Читать книгу Das Rubikon-Papier - Christoph Güsken - Страница 10
8. Kapitel
ОглавлениеFür zwölf Uhr fünfzehn war eine Dienstbesprechung anberaumt, doch sie verzögerte sich um eine gute halbe Stunde.
Andersen wollte die Zeit nutzen, um den Journalisten anzurufen, der von Zabern hatte interviewen wollen. Doch obwohl er sicher war, dass er den Zettel mit der Nummer auf seinem Schreibtisch abgelegt hatte, fand er ihn nicht wieder. Schließlich gab er auf.
Um viertel vor eins waren alle am Fall beteiligten Kollegen bis auf Hauptkommissar Grunwald eingetroffen. Andersen berichtete von seinem Besuch bei Nelli Holm, der Lebensgefährtin des Ermordeten, und seinem Gespräch mit Dr. Mackenstedt, der sich als Weggefährte und sein ärgster Widersacher bezeichnet hatte. Damit meinte er allerdings, erläuterte Andersen, dass die beiden über Jahre rein wissenschaftlich als Gegenspieler auftraten, um sich öffentlich zu positionieren. Sie hatten eine gemeinsame Fernsehsendung mit dem Titel Welt im Wandel – Chance oder Niedergang, in der Mackenstedt von Zabern als Untergangsprophet geißelte, während der seinen Gegenspieler der Schönfärberei bezichtigte.
Die routinegemäße Befragung der Nachbarn war noch nicht abgeschlossen. Bisher hatte sie nichts Brauchbares ergeben, bis auf die Aussage einer älteren Dame, die schräg gegenüber wohnte. Sie gab an, einen ‚jungen Halbstarken’ bemerkt zu haben, langhaarig mit Lederjacke. Er habe sich am Montag nachmittag kurz vor fünf von von Zaberns Grundstück aus zu seinem Wagen geschlichen, den er abseits geparkt hatte, obwohl direkt vor dem Haus Parkplätze frei gewesen seien. Unterwegs habe er sich mehrmals nach allen Seiten umgeschaut und sei ihr sehr verdächtig vorgekommen.
Was den Verbleib der mysteriösen Datei namens Rubikon betraf, gab es keinen Fortschritt. Ein Kollege mit altsprachlichem Hintergrund wies allerdings daraufhin, dass Rubikon ein winziges Flüsschen sei, das in Italien zwischen Ravenna und Rimini in die Adria fließe und in der Antike die Grenze zwischen Rom und seiner Provinz Gallia Cisalpina gewesen sei.
Wegen des großen Medieninteresses wurde im Anschluss an die Besprechung eine Pressekonferenz abgehalten, in der sich die Kollegen der Mordkommission dafür zu rechtfertigen hatten, warum sie nach gut einer Woche Ermittlungen immer noch keine konkrete Spur verfolgten.
***
Frank Grunwald betrat erst zehn Minuten nach dem Ende der Konferenz Andersens Büro. „Tut mir leid“, entschuldigte er sich. „Hab im Stau gestanden.” Er grinste verschwörerisch. „Aber dafür konnte ich ein paar Dinge erfahren. Über unseren Ermordeten.”
Die beiden Kripobeamten begaben sich in die Kantine, Andersen holte für sich und seinen Kollegen einen dünnen Kaffee aus dem Automaten, Grunwald gönnte sich zusätzlich noch ein Mohnstriezel aus der Glasvitrine. Dann ging‘s zurück in Andersens Büro. „Ich hab gestern Abend zufällig Iris getroffen.”
Andersen sah ihn fragend an.
„Meine Ex. Du kennst sie auch, wir sind schon mal zusammen ausgegangen, glaub ich jedenfalls. Ist aber eine Weile her.”
„Moment, ich dachte, Silvana wäre deine Ex.”
„Ist sie auch. Aber die kam viel später.”
„Na schön”, sagte Andersen. „Tut mir leid, dass ich die Reihenfolge nicht so richtig im Kopf behalte. Also was hat Iris dir erzählt?”
„Sie ist Radiomoderatorin - na, dämmert‘s jetzt? Und sie kennt von Zabern, weil sie ihn mal zu Gast im Studio hatte. Und dann, später, haben sie noch zusammen einen Kaffee getrunken.”
„Wie lange ist das her?”
„Keine Ahnung. Über ein Jahr bestimmt. Jedenfalls beschreibt sie von Zabern als sehr eitel und von sich überzeugt. Außerdem sei er ein Wendehals.”
„Ein Wendehals?”
„Jemand, der gern und ohne große Probleme die Seiten wechselt. Früher hat er sich in der außerparlamentarischen Opposition einen Namen gemacht und sich in Naturschutzorganisationen engagiert, dann hat man ihn für‘s Fernsehen entdeckt. Die Karriere ging steil nach oben, die ehernen Grundsätze und Prinzipien verschwanden in der Schublade. Von Zabern war Everybodys Darling und machte den Wetteronkel im Fernsehen.” Grunwald stellte den leeren Teller auf dem Schreibtisch zwischen den Papierstapeln und leckte sich die klebrigen Finger ab. „Na ja, und dann kam doch wieder was von dem alten Revoluzzer zum Vorschein: Der Mann schrieb ein oder zwei Bücher über den Klimawandel. Seine Fernsehprominenz sorgte dafür, dass sie Bestseller wurden. Und er avancierte dann zu einer Art Klimaexperten.”
„Dann könnte seine Gattin also doch richtig liegen mit ihrem Verdacht, dass er sich irgendwo einen Feind gemacht hatte?”
„Iris kann das jedenfalls nicht bestätigen. Was nichts heißen will. Gerüchteweise hat sie übrigens gehört, dass von Zabern sich in letzter Zeit eher mit konservativen Kreisen gemein gemacht hätte. Du kennst ja die Abendland!-Bewegung.”
Andersen verzog das Gesicht. „Roland und seine europäischen Patrioten - was wollte er denn bei denen?”
„Tja, als echter Wendehals hast du immer ein feines Gespür dafür, woher politisch der Wind weht.”
„Also, das passt jetzt überhaupt nicht zu dem, was Nellie Holm von ihm erzählt hat. Außerdem war von Zabern ein Intellektueller. Armin Roland, der ist doch eher was für den Pöbel, oder nicht?”
„Immerhin gibt es viele, die in ihm den neuen Kanzler gesehen haben.”
„Gesehen haben? Was soll das heißen?”
„Hast du es noch nicht gehört? Es kam in den Nachrichten.”
„Was denn?”
„Roland wurde Opfer eines Attentats. Während einer Kundgebung hat man auf ihn geschossen.”
„Er ist also tot?”
„Keine Ahnung. Jedenfalls wurde das noch nicht bestätigt. Nur dass er verletzt wurde.”
Es klopfte. Ein Mann steckte den Kopf zur Tür herein. An seiner Schläfe klaffte eine blutige Schramme.
„Falls Sie ein Attentat melden wollen”, flachste Grunwald, „dafür sind wir nicht zuständig.”
Der Mann machte ein begriffsstutziges Gesicht. „Entschuldigen Sie“, sagte er. „Ich wollte zu Hauptkommissar Andresen.“
„Andersen“, sagte Andersen.
„Mein Name ist Kerkhoff. Man sagte mir, dass Sie den Fall Dr. von Zabern bearbeiten.“
Andersen erhob sich und wies auf den freigewordenen Stuhl. „Treten Sie näher. Das ist mein Kollege, Hauptkommissar Grunwald. Wir haben Sie schon sehnlichst erwartet, Herr Kerkhoff.“
Der Mann, der eintrat, trug eine speckige Lederjacke. Obwohl er auf die fünfzig zugehen musste und sein Haar von vielen grauen Strähnen durchzogen war, erinnerte seine Frisur an die der Kriegsdienstverweigerer in den siebziger Jahren. Dazu passte eine Nickelbrille mit kreisrunden Gläsern. „Rudi Kerkhoff“, stellte er sich zum zweiten Mal vor. „Ich bin Blogger und recherchiere sozusagen in Ihrem Mordfall.“
„Was meinen Sie mit ‚sozusagen’?“, erkundigte sich Andersen freundlich.
„Nun, ich nehme einmal an“, Kerkhoff warf Grunwald, der hinter ihm stand, einen unsicheren Blick zu, „Sie ermitteln den Mörder Dr. von Zaberns. Und ich sehe diesen Vorfall in einem, sagen wir einmal, größeren Zusammenhang.“
„Wie interessant. Sie meinen Ufos, nicht wahr?“
„Mir ist klar, dass Sie das für einen Witz halten.“ Dem Blogger war die Routine im Umgang mit Spott anzumerken. „Aber wenn es wirklich nur das wäre, wie ist es dann zu erklären, dass man mich plötzlich verfolgt? Dass man meine Wohnung durchwühlt und mein Leben bedroht?“ Er befühlte die Wunde an seiner Stirn.
„Wie ist das passiert?“, erkundigte sich Grunwald.
„Ich konnte gerade noch von einem Garagendach springen, sonst hätten die mich gehabt. Leider bin ich auf einem der Müllcontainer aufgekommen.“
„Uns interessiert vorrangig, was Sie über den Tod von Zaberns wissen“, sagte Andersen. „Was Sie bei ihm zu suchen hatten.“
„Ich war nicht dort. Wir hatten uns für ein Interview verabredet, aber das kam nicht zustande. Ich war zu spät und überall waren Ihre Beamten. Da wollte ich mich dann nicht mehr einmischen.“
„Und was sagen Sie dazu, dass Sie am Tatort gesehen wurden?“
Kerkhoff strich sich über sein unrasiertes Kinn. Er sah Grunwald fragend an, der bestätigend nickte.
„Also gut, Kommissar. Ich bin dagewesen, weil ich dachte, ich würde Dr. von Zabern noch antreffen, obwohl ich zu spät war. Aber da war er schon tot.“
„Und was dann?“
„Der Mörder war noch da und muss zunächst die Flucht ergriffen haben. Doch später hat er sich an meine Fersen geheftet, wahrscheinlich glaubt er, dass ich etwas in Erfahrung gebracht habe.“
„Haben Sie das denn?“
„Wie sollte ich, Kommissar? Als niemand öffnete, kam ich über die Terrasse und fand von Zabern tot im Arbeitszimmer. Da habe ich gemacht, dass ich weg kam.“
„Sie kamen nicht auf die Idee, uns zu verständigen?“
„Leider nein, Herr Kommissar. Im Nachhinein bedauere ich das natürlich.“
„Natürlich. Sie haben nicht zufällig einen USB-Stick mitgenommen? Oder einen anderen Datenträger?“
Kerkhoff machte ein geradezu schockiertes Gesicht. „Ich weiß, dass es nicht richtig war, sich davonzustehlen. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich Beweismaterial unterschlagen würde.“
„Zuerst haben Sie auch behauptet, nicht am Tatort gewesen zu sein“, gab Grunwald zu bedenken.
„Ich möchte noch einmal auf den größeren Zusammenhang zu sprechen kommen“, sagte Andersen. „Sie wollen der Welt beweisen, dass es Ufos gibt, richtig?“
„Ich will gar nichts beweisen, sondern herausbekommen, warum man es verheimlicht. Erst vor einer Woche war ich in den schottischen Highlands, wo so ein Ding abgestürzt ist.“
Andersen nickte. „So stand es in Ihrem Artikel zu lesen.“
„Ich weiß, Sie halten alles für Humbug. Aber als ich einen EU-Parlamentarier befragen wollte, der mit der Sache zu tun hat, hat man mich mit dem Auto aufs Korn genommen, um ein Haar hätte man mich erwischt. Das habe ich mir nicht eingebildet.“
„Warum wollten Sie Dr. von Zabern interviewen? Er ist Klimaforscher und hat nicht das Geringste mit fliegenden Untertassen zu tun.“
Kerkhoffs Hand fuhr in seine Jackeninnentasche und zog mit einem einzigen Griff ein Foto heraus.
Andersen nahm es entgegen und sah zwei Männer, die in die Kamera lächelten. Einer der beiden trug weiße Hose und Jackett, in dem anderem, in Bermudashorts und T-Shirt, erkannte der Hauptkommissar Dr. von Zabern, wenn er auch noch wesentlich jünger war. Im Hintergrund befand sich etwas, das wie eine antike Ausgrabungsstätte aussah.
„Das ist Kevin Mansfield, ein britischer Historiker“, erklärte Kerkhoff und deutete auf den Mann neben von Zabern. „Die beiden Männer stehen direkt vor der Tempelanlage von Hagar Qim auf Malta. Sie ist über 5000 Jahre alt. Über die Erbauer weiß man bis heute so gut wie nichts. Machen Sie sich klar, dass das alles schon stand, als die Cheopspyramide noch nicht einmal geplant war. Dr. Mansfield hat aber inzwischen den klaren Beweis erbracht, dass die technischen Möglichkeiten der Jungsteinzeit bei weitem nicht ausreichten, um einen solchen Gebäudekomplex zu errichten.“
„Verstehe“, meinte Andersen. „Jetzt werden Sie mir außerdem erklären, dass man die eigentliche Form des Bauwerks sowieso nur aus der Luft erkennen kann.“
„Es ist ein Lorbeerblatt“, nickte der Journalist, ohne auf die Häme einzugehen. „Oder ein extraterrestrisches Symbol. Tatsache ist, dass sich die Symmetrie nur in einer Ansicht aus großer Höhe erschließt.“
„Und darüber wollten Sie Dr. von Zabern befragen?“
„Dieses Foto brachte mich auf die Idee, dass er sich möglicherweise mit außerirdischer Intelligenz beschäftigt. Deshalb bat ich ihn um ein Interview und er willigte ein.“
„Er erklärte sich bereit“, fragte Andersen ungläubig, „mit Ihnen über diese Dinge zu sprechen?“
„Höchste Zeit, dass alles auf den Tisch kommt. Alles ohne Ausnahme. Das sagte er wörtlich.“
„Einmal angenommen, Sie liegen richtig mit Ihrem Verdacht“, sagte Hauptkommissar Grunwald. „Warum, glauben Sie, will man verheimlichen, dass es so etwas gibt? Ein echtes Ufo, das wäre doch die Sensation.“
Kerkhoff zuckte mit den Schultern. „Aus Furcht, dass es eine Panik auslösen könnte? Oder weil es um das Geschäft des Jahrtausend geht? Ich habe keine Ahnung.“ Mit dem Ärmel wischte er sich den Schweiß von der Stirn und vermischte ihn dabei mit dem Blut aus seiner Wunde. „Investigativer Journalismus, meine Herren, gibt sich nicht mit windigen Vermutungen zufrieden. Er will Antworten, deshalb stellt er Fragen.“
„Ich besorge Ihnen ein Pflaster, dann können Sie das verbinden“, sagte Andersen.