Читать книгу Unternehmenskaufvertrag - Christoph Louven - Страница 42
(e) Wissens- und Verhaltenszurechnung (i) Wissenszurechnung
Оглавление292
Brisant kann die Haftung aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen wegen der Verletzung von Aufklärungspflichten für den Verkäufer deshalb werden, weil im Hinblick auf aufklärungsbedürftige Umstände dem Verkäufer rechtsformunabhängig
– nicht nur die Kenntnis der gesetzlichen Vertreter (nach der Rechtsprechung § 166 BGB, nach anderer Ansicht § 31 BGB analog) und der rechtsgeschäftlichen Vertreter (nach § 166 BGB) des Verkäufers zugerechnet wird, sondern auch
– die Kenntnis der sog. Wissensvertreter (analog § 166 BGB) des Verkäufers,
– das üblicherweise aktenmäßig oder in elektronischen Dateien604 festgehaltene Wissen des Verkäufers (analog § 166 BGB) und
– unter Umständen sogar auf Wissen der Zielgesellschaft zugerechnet605 wird.
293
Zudem geht die herrschende Lehre606
– von einer horizontalen Wissenszusammenrechnung aus, sodass Teilwissen von verschiedenen Wissensträgern und in verschiedenen Unternehmensabteilungen, das isoliert noch keine rechtliche Relevanz hat, „gleichsam mosaikartig“607 zusammengezogen und der Verkäufergesellschaft als Gesamtwissen zugerechnet wird.608
294
Schließlich nimmt der BGH609 an,
– dass bei einer Verkäufergesellschaft, der nach den Grundsätzen der Zurechnung üblicherweise aktenmäßig oder in elektronischen Dateien610 festgehaltenen Wissens bestimmte Informationen zugerechnet werden, bei der gebotenen wertenden Betrachtung auch die übrigen Voraussetzungen einer Haftung für vorsätzliches Verhalten oder Arglist vorliegen, dass also in diesen Fällen der Verkäufer zugleich weiß oder doch mit der Möglichkeit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass der Vertragsgegner den Fehler nicht kennt und bei Offenbarung den Vertrag nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt abgeschlossen hätte,
– sodass sämtliche im Unternehmenskaufvertrag vereinbarten Haftungsausschlüsse und -begrenzungen wegen des Vorsatzes bzw. der Arglist des Verkäufers unbeachtlich sind.
295
Zusätzlich haftet der Verkäufer nach § 31 BGB (analog) für Verschulden seiner Organe und Repräsentanten und nach § 278 BGB für das Verschulden seiner Erfüllungsgehilfen.
296
Die Verbindung von (beim Unternehmenskauf gesteigerten) Aufklärungspflichten mit den Grundsätzen der Wissenszurechnung und Wissenszusammenrechnung wird deshalb zu Recht als „toxische[r] Haftungscocktail“ für den Verkäufer bezeichnet.611 Dieser toxische Haftungscocktail mag künftig noch gefährlicher dadurch werden, dass der BGH – an aus M&A-Sicht entlegener Stelle612 – zugunsten des Klägers, der das Wissen des Beklagten nicht nachweisen kann, dem Beklagten eine sekundäre Darlegungs- und Beweislast dafür auferlegt. Danach muss der Beklagte, nachdem der Kläger bestmöglich ein mögliches Wissen des Beklagten dargelegt hat, im Rahmen einer sekundären Darlegungs- und Beweislast konkrete Anhaltspunkte für ein Nichtwissen des Beklagten darlegen und beweisen, auch auf Grundlage eigener Ermittlungen und Untersuchungen.613 Unwohl ist dem vertragsgestaltenden und verhandelnden M&A-Juristen auch deshalb, weil ihm verlässliche Orientierungspunkte fehlen. Denn M&A-Streitigkeiten werden regelmäßig vor Schiedsgerichten ausgetragen. Ihre Entscheidungen werden grundsätzlich nicht veröffentlicht. Eine Klärung von Streitfragen und eine „fallinduzierte Rechtsfortbildung“,614 an denen sich der M&A-Jurist etwa im Hinblick auf eine mögliche Wissens(zusammen-)rechnung orientieren könnte, findet nicht statt.615 Nicht nur die Unsicherheit von Streitparteien ist daher groß,616 sondern auch die der vertragsgestaltenden Juristen, die ihren Parteien wirksame Regelungen zur Wissenszurechnung im Kaufvertrag anbieten wollen.
297
Dass „der Verkäufer selbst“ die offenzulegenden Informationen kennt, was ja denklogische Grundvoraussetzung einer Aufklärungspflicht ist (man kann nicht über etwas aufklären, das man selbst nicht weiß), ist im Rahmen der Aufklärungspflichten irrelevant. Denn Kenntnis ist nach der Rechtsprechung anzunehmen, wenn Wissen dem Verkäufer nach diesen Grundsätzen zuzurechnen ist.617
298
Dem Verkäufer wird darüber hinaus, wie gesehen, nicht „bloß“ aus normativen Gründen Wissen zugerechnet. Der BGH fingiert vielmehr das voluntative Vorsatzelement, dass nämlich der Verkäufer auch mit der Möglichkeit rechnet und billigend in Kauf nimmt, dass sein Vertragspartner den „Fehler“ nicht kennt und bei Offenbarung den Vertrag nicht oder nicht mit dem vereinbarten Inhalt abgeschlossen hätte.618
299
Im Rahmen deliktischer Ansprüche nach § 823 Abs. 1 BGB i.V.m. § 263 StGB oder § 826 BGB findet eine solche Wissenszu(sammen-)rechnung richtigerweise nicht statt.619 Denn die Grundsätze der Wissenszu(sammen-)rechnung können weder den subjektiven Tatbestand des § 263 StGB noch die für § 826 BGB erforderliche Sittenwidrigkeit ersetzen.620 Regelmäßig dürften, neben einer Haftung nach den Grundsätzen des Verschuldens bei Vertragsverhandlungen, allerdings auch die Voraussetzungen einer Arglistanfechtung nach § 123 Abs. 1 Var. 1 BGB vorliegen.621
300
Nach der von der Rechtsprechung vertretenen „Organtheorie“622 muss sich eine juristische Person das Wissen ihrer vertretungsberechtigten Organmitglieder zurechnen lassen, auch wenn das betreffende Organmitglied an dem fraglichen Rechtsgeschäft nicht mitgewirkt hat.623 Dies gilt selbst dann, wenn es von dem Rechtsgeschäft nichts gewusst hat.624
301
Sie muss sich zudem das Wissen ihrer Wissensvertreter zurechnen lassen. Wissensvertreter ist jeder, der nach der Arbeitsorganisation des Geschäftsherrn dazu berufen ist, im Rechtsverkehr als Repräsentant des Verkäufers bestimmte Aufgaben in eigener Verantwortung zu erledigen und die dabei anfallenden Informationen zur Kenntnis zu nehmen bzw. weiterzuleiten.625 Dies dürften regelmäßig die Mitglieder des Verhandlungsteams des Verkäufers sein.626 Darüber hinaus dürften regelmäßig aber auch Mitglieder des Managements auf der Ebene unterhalb der Geschäftsleitung und Mitarbeiter in zentralen Führungspositionen darunter fallen. Dies gilt insbesondere dann, wenn sie (wenn auch nur punktuell627) als Informationslieferant in die Verhandlungen eingebunden sind.628 Regelmäßig nicht als Wissensvertreter dürften Sachbearbeiter oder Hilfspersonen in den entsprechenden Abteilungen angesehen werden. In Abhängigkeit davon, ob sie nach der Geschäftsorganisation eigenverantwortlich im Rechtsverkehr einen bestimmten Aufgabenbereich wahrnehmen, dürften Mitarbeiter unterhalb der Abteilungsleitung, Leiter von Unterabteilungen oder einzelnen Dezernaten regelmäßig ebenfalls als Wissensvertreter zu qualifizieren sein.629 Allerdings sind die Grenzen fließend.630 Die Beurteilung hängt stark vom Einzelfall, insbesondere der Größe und Organisationsform der Verkäufergesellschaft, ab. Unter Umständen kommt sogar eine Zurechnung externer Berater in Betracht, wenn sie bestimmte Aspekte einer Transaktion selbstständig und eigenverantwortlich betreuen.631
302
Üblicherweise aktenmäßig oder in elektronischen Dateien632 festgehaltenes Wissen wird dem Verkäufer ebenfalls seit einer Folge von BGH-Entscheidungen Ende der 80er bis Mitte der 90er Jahre zugerechnet.633 Das sind solche Informationen, die aufgrund ihrer Wichtigkeit und Rechtserheblichkeit gespeichert werden mussten und noch aufzubewahren sind, soweit es der Verkäufergesellschaft und deren Vertretern unter Berücksichtigung des Anlasses und dessen Bedeutung, des verstrichenen Zeitraums sowie der Schwierigkeit der Suche zumutbar ist, sich dieser Informationen zu vergewissern.634
303
Nach der Rechtsprechung erfolgt auch eine Wissenszusammenrechnung in Form einer „mosaikartigen Zusammenrechnung“ von Wissen Einzelner. Darunter wird ein Zusammenziehen des Teilwissens in verschiedenen Abteilungen oder bei verschiedenen Organen verstanden.635 Das Teilwissen hätte für sich noch keine rechtliche Relevanz, sondern zeitigt erst infolge des Zusammenrechnens Rechtsfolgen.636 Diese Zusammenrechnung von Wissen soll jedenfalls für solche Wissensträger gelten, die Verantwortung für das konkrete Geschäft haben.637 Die Rechtsprechung geht allerdings darüber hinaus und wendet die Grundsätze der Wissenszusammenrechnung selbst dann an, wenn der Informationsträger eine unbeteiligte Person ist.638
304
Wissen von Personen der Zielgesellschaft kann der Verkäufergesellschaft beim Anteilsverkauf (Share Deal; beim Asset Deal wird das Wissen der Geschäftsführer oder des Vorstands der Verkäufergesellschaft, die beim Asset Deal gleichzeitig Träger des zu verkaufenden Geschäftsbereichs ist, und damit der Zielgesellschaft ohne weiteres zugerechnet639) nur dann zugerechnet werden, wenn diese Personen nach den allgemeinen Grundsätzen im konkreten Fall deren Wissensvertreter sind (Übertragung bestimmter Aufgaben zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Wahrnehmung640). Per se sind die Geschäftsführer oder Vorstände der Zielgesellschaft grundsätzlich keine Wissensvertreter des Verkäufers.641 Etwas anderes kann dann anzunehmen sein, wenn ihnen der Verkäufer im konkreten Fall im Hinblick auf den Unternehmensverkauf eine Aufgabe zur selbstständigen und eigenverantwortlichen Wahrnehmung zuweist.642 Soweit es zu einer Zurechnung des Wissens von Geschäftsleitern der Zielgesellschaft kommt, wird nur deren Wissen zugerechnet. Es kommt nicht zu einer Zurechnung des gesamten aktenmäßig oder in elektronischen Dateien verfügbaren Wissens der gesamten Zielgesellschaft gleichsam „in einem Schwall“.643 Keine Zurechnung beim Verkäufer, sondern umgekehrt beim Käufer hat das OLG Düsseldorf644 in einem Fall angenommen, in dem der Geschäftsführer der Zielgesellschaft bereits nach Abschluss und noch vor Vollzug des Unternehmenskaufvertrags zum Geschäftsführer des Käufers bestellt wurde, obwohl er bei Abschluss des Unternehmenskaufvertrags noch nicht Gesellschafter war. Im Geschäftsanteilskaufvertrag war eine aufschiebend bedingte Anteilsübertragung (One-Step-Modell645) vereinbart worden. Bereits am Tag des Vertragsschlusses erfolgte die Bestellung zum Geschäftsführer des Käufers. Das OLG Düsseldorf nahm deshalb eine vorwirkende Loyalitätspflicht des Geschäftsführers an und rechnete sein Wissen dem Käufer zu.
305
Darüber hinaus kommt eine Wissenszurechnung nach den Grundsätzen der Zurechnung üblicherweise aktenmäßig oder in elektronischen Dateien646 festgehaltenen Wissens auch sonstiger Mitarbeiter der Zielgesellschaft nach einer BGH-Entscheidung aus dem Jahr 2011647 dann in Betracht, wenn zwischen der Verkäufergesellschaft und der Zielgesellschaft eine sog. aufgabenbezogene Handlungs- und Informationseinheit besteht.648 Eine solche Wissenszurechnung über Gesellschaftsgrenzen hinaus im Konzern ist aber besonders umstritten.649 Sie kommt etwa in Betracht, wenn die Zielgesellschaft auf Veranlassung der Verkäufergesellschaft die Unterlagen für die Bestückung des Datenraums zur Verfügung stellt.650 Eine Zurechnung kann, auf der Grundlage der BGH-Rechtsprechung, auch bei Konzernen relevant werden, die eine sog. Matrixorganisation etabliert haben. Als weiteres praktisch relevantes Beispiel wird die Zurechnung des Wissens zentraler Konzernabteilungen, im Kontext von M&A-Transaktionen etwa der zentralen Konzernsteuerabteilung, angenommen.651 Zu einer Zurechnung über die Gesellschaftsgrenzen hinaus soll es schließlich dann kommen können, wenn der Verkäufer etwa bei den Verhandlungen auf rechtssubjektübergreifende Teams zurückgreift.652 Die Zurechnung dürfte sich dann regelmäßig auf das in dieser Handlungs- und Organisationseinheit (auch bloß typischerweise aktenmäßig) vorhandene Wissen beschränken und nicht zu einer Zurechnung des gesamten (typischerweise aktenmäßig) vorhandenen Wissens der Zielgesellschaft führen.653 Eine über diese Fälle hinausgehende generelle Wissenszurechnung über die Gesellschaftsgrenzen hinaus im Konzern wird von Rechtsprechung und Literatur abgelehnt.654
306
Eine in der Praxis durchaus relevante Einschränkung der Grundsätze der Wissenszurechnung besteht bei Verschwiegenheitsverpflichtungen oder Offenlegungsverboten. Wissen, dass nur durch eine rechtsmissbräuchliche Weitergabe (also unter Verstoß gegen eine Verschwiegenheitsverpflichtungen oder ein Offenlegungsverbot) erlangt werden kann, ist nicht Gegenstand der Wissenszurechnung.655