Читать книгу Ján Kuciak - Christoph Lehermayr - Страница 8

Kinder des Sozialismus

Оглавление

In Gedanken ist Kuciak wohl seine Recherchen wieder und wieder durchgegangen, während er durch die Kälte eilt. Er folgt dabei einer Route, die denen, die ihm nach dem Leben trachten, vertraut ist. Von der Redaktion mit dem Bus zum Bahnhof, von dort, wo jede Stunde auch der Regionalexpress aus Wien ankommt, weiter mit dem Zug in die Bezirksstadt Galanta. Gut eine halbe Stunde Fahrt. Und dann die letzten Kilometer mit dem Auto nach Hause. Es ist Kuciaks tägliche Routine – und seine Mörder kennen sie. Ohne dass er es geahnt oder gar bemerkt hätte, ist Kuciak beschattet worden. Fotos, die viel später sichergestellt werden, zeigen ihn beim Verlassen der Redaktion, beim Warten auf den Bus und sogar bei sich daheim, bei Renovierungsarbeiten am Haus. Seine Mörder wissen, wer er ist, wie er aussieht und wo er wohnt. Sie verfügen über Daten, die aus dem Inneren des Sicherheitsapparats stammen. Auf Anweisung von oberster Stelle ist eine „Spinne“ von Kuciak abgerufen und weitergegeben worden. Der Polizeijargon bezeichnet so ein Beziehungsnetzwerk, in dessen Mitte die gesuchte Person steht, samt Meldeadresse, Kfz-Kennzeichen sowie etwaigen Eintragungen im Strafregister. Linien führen von ihr weg zu den Daten der Familienmitglieder. Ján Kuciak ist ausspioniert, beschattet und durchleuchtet worden. An diesem 21. Februar 2018 soll er sterben.

Vor dem Bahnhof von Galanta erwartet ihn eine Frau mit über die Schulter fallendem brünettem Haar: Martina Kušnírová, seine Verlobte. Die beiden gleichaltrigen Studienkollegen haben sich 2013 an der Uni in Nitra kennengelernt und sind seither ein Paar. In gut zwei Monaten, am 5. Mai, wollen sie heiraten. Bis dahin dreht sich alles um die Vorbereitungen auf den großen Tag. Den Nachmittag über ist Kušnírová zu Hause gewesen. Sie hat im Internet nach schönen Aufklebern für die Weinflaschen bei der Hochzeit gesucht. Später ruft sie ihre Mutter an, nachdem ihr diese am Vortag gestanden hat, für die Hochzeit extra einen Kredit aufgenommen zu haben. „Aber Mama, das ist doch nicht nötig“, ärgert sich Kušnírová, „Janko und ich haben genug Geld dafür auf die Seite gelegt.“

Ihre Mutter ist Witwe und hat sich ihr ganzes Leben lang alles vom Mund absparen müssen, um die zwei Kinder und sich über die Runden zu bringen. Auch bei den Kuciaks, die drei Kinder haben, ging es sich trotz harter Arbeit oft hinten und vorne kaum aus. Als die Mutter 1989 mit ihrem ersten Kind Ján schwanger wurde, änderte sich für die Familie alles, was zuvor Gewissheit zu sein schien. Während der Bauch der Frau wuchs, zerbrach draußen das morsche realsozialistische System. Ján Kuciak kam am 17. Mai 1990 bereits in einem anderen Land zur Welt: Die Samtene Revolution war vollbracht, der Systemsturz vollzogen, Václav Havel Präsident, eine neue Ära angebrochen – und in der ging es bergab. Besonders die 1993 vom wohlhabenderen tschechischen Landesteil unabhängig gewordene Slowakei stand am wirtschaftlichen Abgrund. Viele der desolaten Fabriken schlossen, bald war jeder Dritte in der Region ohne Arbeit. Umso stolzer sind die Eltern jetzt auf ihre Kinder. Sie haben es geschafft – Kuciak als aufstrebender Journalist, Kušnírová als Archäologin. Und dort, bei Ausgrabungen im Osten des Landes, sollte sie eigentlich jetzt auch sein und nicht am Bahnhof stehen und auf ihren Verlobten warten. Doch der Schnee, der seit Tagen fällt, und die Kälte, die Mitteleuropa fest im Griff hält, haben ihre Pläne durchkreuzt. Auf dem Parkplatz vor dem Bahnhofsgebäude steht auch ein alter dunkelgrüner VW Passat Kombi, Baujahr 2003, den sich die beiden vor einiger Zeit günstig gekauft haben und der ihnen seither nur Probleme bereitet. Am Tag zuvor hat ihn Kuciak mit der Fernbedienung nicht mehr aufsperren können. Defekte Batterie, tippte der Schwager in spe am Telefon richtig. Es ist nach halb sieben am Abend, als Kuciak aus dem Zug steigt und seine Verlobte umarmt. Im Finsteren gelingt es ihm, den Kofferraum des Passat zu öffnen, durch ihn nach vorn zu klettern, die Motorhaube aufzumachen und die Batterie zum Aufladen mit nach Hause zu nehmen.

Ján Kuciak

Подняться наверх