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9. Kapitel

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Alles deutet darauf hin, dass Gott, als er die Welt erschuf - insbe­son­dere die Erde und alles, was auf ihr kreucht und fleucht - einen großen Modellversuch im Sinn hatte. Er hatte herausgefunden, dass nirgend­wo im grenzenlosen All eine solche Flora und Fauna gedeihen konnte. Entweder war es eiszeitlich kalt wie auf dem Mars oder ko­chendheiß wie auf der Venus. Man brauchte eine Durchschnittstempe­ratur von fünfzehn Grad Celsius, damit überhaupt etwas gedeihen konnte.

Also entschloss er sich, seine geliebten Setzlinge in einem Treib­haus heranzuzüchten.

Dazu versah er die Erde mit einer Art Glasdach aus atmosphäri­schem Wasserdampf, der sie vor schädlicher Sonnenstrahlung schütz­te und die Sonnenwärme speicherte.

Die Natur gedieh und brachte den Menschen hervor. Der vermehr­te sich rasend schnell und bildete eine hochtechnisierte Zivilisation, die auf Mengen und Abermengen fossiler Brennstoffe angewiesen war. Die Temperaturen im Treibhaus stiegen, das Leben wurde unangeneh­mer: der Schnee schmolz, das Wasser überflutete die Küsten. Der Mo­dellversuch scheiterte kläglich.

Gott hatte wohl nicht bedacht, dass seine einzigartige Schöpfung so et­was wie den Homo Sapiens hervorbringen würde, das war die einzi­ge Schwachstelle in seinem Projekt. Doch heutzutage gehen wir davon aus, dass es keinen Gott gibt. Die Frage ist also: Wer führt die­ses Treib­hausexperiment durch und zu welchem Zweck?

B. von Zabern in Spruch und Widerspruch.

Am Nachmittag verbrachte Andersen viel Zeit damit, die Heizung in seinem Büro zum Heizen zu bewegen, statt ein störendes glucksen­des Geräusch von sich zu geben. Schließlich resignierte er, nahm das Ma­te­rial, das ihm Nelli Holm zur Verfügung gestellt hatte und zog in den Besprechungsraum um, wo es nicht nur einen funktionierenden Heiz­körper, sondern auch einen Videorekorder gab.

Nelli Holms Sammlung umfasste circa zwanzig Videocassetten, eine Handvoll DVDs, dazu eine dicke Mappe mit gesammelten Zei­tungs­aus­schnitten, Würdigungen und Redetexten. Eine beeindrucken­de Men­ge. Es schien, als hätte Nelli sich auf den Tag vorbereitet, an dem sie als Hinterbliebene des großen Benno von Zabern die Presse mit lückenlosem Material für die Nachrufe versorgte.

Andersen hatte keine rechte Vorstellung davon, was er sich ansehen wollte, und machte sich nicht lange die Mühe, die krakelige Hand­schrift auf den Etiketten zu entziffern. Wahllos legte er eine Cassette ein und sah von Zabern in einer Gesprächsrunde, nach seinem Ausse­hen zu urteilen handelte es sich um einen relativ jungen Mit­schnitt. Das zweite Video zeigte den Wissenschaftler gut zehn Jahre jünger, wie er vor einem großen Auditorium eine Rede hielt, allerdings auf Englisch. Andersen spulte vor und landete bei einer zwanzigminü­tigen Dokumentation über die Vita des Wissenschaftlers. Benno von Za­bern, Jahrgang 46, ging 1968 gegen den Vietnam-Krieg auf die Straße, später machte er eine steile Karriere als Wissenschaftler. Er ge­hörte dem Club of Rome an, der 1972 den vielbeachteten Sachstands­bericht über die Grenzen des Wachstums veröffentlichte. Von Zabern errregte internationales Aufsehen mit dem kapitalismuskritischen Bestseller fünf vor zwölf und wurde kurz darauf vom Fernsehen ent­deckt. In den folgenden Jahrzehnten moderierte er zahlreiche Wissen­schaftssendun­gen, die Nelli nahezu vollständig auf Video aufgezeich­net hatte.

An­dersen verschaffte sich nur einen oberflächlichen Über­blick: Reden über das Wetter, ein Magazin, das vor über zwanzig Jah­ren ausge­strahlt worden war, Spruch und Widerspruch, eine kontrover­se Talk­show mit prominenten Gästen und Welt im Wandel - Chance oder Nie­dergang. Andersen lernte das Fernsehgesicht eines eloquen­ten und gutaussehenden Mannes kennen, der mal ein souveräner Ge­sprächsleiter, mal wendiger Studiogast war. Von Zabern konnte char­mant sein, aber auch knallhart, und bei Bedarf legte er eine geradezu abstoßende Arroganz an den Tag. In jeder Situation schien er Herr der Lage zu sein, ein Mensch, der gewohnt war, auf Widerspruch zu sto­ßen und dies sogar genoss.

Wer war der private von Zabern, der sich hinter all diesen Attitüden verbarg? Anne, seiner Tochter, zufolge hatte die Arbeit für ihn an ers­ter Stelle gestanden. War er einer dieser Medienmenschen gewesen, die mit den Jahren des Erfolgs die eigene Persönlichkeit mit dem künstlich geschürten Bildschirm-Image verwechselt hatten?

Seit Anfang der achtziger Jahre war von Zabern mehr und mehr zu einem Guru der Friedens- und Umweltbewegung avanciert. Ein Atten­tat, das 1985 auf ihn verübt wurde und ihn nur leicht verletzte, ver­stärkte sein Image als weltweite Identifikationsfigur. Fotos dokumen­tierten von Zaberns Prominenz: Er war an der Seite des Papstes zu se­hen, schüttelte auf dem Gipfel der G8-Staaten in Genua die Hand des britischen Premierministers. In einem Zeitungsinterview versicherte er, angesprochen auf seinen inzwischen legendären Bestseller, dass man den klimatischen Zustand der Welt zu sehr verharmlose, wenn man von fünf vor zwölf rede. „Die korrekte Uhrzeit ist zwanzig nach zwölf oder sogar noch später, doch dazu muss man sich klarmachen, dass der Handlungsspielraum der Regierungen heutzutage im Ver­gleich zu damals sehr stark eingeschränkt ist. Internationale Konzerne bestimmen weitgehend die Politik und auch die werden nicht von Men­schen, sondern von langfristigen Strategien zur Gewinnmaximie­rung geleitet. Die Globalisierung verdammt die Menschheit quasi da­zu, die Hände in den Schoß zu legen.“

„Das macht die Sache also um so dramatischer?“

„Ich würde sagen: um so tragischer. Für Dramatik ist es zu spät.“

Der Hauptkommissar schob erneut ein Video ein. Dieses Mal warn­te ein in die Jahre gekommener, abgeklärter Benno von Zabern in ei­nem Interview vor Schwarzmalerei. Der Jahrhundertwinter, der in Nordeu­ropa Tausende von Opfern gefordert habe, mache jedoch auf ein­drucks­volle und drastische Weise deutlich, dass es, was die Not­wen­digkeit von entschlossenen Gegenmaßnahmen betreffe, fünf vor zwölf sei.

Erst fünf vor, dann zwanzig nach, dann wieder fünf vor. Offenbar, dachte Andersen, ist seine Uhr manchmal vor- und machmal rück­wärts gegangen. Ein Blick auf die eigene Uhr sagte ihm, dass der Fei­erabend nicht mehr weit war.

Er sah sich noch einmal die erste Cassette an, da sie einen späten Fernsehauftritt von Zaberns dokumentierte. Wie ein kurz nach dem Start eingeblendetes Datum verriet, war diese Aufzeichnung erst drei Wochen alt.

Außer der Moderatorin und von Zabern gab es noch drei andere Stu­diogäste: einen Sozialwissenschaftler der Wilhelmsuniversität Mün­ster, einen Vertreter der Landesregierung und eine Umweltaktivis­tin der Regenwaldpiraten. Die Runde setzte sich über die Frage Öko­logie in der Politik – kein Thema? auseinander. Andersen beobachtete von Zabern, der sich entspannt in seinen Sessel zurücklehnte und der Dis­kussion wie von weitem zu folgen schien, und wartete gespannt auf den Streit, der laut Nelli zwischen ihm und der Aktivistin ent­flammt war.

Leider erwies sich das Video als fehlerhaft. Sekunden bevor sich von Zabern in die Diskussion einmischte, versagte der Ton. Der Wis­sen­schaftler gestikulierte, die Kamera zoomte ganz nahe an ihn heran. Von Zabern hatte ein rotes Gesicht und eine Ader an seiner Schläfe trat hervor. Der Uniprofessor neben ihm musterte ihn besorgt, gerade­zu perplex, dann begann die Gegenattacke der Umweltschützerin, die von Zabern mit verschränkten Armen, aber immer noch schwer at­mend, über sich ergehen ließ.

Mit einem Ruck blieb das Videoband stecken. Das Bild ver­schwand.

„Na gut“, meinte Andersen und schaltete das Gerät aus. „Dann also Feierabend.“

***

Er hatte das Gefühl, wieder einen Nachmittag verschwendet zu ha­ben. Trotz der ermüdenden Flut von Fernsehbildern konnte er sich im­mer noch keine rechte Vorstellung vom Ermordeten machen. Andersen brauchte sie aber, um ermitteln zu können. Darüberhinaus spielte es eine Rolle für ihn, ob das Mordopfer ihm sympathisch war. Nicht dass er seine Arbeit nur dann tun konnte, wenn das der Fall war. Es funkti­o­nierte auch, wenn er ihn unsympathisch fand. Doch die Frage, ob oder ob nicht, musste entschieden sein. Und was Dr. von Zabern be­traf, so schien ein ganzer Berg Videocassetten nicht zu reichen, sie zu beantworten.

Dennoch, da war etwas, dessen Andersen erst im Nachhinein ge­wahr wurde. Ein kleiner Makel im ansonsten rundum makellos ge­schönten TV-Image des Wissenschaftlers. Der Hauptkommissar rief sich wieder die Szene ohne Ton in Erinnerung: Von Zabern mit hoch­rotem Kopf, gestikulierend. Wo war der smarte Moderator, der locker plaudernde Gesprächspartner, der niemals die Kontrolle verlor, so wie er sich in ausnahmslos allen anderen Fernsehmitschnitten präsentiert hatte? Was hatte von Zabern so erregt, dass er aus sich herausgegan­gen war?

Es konnte nicht schaden, wenn Andersen sich mit einem der Stu­dio­gäste unterhielt.

Das Rubikon-Papier

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