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Oliver Bruskolini

Urschrei

Es erwacht. Ich spüre es in mir, merke wie es sich hochkämpft. Seine Regung schnürt mir die Luft ab. Es fällt mir schwer, zu atmen. Langsam hebt sich meine Brust auf und ab. Eine schwerfällige Bewegung. Ich balle meine Fäuste, sodass Krampfadern an den Handgelenken hervortreten. Alle Versuche, meine Atmung zu kontrollieren, scheitern. Auf zittrigen Beinen stehe ich an der Haltestelle. Ich lehne mich zurück, merke das kühle Glas der Scheibe durch mein T-Shirt. Meine Augen sind geschlossen. Oder nicht? Ich weiß es nicht, denn im Moment sehe ich gar nichts. Am liebsten würde ich schreien. Ein lauter, tiefer Urschrei. Ein Schrei, wie ihn die Schotten in „Highlander“ ausstoßen, um ihre Feinde in die Flucht zu schlagen.

Dieser Feind wird nicht flüchten. Zumindest nicht so schnell. Gedanken schießen durch meinen Kopf. Dinge, die ich dem Fahrer nur zu gerne ins Gesicht brüllen würde, falls er endlich an dieser Haltestelle ankommt. Falls. Es sind über dreißig Grad und die Wut in mir verdoppelt diese Hitze. Es ist ein Wunder, dass ich noch nicht koche. Äußerlich. Innerlich koche ich über. Ich bin wie ein Schnellkochtopf, der völlig überhitzt darauf wartet, dass der Deckel gelöst wird, damit ich ihn einmal quer durch die Luft schleudern kann. Am liebsten gegen den Fahrer. Oder gegen irgendeinen anderen Bürohengst des Verkehrsunternehmens.

Immer wieder überkommen mich solche Ausbrüche und ich bin ihnen widerstandslos ausgesetzt. Schon als Kind habe ich ähnlich heftig auf das Wort „Nein“ reagiert. Ich hasse nichts mehr, als aufbrausende Menschen und ich selber bin ein Wüterich. Ein waschechter Choleriker. Schon Kleinigkeiten werfen mich aus der Bahn. Eines Morgens schüttete meine Freundin Milch in meinen Kaffee. Sie tat es aus Gewohnheit, weil sie ihren immer mit Milch trank. Ich hingegen bevorzuge ihn schwarz. Schwarz war auch die Stimmung an diesem Morgen. Etwas in mir verlangte danach, ihr die Tasse an den Kopf zu werfen. Aber ich konnte es unterdrücken.

Stattdessen schüttete ich den Kaffee weg, machte mir einen Neuen und spuckte kommentarlos in ihre Tasse. Mein Ziel war erreicht, sie rastete vollkommen aus. Zurecht. Aber das war egal, endlich konnte ich mich streiten. Sie sprach danach eine geschlagene Woche kein einziges Wort mit mir. Das war die Höchststrafe, schließlich konnte man verbal besser wüten als nonverbal.

Vor einigen Jahren bekam ich Hausverbot in der örtlichen Filiale einer amerikanischen Fast-Food-Kette. Der Kassierer hatte mir einen Burger zu wenig in die Tüte getan. Das bedurfte einer sofortigen Klärung. Ich drängelte mich durch die nahezu endlose Warteschlange und wies ihn unsanft auf seinen Fehler hin. Der Lump bezichtigte mich doch tatsächlich, einen Burger entnommen zu haben und unberechtigterweise zu reklamieren. Zu viel. Viel zu viel. Sein Nasenbein lernte die Kasse näher kennen und ich für meinen Teil die Türsteher. Ich hasse Schlägereien, aber in manchen Fällen sind sie unvermeidbar. In fast allen Fällen, um genau zu sein.

Eigentlich bin ich in Therapie wegen diesen Ausbrüchen. Es war ein Zugeständnis an meine Mutter, meine einzige und ewige Hassliebe. Ich musste es versprechen, nachdem ich ihrer Bitte, die Wäsche zu machen, Folge leistete und den gesamten Wäscheberg mitsamt Wäschekorb an der gegenüberliegenden Autobahnbrücke entsorgte. Damals war ich minderjährig und Mama musste haften. Es war ein teurer Spaß, aber ein gelungener. Seither habe ich nie wieder Taschengeld bekommen, wurde aber auch nie wieder darum gebeten, die Wäsche zu verrichten.

Die Therapie selbst läuft jetzt schon seit Jahren und ich habe Fortschritte gemacht. Bisher musste ich trotz einiger Anklagen noch nicht ins Gefängnis, was in meinen Augen ein kleiner Achtungserfolg ist. Schließlich bin ich bereits Mitte zwanzig. Skill-Training ist in meinem Fall das A und O der Hilfemaßnahmen. Ergänzend gab es Pillen, die sind aber abgesetzt. Bewusst ausgeschlichen, von heute auf morgen. Die Therapeutin ist nett und das hält mich davon ab, mir schlimme Dinge vorzustellen, die ich ihr antun könnte. Ich glaube, ich bin verliebt.

Noch immer klebe ich an der Scheibe der Haltestelle. Eine Traube von Menschen hat sich um mich gebildet. Alle Augen sind auf mich gerichtet, starren mich besorgt an. Aus sämtlichen Richtungen werden dieselben Fragen gestellt. Ja, es geht mir gut. Nein, ich benötige keine Hilfe. Schließlich habe ich mein Skill-Training.

Der Schweiß rinnt meinen Hals hinab, ich spüre das Kitzeln der einzelnen Tropfen. Ich lächle. Dann schreie ich. Ein lauter, tiefer Urschrei, auf den ganz Schottland stolz gewesen wäre. Vielleicht haben die Schotten ihn gehört. Ich lasse mich auf den Boden sinken und merke, wie meine Atmung sich langsam wieder normalisiert.

4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018

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