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3. Kapitel

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Das Handy klingelte.

Dünn und aufdringlich piepsend verunglimpfte es ein Thema von Jo­hann Sebastian Bach, einem genialen Komponisten, der das Glück ge­habt hatte, lange vor der Erfindung der Telekommunikation zu ster­ben.

Hauptkommissar Nils Andersen hasste Mobiltelefone, in seinen Augen waren sie die Plage des einundzwanzigsten Jahrhunderts. Die Mensch­heit glaubte sich im Rausch vollkommener und allgegenwärti­ger Kom­munikation. Spätere Generationen dagegen würden vom Un­ter­gang der Privatsphäre sprechen.

„Ich bin‘s, Tatjana. Hast du Zeit?”

Sie hatten sich vor kurzem getrennt. Tatjana nannte ihn, wenn sie mit anderen sprach, ihren Ex. Er fand, dass sie nicht seine Ex war. Für den Moment konnte man nur sagen, dass sie nicht zusammenlebten.

„Wie man‘s nimmt”, sagte er. „Wir sind auf dem Weg zu einem Tat­ort.”

„Es geht um Luise. Kann sie für ein paar Tage zu dir zu Besuch kom­men?”

„Warum jetzt?”, entfuhr ihm. Schnell korrigierte er sich: „Natürlich, gern. Jederzeit. Ich verstehe nur nicht, warum, schließlich wollte sie bisher nie …”

„Da solltest du sie fragen.” Tatjana wartete.

„Also gut”, sagte er. „Wann?”

„Wie wär‘s mit heute Abend? Und am Mittwoch wolltest du doch so­wieso zum Abendessen kommen. Elmar freut sich schon darauf, dass ihr euch endlich kennenlernt.”

Das war ihr Neuer. Elmar Stieleke. Dozent an der Uni, Kandidat der Linken für ein Landtagsmandat. Was ihre Lebenspartner anging, ging es für Tatjana klar nach oben: erst der Bulle, dann ein Linksintel­lek­tu­eller. Wie gern hätte er Tatjana die Freude gemacht und gesagt, dass die Freude ganz auf seiner Seite sei. „Also gut”, sagte er, „dann am Donnerstag.”

„Wir kochen auch was Leckeres, versprochen.”

Andersen unterbrach die Verbindung und steckte das Smartfone ein. „Das war Tatjana”, sagte er.

Hauptkommissar Frank Grunwald war zwei Jahre jünger als Ander­sen. Eingefleischter Single, der eine ganze Legion von Frauen seine Ex nannte. Andersen kannte ihn schon etliche Jahre als einen Mann, der heimlich dem Prototyp des US-amerikanischen Cop nacheiferte, was wahrscheinlich seinen Erfolg bei den Frauen ausmachte. Heim­lich - weil er gleichzeitig für Filme schwärmte, in denen mutige Kom­missare gegen die da oben und ihre Machenschaften vorgingen, und sich als Kämpfer für die kleinen Leute sah.

Es regnete in Strömen. Andersen machte eine Bemerkung über das lausige Wetter und schaltete die Scheibenwischer einen Gang schnel­ler.

„Angeblich soll es ab nächste Woche besser werden“. Grunwald deu­tete nach links. „Musst du da nicht abbiegen?“

„Keine Ahnung.“ Andersen setzte den Blinker. „In dieser Nobelge­gend kenne ich mich nicht aus.“

Sie bogen in eine Allee ein, die an der nördlichen Seite des Sees ent­lang führte. Schließlich hielten sie vor einer der Villen, deren Grund­stücke direkt an die Grünanlage grenzte, die den See umgab.

Das Haus war weiß getüncht und trug ein Dach aus blankgeputzten blauen Ziegeln. Aufgrund seiner enormen Breite wirkte es wie ein Flachbau, obwohl es zweistöckig war. Den Vorgarten beherrschte ein mannshoher Granitklumpen, der an einen Grabstein erinnerte. Die Haus­tür stand offen.

„Nicht besonders schön, aber ein Palast“, kommentierte Andersen.

„Benno von Zabern“, erklärte Grunwald. „So heißt der Ermordete. Einer der wenigen Promis in unserer Stadt. Er hat Bücher geschrieben und Fernsehsendungen moderiert.“

„Sowas hätte ich auch machen sollen statt Bulle.“ Andersen trat ein und kollidierte mit Lingen, einem Beamten der Schutzpolizei.

„Folgt mir, Kollegen“, sagte der junge Mann.

Durch einen breiten Flur gelangten die beiden Hauptkommissare in ein großes Wohnzimmer, das wie der Leseraum einer Bibliothek wirk­te. Hunderte von Büchern füllten die Regale, die bis zur Decke reich­ten. Der Schreibtisch stand mitten im Raum, mit Blick aus dem Fens­ter über den leicht abschüssigen Rasen zum See hinunter. Seine Schub­laden waren herausgerissen worden und ihr Inhalt, lose Blätter, Disketten und Büroklammern auf dem Boden verteilt. Einen halben Meter von dem Chaos entfernt lag der Tote, ein schlanker Mann, schätzungsweise Mitte sechzig. Er trug Turnschuhe, eine blaue Jog­ginghose und ein kurzärmliges Sweatshirt. Unter den Achseln konnte man Schwitzflecken erkennen.

„Man hat ihn aus nächster Nähe erschossen“, erklärte Dr. Künzel, die Gerichtsmedizinerin, die neben dem Toten stand. Sie deutete auf ein kleines, sauberes Einschussloch in der Stirn des Ermordeten. „Demnach müsste sich der Täter ungefähr dort am Schreibtisch befun­den haben.“ Sie lächelte gestresst. „Aber erst mal guten Abend, die Herrschaften.“

Sowohl Grunwald also auch Andersen waren lange genug bei der Kri­po, um sich mit wenigen Blicken einen Überblick über die Lage ver­schaffen zu können.

„Tja, das nennt man wohl eine Standardsituation“, meinte Ander­sen. „Dieser Mann ...“

„Dr. Benno von Zabern“, sufflierte Grunwald.

Andersen trat zum großen Fenster, wo ein Kollege von der Spuren­si­cherung ein kreisrundes Loch in der Scheibe auf Spuren untersuchte.

„Von Zabern kehrte vom Joggen nach Hause zurück und überrasch­te den oder die Einbrecher auf frischer Tat. Vielleicht bedrängte er ihn, das würde erklären, dass er ihm so nahe kam. Und dass der Täter in Pa­nik geriet und schoss.“

„Wer hat ihn gefunden?“, erkundigte sich Grunwald.

„Nelli Holm, seine Lebensgefährtin“, antwortete Lingen. „Sie ist oben im Schlafzimmer. Ziemlich fertig.“

„Bringen Sie mich zu ihr.“

Während Hauptkommissar Grunwald dem Polizisten zur Treppe folgte, nahm Andersen den Tatort weiter in Augenschein. Einbruch, dachte er, ist die nächstliegende Möglichkeit. Zweite Möglichkeit: Je­mand möchte, dass wir es für einen Einbruch halten.

Um herauszufinden, mit welcher der beiden Möglichkeiten man es zu tun hatte, war es hilfreich, die Unordnung im Raum einer genauen Un­tersuchung zu unterziehen. Es gab nämlich kleine, verräterische De­tails, anhand derer man eine wirkliche von einer nur vorgetäuschten Un­ordnung unterscheiden konnte. Die vorgetäuschte war meist umfas­sender, aber wahlloser. Der Einbrecher hätte beispielsweise reihenwei­se Bücher aus den Regalen ziehen können, um den Eindruck von hek­tischem Chaos zu verstärken. Doch selbst die unteren Böden waren un­angetastet, Bücher standen säuberlich Rücken an Rücken.

Der Täter hatte sich hauptsächlich auf den Schreibtisch konzen­triert. Auf der Platte lag alles wild durcheinander, die Schreibtischlam­pe war umgestürzt und auf einen Aschenbecher gefallen, der seinen Inhalt überall verstreut hatte.

Wie hatte der Schreibtisch wohl ausgesehen, bevor man ihn in ein Cha­os verwandelt hatte? Vorsichtig räumte Andersen den Papierwust mit dem Ärmel zur Seite und legte einen Schreibblock frei. Meine Kleine, stand dort, mit Kugelschreiber geschrieben, ich weiß nicht, wie ich es dir sagen soll. Vielleicht aber ist es auch gar nicht mehr nö­tig. Trotzdem werde ich versuchen, dir zu erklären -

Ein angefangener Brief.

Lingen war wieder zurück und trat neben den Hauptkommissar. „Es sind noch mehr Zimmer im Haus durchwühlt worden“, sagte er. „Im Schlafzimmer hat der Täter eine Vitrine aufgebrochen.“

„Fehlt etwas?“

„Es sieht so aus. Die Vitrine scheint Schmuck enthalten zu haben, je­denfalls steht eine leere Schatulle darin. Wir warten aber noch dar­auf, dass Frau Holm wieder ansprechbar ist und nähere Angaben ma­chen kann.“

„Ein Einbruch macht Sinn.“ Andersen nickte und kratzte sich am Kopf. „Das Haus macht schließlich nicht den Eindruck, als könnte man hier nur wertlose Klunker abräumen.“

Lingen deutete auf den Computer. „Wir fanden das Gerät einge­schaltet vor. Der Ermordete scheint daran gearbeitet zu haben, bevor er zum Jog­gen aufbrach.“

Das leise singende Geräusch des Lüfters, der die Festplatte kühlte, hat­te Andersen bei den vielen Hintergrundgeräuschen bis jetzt nicht wahrgenommen. Er bewegte die Maus, worauf der Monitor zum Le­ben erwachte und ein Verzeichnis anzeigte, in dem sich nur eine Datei befand: Rubikon. „Wollen wir doch mal sehen“, sagte Andersen und wollte das Dokument anklicken. Nichts geschah. Der Bildschirm war eingefroren.

„Sehen Sie das Verzeichnis?“, sagte Lingen. „Wechseldatenträger E. Die Datei befindet sich wahrscheinlich auf einem USB-Stick.“

Andersen überprüfte alle PC-Eingänge. „Wo ist das Ding geblie­ben?“

Drei CDs lagen auf dem Schreibtisch vertreut. Der Kommissar sam­melte sie auf und drückte sie Lingen in die Hand. „Würden Sie mir den Gefallen tun herauszufinden, ob sich die Datei auf einer von ihnen befindet?“

„Da ist noch etwas“, sagte der Polizeibeamte. „Eine Nachricht auf dem Anrufbeantworter. Wir fanden das Gerät unter dem Chaos auf dem Schreibtisch.“ Der junge Mann bückte sich, hob es vom Boden auf und drückte einen Knopf.

Es piepste.

„Rudi Kerkhoff hier, der Journalist. Sie erklärten sich freundlicher­weise bereit, mir ein Interview zu geben. Leider stecke ich im Stau und schaffe es nicht, um sechzehn Uhr bei Ihnen zu sein. Wäre Ihnen eine halbe Stunde später recht? Wenn nicht, können Sie mich über Handy erreichen. Ich gebe Ihnen meine Nummer ...“

„Frau Holm benachrichtigte uns um siebzehn Uhr vierunddreißig“, sagte Lingen. „Als dieser Anruf kam, war Herr von Zabern vermutlich joggen.“

Dr. Künzel näherte sich. „Ich bin soweit fertig. Alles nähere wie üblich in meinem Bericht.“

„Sechzehn Uhr dreißig“, sagte Andersen. „Was glauben Sie, Dok­tor, käme das als Tatzeit in Frage?“

Die Rechtsmedizinerin nickte. „Wie gesagt, bis jetzt gibt’s nur Ver­mutungen. Aber sechzehn Uhr dreißig ist eine ziemlich gute Vermu­tung.“ Sie winkte mit einer Zigarette, die sie noch nicht angezündet hatte. „Schönes Wochenende, die Herren. Und ziehen Sie sich warm an. Es soll recht frostig werden.“

Andersen nickte zufrieden. Er ließ die Nachricht noch einmal lau­fen und notierte die Nummer auf dem Zettel. „Kerkhoff, der Journa­list“, sagte er. „Es könnte lohnenswert sein, diesen Herrn kennenzuler­nen.“

Frank Grunwald kam die Treppe herunter und betrat das Wohnzim­mer hinter den Kollegen, die gerade anrückten, um die Leiche abzu­trans­por­tieren.

„Wie geht’s Frau Holm?“, erkundigte sich Andersen.

„Schon besser“, meinte Grunwald. „Sie hat sich schon umgesehen, ob etwas gestohlen wurde.“

„Und?“

„Die Vitrine im Schlafzimmer enthielt eine Schatulle mit einem Col­lier und Ohrringen.“

„Das ist doch schon was.“

„Frau Holm sagt allerdings, dass die Stücke nicht sehr viel Geld brin­gen werden. Es sind Erinnerungstücke, die vorwiegend einen ide­ellen Wert haben.“

„Trotzdem“, sagte Andersen. „Damit sieht die Sache schon rund aus.“

„Sie sind wertvoll für mich, weil Benno sie mir schenkte, als wir uns kennenlernten“, erklärte die Frau, die hinter Hauptkommissar Grun­wald das Zimmer betrat.

Nelli Holm war kräftig gebaut, hatte ein rundes Gesicht und stroh­far­benes lockiges Haar. Sie trug Jeans und einen Wollpulli. Andersen war einen Moment irritiert, aber nicht, weil von Zabern mit einer Frau zu­sammengelebt hatte, die seine Tochter sein konnte. Sein erster Ein­druck war vielmehr, dass diese Frau nicht in ein nobles Haus wie die­ses gehörte, mit seinen Marmorböden und den Legionen von Büchern. Frau Holm schien ihm eher der Typ zu sein, der sich auf einem Bau­ernhof wohlfühlte, naturverbunden und ohne modische Mätzchen.

Er trat auf sie zu. „Hauptkommissar Andersen“, stellte er sich vor. „Bei den meisten Einbrüchen nehmen die Diebe alles mit, das irgend­wie nach Schmuck aussieht. Das ist nichts Ungewöhnliches. Es wäre sehr hilfreich, wenn Sie eine Liste der gestohlenen Stücke erstellen und uns Fotos an die Hand geben könnten, auf denen sie zu sehen sind.“

„Benno wurde ermordet“, sagte die junge Frau mit monotoner Stim­me. „Aber nicht von Einbrechern, die nur auf Schmuck aus wa­ren.“­

„Vieles deutet darauf hin, dass Ihr Mann gerade im falschen Mo­ment nach Hause zurückgekehrt ist“, sagte Grunwald verständnisvoll. „Dass er wegen eines dummen Zufalls sein Leben verlor, fällt schwer zu ak­zeptieren.“

„Nein“, beharrte Nelli. „So war es nicht.“

„Haben Sie einen bestimmten Verdacht?“, erkundigte sich Ander­sen.

Mit einer Geste umfasste sie das Arbeitszimmer und die Bücherre­gale. „Lesen Sie seine Bücher. Sehen Sie sich seine Fernsehsendungen an. Benno war ein Mann, der gekämpft hat. Er hatte ein Ziel vor Au­gen und war sich immer bewusst, dass er Leuten in die Quere kam. Sie sich zum Feind machte.“

„Wer waren denn seine Feinde?“

„Er legte sich mit der Industrie an, mit Politikern, mit großen Kon­zernen. Vielen von denen war er ein Dorn im Auge.“

„Die Politiker? Oder die Konzerne?“, fragte Grunwald nach. Ein spöt­ti­scher Unterton hatte sich in seine Stimme geschlichen. „Wer von ih­nen hat Ihrer Meinung nach Ihren Mann ermordet?“

Nelli schüttelte trotzig den Kopf.

„Gibt es einen akuten Anlass für Ihren Verdacht?“

„Anlässe gab es immer. Benno war sich im Klaren, dass eines Ta­ges so etwas passieren könnte.“ Sie wandte sich ab und zog ein Ta­schen­tuch.

„Wir werden Sie jetzt erst mal in Ruhe lassen“, versprach Ander­sen, der Grunwald einen vorwurfsvollen Blick zuwarf, und berührte Frau Holm an der Schulter. „Wenn Ihnen noch etwas einfällt, melden Sie sich bitte bei uns.“

„Und vergessen Sie die Fotos nicht“, mahnte Grunwald. „Die könnten uns zu den Tätern führen.“

Das Rubikon-Papier

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