Читать книгу 4. Bubenreuther Literaturwettbewerb 2018 - Christoph-Maria Liegener - Страница 28
ОглавлениеThyra Thorn
Bockfieber
Hubert und Emilie sind seit über dreißig Jahren ein Paar. Emilie widmet ihr Leben der Familie, dem Herrn Pfarrer und dem täglichen Dorftratsch. Hubert ist Buchhalter, meidet seine Frau und geht lieber in den Wald, besser gesagt, wann immer er von seinem Freund Erich, dem Revierpächter eingeladen wird, auf die Jagd. Die frische Luft tut ihm gut und eine archaische Lust am Töten flammt auf.
Zurzeit gibt es viel Waidwerk im Wald, beziehungsweise auf den angrenzenden Feldern, die immer wieder von großen Wildschweinrotten heimgesucht werden. Die Schweine sind verdammt schlau, der Mais überaus lecker, die Bauern ausgesprochen wütend und die Wildschadensersatzforderungen an den Jagdpächter - gemäß § 29 BJG - exorbitant hoch. Erich und Hubert sehen sich daher gezwungen, zweimal in der Woche in den frühen Morgenstunden anzusitzen, um beim ersten Büchsenlicht soviele Sauen wie möglich zu schießen. Das bedeutet Akkordarbeit, keine Zeit für Romantik, für das rituelle Aufbrechen des erlegten Wildes oder das stimmungsvolle Halali zu Ehren von Jäger und getöteter Kreatur. Hubert muss sich in stockfinstrer Nacht aus dem warmen Bett quälen. (Emilie schläft schon lange im Nebenzimmer, trotzdem ist das Bett gemütlich und warm, oder vielleicht gerade weil Emilie nicht mehr darin liegt). Dann holt er Erich ab, die beiden stolpern über Ackerfurchen und ungebetene Äste zu ihren Kanzeln, wohl wissend, dass jedes Knacken den Lauschern der Schweine nicht entgeht. Dementsprechend gering ist die Ausbeute, keine Sau verlässt das Maisfeld, um sich den Büchsen zu präsentieren. Der Morgen dämmert, die Sonne geht strahlend auf, der Zeitpunkt für den Abschuss ist verpasst. Hubert muss sich beeilen, um pünktlich zur Arbeit zu kommen. Fast schon ein wenig erleichtert kuschelt er sich dort in seinen Bürosessel, um endlosen Zahlenkolonnen auf die Sprünge zu helfen. Doch er weiß, dass sie so niemals ihre Abschussquote erfüllen werden und ihnen nichts weiter übrig bleibt, als von nun an jeden Morgen und noch früher anzusitzen.
Der Wald verliert seinen Zauber, die gute Luft ist Hubert mittlerweile egal, das Gefühl stolzer Jägersmanneskraft sprießt nicht mehr. Der Wildschweinbedingte Stress wirkt sich negativ auf Herz und Kreislauf aus. Erich entgeht das nicht, daher lädt er seinen Freund zur sonntäglichen Rotwildjagd ein. „Da steht ein kapitaler Hirsch im Kaiserwald“, sagt er, „der gehört dir.“
…
Von fern tönt das Läuten zum sonntäglichen Frühgebet herüber. Letzte Nebelfetzen hängen noch zwischen den Bäumen am Rande der Lichtung und die ersten Sonnenstrahlen sägen sich schräg durch die dichten Baumkronen. Im Halbdunkel zwischen den Bäumen knackt es. „Der Hirschen“, flüstert Erich. Das Tier bemerkt sie nicht, trottet den Pfad entlang, knabbert an den Trieben einer Fichte, äst. Das Morgenlicht fällt auf die Stangen. Hubert stockt der Atem: „Es ist ein Zwölfender.“ Schweißperlen glänzen auf seiner Stirn. Der Hirsch tritt an den Rand der Lichtung, Schussweite circa siebzig Meter. Nur ein Zweig ist noch innerhalb Huberts Schussfeld. Das Tier bleibt stehen, prüft den Wind, seine Lichter blicken in ihre Richtung. Huberts Herz schlägt wild, sein Puls rast, Blut wallt durch sklerotische Arterien. Äußerlich ist ihm jedoch nicht die kleinste Regung anzumerken, er verharrt bewegungslos und wartet ab. Ein zweites Tier, ein Schmalreh, taucht zwischen den Bäumen auf, der Hirsch ist abgelenkt, Hormone, Rauschzeit, der ewige Kreislauf des Lebens. Er stößt einen Brunftschrei aus und wendet sich der Rehdame zu. Hubert bekommt freies Feld und setzt einen hohen Blattschuss ab. Seine Hand zittert nicht, ein perfekter Schuss. Vielleicht ist es der Rückstoß seines Gewehrs, eines Blaser R8 success individual, oder es ist die Vorschädigung durch den Wildschweinstress, der das Unglück in Huberts Körper auslöst. Ein Gerinnsel, das sich an einer sklerotischen Passage in seinen Adern gebildet hat, löst sich, findet seinen Weg ins Huberts Gehirn und blockiert jäh und unvermittelt die Blutzufuhr. Der Jägersmann erleidet einen Schlaganfall, der augenblicklich sein Leben beendet. Hubert und Hirsch brechen im selben Moment zusammen, mause-, oder besser gesagt hirschen- und menschentot.
Welch ein Drama.
Später spricht der Arzt von der Freude und Aufregung, vom Bockfieber, das Hubert im wahrscheinlich besten Moment seines Lebens dahingerafft hätte. Emilie bemerkt dazu bitter, dass ihr Mann zu Beginn ihrer Liebe weitaus glücklichere Augenblicke erlebt hätte: „Jetzt möcht´ ich sterben, Emilie“, hätte er immer gesagt und sich von ihr herunter gewälzt, “was Schöneres kann es nicht mehr geben im Leben.“ Aber so wären sie eben, die alten Mannersleut, später fänden sie nur noch bei der Jagd eine Erregung. Die Familie ist peinlich berührt.
Auf der Beerdigung ertönen die Jagdhörner zum Hirschjagdruf:
„Hirsch tot! Den edlen Hirsch im tiefen Tann nach hoher herrlicher Pursch ich mir gewann. Halali Halala