen?“

„Ich befürchte, mein Herr, das geht Euch nichts an.“

Ein überhebliches Grinsen breitete sich auf dem Gesicht des Wachmanns aus. „Wie ihr meint. Thore!“ Er winkte seinen Kameraden zu sich. „Begleite diese Herrschaften zum Brennenden Busch.“

„Das ist nicht notwendig, wir kennen den Weg“, versicherte Gweldon.

Der Pförtner rümpfte die Nase und spie neben sich auf den Boden. „Mir egal, ob du den Weg kennst, Elf. Thore wird euch begleiten.“

„Was habt Ihr für ein Problem?“, entfuhr es Taluas.

„Gar keins, ich sorge nur dafür, dass ihr euch anständig benehmt, solange ihr hier seid.“

„Warum um alles in Nibelar sollten wir ...“

„Na, bei euch Zwergen weiß man ja nie“, fiel der Wachmann dem Zwerg ins Wort. Schon lag Taluas’ Hand auf dem Heft seines Schwertes.

„Taluas, nein!“, befahl Raja, die topasfarbenen Augen fest auf den Wachmann gerichtet. „Deswegen sind wir nicht hier.“ Der Bärtige schnaubte, ließ aber von seiner Waffe ab. „Also bitte“, drängte die kleine Frau nun in angemessen scharfem Ton, „würdet Ihr uns dann zum Brennenden Busch geleiten?“

Während der Wachmann, der Thore hieß, lediglich ein gleichgültiges Grunzen von sich gab und den Freunden bedeutete, sie sollten ihm folgen, ließ sein Kamerad mit einem überheblichen Grinsen von ihnen ab und widmete sich einem Händler, der mit seinem Karren über die Straße gepoltert kam. Während die Gruppe an den massiven Toren vorbei ins Innere der Stadt schritt, drehte sich der zurückgebliebene Pförtner noch einmal nach den Freunden um und murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. Saruna hörte es, blickte über die Schulter und sah gerade noch dieses bösartige Lächeln, das sich auf seinen Lippen ausbreitete und ihr die Nackenhaare zu Berge stehen ließ.

Thore führte die vier Freunde schweigend und raschen Schrittes durch die Gassen der Stadt. Hier war alles wie immer. Bunt, belebt und vor allen Dingen laut. Frauen, beladen mit Wäschekörben, Stoffballen, Blumengeflechten oder kleinen Kindern an der Hand, gingen tratschend ihrer Wege. Alte Herren saßen angeregt miteinander diskutierend und Pfeife rauchend auf den Holzbänken vor ihren Häusern. Geschäftiges Treiben, wo man hinsah. Aus einer Nebengasse kam ein graubärtiger Mann, er trug ein langes Eisenstück auf den Schultern und ließ es beinahe fallen, als eine Schar schreiender Kinder sich an ihm vorbeidrängte. Die Fenster der meisten Häuser standen offen und gaben weitere schimpfende und lachende Stimmen preis.

Gweldon sah sich erleichtert um, ja, hier war alles wie immer. Nach dem unfreundlichen Pförtner von gerade eben hatte er tatsächlich einen Moment überlegt, ob Saruna recht haben könnte und in Miragon seltsame Dinge vor sich gingen. Er warf einen Blick auf seine Schwester, die mit steinerner Miene dicht neben ihm herging und das Volk beobachtete.

„Hast du Lust, mich später auf den Markt zu begleiten?“, fragte er, um sie von ihren zweifellos trüben Gedanken abzulenken.

„Wie? Oh ja, natürlich, gern.“

„Ich habe vor, heute Abend einige Flaschen Talgwurzsaft zu brauen. Bei der Kälte in den Bergen ist das bestimmt keine schlechte Idee. Was meinst du?“

Saruna rang sich ein Lächeln ab und nickte. „Gute Idee, wir werden den Saft bestimmt brauchen.“

Zwei Straßen weiter erreichten sie ihr Ziel. „Also dann, da wären wir“, brummte Thore. „Gasthaus Zum Brennenden Busch.“

Markiert mit einer Holztafel über dem Eingang, die einen brennenden Busch darstellte, erhob sich vor ihnen ein mehrstöckiges steinernes Gebäude. Etwas versetzt dahinter lagen die Stallungen. Das Dach des Gasthauses war wie das aller anderen Häuser in der Stadt mit Stroh und Holz gedeckt. In die breiten Fenster des untersten Stockwerks waren bunte Glasscheiben eingelassen. Die deutlich kleineren Fenster der oberen Etagen hingegen – dort lagen vermutlich die Gästezimmer – waren mit einfachen weißen Scheiben ausgestattet. Vor dem Gasthaus hatten die Bewohner einen Brunnen ausgehoben, der nicht nur für Trinkwasser sorgte, sondern, wie es in so großen Städten wie Miragon üblich war, auch als Löschwasserquelle für eventuelle Brände fungierte.

„Also dann, solltet ihr euch wider Erwarten länger als einen Tag in Miragon aufhalten, habt ihr uns frühzeitig darüber zu informieren.“ Mit diesen Worten machte Thore auf dem Absatz kehrt und verschwand in Richtung Eingangstor.

„Was für freundliche Wachleute die hier doch haben“, schüttelte Raja den Kopf. „Kommt, lasst uns die Felsschwingen dort an den Pfahl binden und reingehen, mal sehen, ob der Wirt mehr Anstand besitzt.“

Obwohl es erst später Nachmittag war und die meisten Miraner um diese Zeit noch ihren alltäglichen Geschäften nachgingen, war das Wirtshaus bereits gut besucht. An der Theke, die zwei Drittel des hinteren Teils in Anspruch nahm, saßen grölende Männer, die sich mit erhobenen Bierkrügen zuprosteten. An den Tischen und Bänken, die in der Nähe des lodernden Kamins aufgebaut waren, saßen zahlreiche Gäste. Miraner, Handels- und Wandersleute aus den unterschiedlichsten Regionen Nibelars und sogar zwei Nordclam-Zwerge, die an ihren bodenlangen schwarzen Umhängen zu erkennen waren. Die Luft in der Schankstube war widerlich. Es roch nach einer Mischung aus Schweiß, Alkohol und Rauch.

„Was kann ich für die Herrschaften tun?“, erhob sich eine kratzig klingende Stimme über das Gegröle. Eine junge Frau, etwa in Sarunas Alter, stand vor den Freunden. „Mein Name ist Lunora, ich bin die Tochter des Wirts.“ Sie lächelte höflich und strich sich eine aschblonde Haarsträhne aus dem Gesicht. Die Frau sah vollkommen erschöpft aus. Dunkle Ringe lagen unter ihren Augen, die Wangen wirkten eingefallen und das zum Knoten gebundene Haar matt vor Schmutz. Sie trug ein einfaches Leinenkleid, unter welchem ihre hagere Statur zu erkennen war.

„Wir würden heute gern bei Euch nächtigen und bräuchten vier Zimmer“, erklärte Raja.

„Ach herrje“, jammerte Lunora. „Da muss ich erst nachsehen, ob wir noch genügend Platz haben. Wenn Ihr einen Augenblick warten würdet.“ Sie wies auf einen freien Tisch. „Bitte setzt Euch doch so lange. Ich komme gleich wieder.“ Schon schritt die Miranerin davon und verschwand durch eine Schwingtür hinter dem Tresen.

Raja, die den Geruch von Tabak verabscheute, sah sich mit gerümpfter Nase um. Überall an den Tischen zogen blaugraue Rauchkringel auf. Der Bereich um den Kamin wurde von einigen pausenlos an ihren Pfeifen nuckelnden Männern derart verseucht, dass die brennenden Holzscheite nur mehr wie durch Nebel zu erkennen waren. Kopfschüttelnd sah sich die Zwergin weiter um. Nein, die Feuerelfen waren noch nicht da. Raja bemerkte, dass ihre Begleiter ihrerseits nach den Brüdern Ausschau hielten. „Sie sind noch nicht da“, erklärte sie schlicht.

„Es sei denn“, fügte Saruna hoffnungsvoll hinzu, „sie sind schon auf ihren Zimmern.“

„Das könnte allerdings sein. Ah, da kommt die Tochter des Wirts zurück, sie wird wissen, ob die beiden schon hier sind“

„Ihr habt Glück“, erklärte Lunora. „Es sind gerade noch vier Zimmer frei.“

„Sehr schön“, erwiderte Raja mit einem gewinnenden Lächeln auf den Lippen. „Ach, was ich noch fragen wollte, befinden sich unter Euren Gästen auch zwei Feuerelfen?“ Die Zwergin gab sich große Mühe, ihre Frage so beiläufig wie möglich klingen zu lassen.

„Feuerelfen? Nein, Gäste ihres Volkes hatten wir schon seit Jahren keine mehr. Aber warum fragt Ihr?“

„Nun, wir sind hier mit ihnen verabredet. Seid also bitte so gut und informiert uns umgehend, sowie sie eintreffen.“

Lunoras erschöpfte Augen blitzten voller Neugier auf. „Natürlich. Wenn ich fragen darf, wie lange gedenken die Herrschaften zu bleiben?“

„Ein paar Tage.“ Rajas Begleiter legten verwirrt die Stirn in Falten, sagten aber nichts.

„Und Eure Freunde, die Feuerelfen, werden sie auch mehrere Tage bleiben?“

„Höchstwahrscheinlich.“

Nun mischte sich Gweldon in das Gespräch. „Sind die Zimmer für uns schon vorbereitet?“

Die Wirtstochter schüttelte den Kopf. „Noch nicht, aber in ein paar Minuten.“

„Wenn Ihr so nett wärt und uns so rasch wie möglich die Räumlichkeiten zuweisen würdet? Ich habe noch einiges zu erledigen.“

„Selbstverständlich. Kann ich denn sonst noch was für die Herrschaften tun?“

„Das wäre so weit alles.“

„Gut, dann bereite ich sogleich die Zimmer für Euch vor. In der Zwischenzeit wird sich Mera um Euer leibliches Wohl kümmern.“ Sie winkte eine beleibte Frau mit schmutziger Schürze und hochgebundenem grauem Haar zu sich. „Solltet Ihr sonst noch etwas brauchen, lasst es mich wissen.“

„Das werden wir, habt Dank.“

Während Lunora sich an ihre Arbeit machte, kam Mera an den Tisch der Freunde und nahm ihre Bestellungen auf. Als die Magd schließlich in Richtung Küche verschwand, wandten sich Saruna und Gweldon beinahe gleichzeitig an Raja.

„Was sollte das eben? Weder wir noch Azarol oder Zemeas haben vor, länger als eine Nacht hierzubleiben.“

„Gweldon hat recht. Ich verstehe nicht, warum du das gesagt hast.“

Anstelle der Zwergin antwortete Taluas, auf dessen Gesicht ein wissender Ausdruck lag. „Das ist doch ganz einfach“, erklärte er, „wir wissen nicht, wer oder was sich alles in Miragon herumtreibt. Gut möglich, dass es so manch einen interessieren könnte, wie lange wir hierbleiben. Es kann also nicht schaden, ein paar Gerüchte, gerade über die Dauer unseres Aufenthalts, in die Welt zu setzen.“

Saruna nickte. „Verstehe. Und was machen wir jetzt? Soweit ich weiß, muss Gweldon noch auf den Markt und du, Raja, zur Prinzessin. Jemand sollte aber hierbleiben und auf die Brüder warten.“

„Alles zu seiner Zeit. Als Erstes muss ich jetzt mal was essen. Ich habe seit heute Vormittag nichts mehr zu mir genommen und mein Magen knurrt schon wie ein Rudel hungriger Wölfe“, jammerte die Zwergin.

„Dem kann ich nur zu stimmen.“ Taluas legte sich bedächtig die prankenhafte Hand auf den Bauch. „Ah, sehr schön, da kommt schon Mera.“

Beladen mit je zwei großen Steinkrügen und Bechern trat die Magd zu ihnen an den Tisch. „So, hier hätten wir zwei Braunhopfenbiere.“ Sie stellte die Krüge vor Taluas und Raja ab. „Und dann hätten wir noch einen kalten Goldblatttee für Euch.“ Mera reichte Gweldon einen dampfenden Becher. „Und für die junge Dame einen Glasblütensaft, hier bitte. Darf ich Euch sonst noch etwas bringen?“

Auf diese Frage hatten die beiden Zwerge nur gewartet. Freudig gaben sie eine große Bestellung über geräucherten Käse, Hirschwürste, Speck und das in Miragon bekannte Tränenbrot auf. Tränenbrot daher, weil die handgroßen Backwaren sowohl die Form als auch den leicht salzigen Geschmack von Tränen hatten. Mera hatte sich gerade Taluas’ und Rajas Wünsche notiert, als die Wirtstochter von hinten an sie herantrat, ihr die Hand auf die Schulter legte und sie innehalten ließ.

„Eure Zimmer wären nun fertig“, verkündete sie.

„Wunderbar, wenn Ihr uns die Räumlichkeiten dann bitte zeigen würdet?“ Gweldon nahm seinen Rucksack und erhob sich.

„Aber willst du denn nicht erst noch was essen?“ Raja blickte den Alchemisten verständnislos an.

„Später, ich habe noch viel zu erledigen. Saruna“, er wandte sich an seine Schwester, „was ist mit dir? Begleitest du mich jetzt oder bleibst du hier?“

„Ich weiß nicht, jemand sollte doch auf die Brüder warten.“

„Mach dir deswegen keinen Kopf, geh nur mit Gweldon, ich warte hier so lange auf die beiden Elfen“, versicherte Taluas. „Im Gegensatz zu Raja und euch habe ich nichts weiter vor, außer natürlich mir ordentlich den Bauch mit Speck und Tränenbrot vollzuschlagen.“

Saruna lächelte. „Na dann, lass es dir schmecken.“ Sie nahm ihren Rucksack und erhob sich.

„Wir verstauen noch eben unsere Sachen in den Zimmern und gehen dann auf den Markt“, erklärte der Alchemist. „Ich kann nicht genau sagen, wie lange wir weg sein werden, ein bis zwei Stunden vielleicht. Treffen wir uns danach wieder hier, in der Schankstube?“ Die Zwerge nickten. „Gut, dann also bis später.“

Nibelar - Die Gruft

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