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[Andreas Beune] Wellenbewegungen im Kuchenblock Über Stadionerlebnisse, Superzeitlupenherrschafts-wissen, Kuttenaufnäher und Jubelposen.

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Spiele in unteren Ligen haben einen immensen Vorteil. Wer hier auf bestenfalls mit Miniatur-Tribünen ausgestatteten Fußballplätzen direkt neben Präsidenten, Pressevertretern oder lebenden Vereinsmaskottchen eine Partie verfolgt, kann sich nachher trefflich mit seinen Mitmenschen über ein und dasselbe Spiel austauschen. In den Profiligen ist das längst nicht mehr so. Hier kann man mittlerweile Spiele auf so unterschiedliche Arten erleben, dass man sich nachher gar nicht mehr sicher sein kann, ob alle auch wirklich dasselbe Spiel gesehen haben.

Die Welt ist voller Möglichkeiten wer weiß da schon, was richtig und falsch ist. Soll ich den Mount Everest besteigen oder doch lieber den Betzenberg? Mache ich Urlaub in Malente oder am Mittelmeer? Höre ich klassische Musik lieber im Theaterhaus oder am Hauptbahnhof-Stadtbahneingang? Fragen über Fragen. Selbst einem Ostwestfalen, dem eine gesunde Portion Lethargie in die Wiege gelegt ist, kann angesichts dieser Entscheidungsvielfalt schon mal der Kopf brummen. In einem modernen Fußballstadion kann man Spiele sitzend, stehend, singend, schlafend, abwesend, essend, trinkend, quatschend, desinteressiert oder desorientiert verfolgen, was oftmals mit dem jeweiligen Standort zu tun hat.

Der Stehplatzbereich ist in den modernen High-Tech-Arenen auf den harten Kern der Heim- und Gästefans geschrumpft. Hier sind sie zuhause, die Fußballfans, die unter dem Tom-und-Annika-Prinzip leiden: Sie sind willenlos den Launen ihres Vereins bzw. ihrer Pippi Langstrumpf erlegen und müssen ihm überall hin folgen ganz gleich, ob es nun nach Ahlen oder zu Donner-Karlsson geht.

Wer mitten im Fanblock steht, sollte eine gewisse Toleranz und keine allzu große Abneigung gegen Bierduschen, Deppentum in Hörweite oder zumindest in manchem Fanblock Taubenkot mitbringen. Ein gewisser Sachverstand ist vorteilhaft, beschränkt sich aber im Wesentlichen auf die richtige Zuordnung von Vereinen und Spielern. Tiefergehendes Wissen über Taktik oder Statistik wird zwar von manchem Stehnachbarn goutiert, ist aber nicht zwingend erforderlich, schließlich ist die Sicht auf den Platz meist so eingeschränkt, dass man das Geschehen auf dem Rasen oft nur bruchstückhaft wahrnehmen kann. Liegt die eigene Mannschaft zurück, kann man ihr ohne Weiteres mangelndes Zweikampfverhalten und fehlerhafte Taktik vorwerfen, aber auch generelle Lauffaulheit und Lustlosigkeit, ohne Angst haben zu müssen, als Ahnungsloser geoutet zu werden.

Auf einem Sitzplatz sieht die Sache schon anders aus. Wenn man nicht gerade auf sogenannten sichtbehinderten Plätzen zum Beispiel direkt hinter einer Werbebande oder hinter der russischen Basketball-Nationalmannschaft sitzt, kann man einen recht ungetrübten Blick auf den Rasen werfen, was aber keineswegs automatisch das Stadionerlebnis aufregender gestaltet. Während man im Fanblock seinen Blick oft noch durch ein Fangnetz werfen muss, um immerhin 63 Prozent des Platzes zu sehen, kann man auf Sitzplätzen beste Sicht auf das ganze Programm genießen. Vor allem in Riesenarenen wie in Dortmund gibt es dabei allerdings Sitzplätze, bei denen man noch nicht einmal einen Spieler oder irgendeine der beiden Fankurve in Gänze bewundern kann. Dafür kann man aber prima kleine Pünktchen beim Verschieben auf dem Rasen bewundern.

Vor dem Erwerb einer Sitzplatzkarte gilt es zu bedenken, dass man Sitznachbarn in einem gut gefüllten Stadion hoffnungslos ausgeliefert ist. Die unfreiwillige Platzierung neben Labertaschen, Knoblauchrülpsern, Besserwissern, Ahnungslosen, ahnungslosen Besserwissern, Stadionnovizen, Fans des Gegners oder Bayern-Fans, die sich nur mal so ein Spiel vor ihrer Haustür anschauen wollen, hat schon so manchem den Stadionbesuch verhagelt. Potenziert werden diese Negativerlebnisse, wenn man am ersten Spieltag merkt, dass die Nachbarn auch Dauerkarten gekauft haben und man sich jetzt die nächsten 16 Spiele gegenseitig auf die Nerven gehen kann.

Daher empfiehlt sich vor allem beim Erwerb von Sitzplatzdauerkarten eine Rudelbildung beim Kartenkauf. Zudem sollte man darauf achten, dass im Stadion mindestens neun bekannte Gesichter um einen herum gruppiert sind und dass man nicht am Rande eines solchen Haufens sitzt, wo man sich dann 90 Minuten lang bei den Sitznachbarn für seine Kumpels entschuldigen muss.

Ganz besondere Sitzplätze sind den Pressevertretern reserviert. Hier hat man beste Sicht neben den Kollegen von Radio, Zeitung oder Fernsehen. Die kulinarische Verpflegung auf den Plätzen ist hervorragend, wenn auch deutlich kuchenlastiger als im Fanblock. Nicht wenige Journalisten, die sich einem Verein als Fan verbunden fühlen, haben allerdings ein Rollenproblem. Professionelle Zurückhaltung ist schön und gut, aber was tun, wenn man sensationell 3:2 in Freiburg gewinnt? Nicht jeder ist Radioreporter bei einem lokalen Hörfunksender und kann seinen Jubel laut herausschreien. Kompensationshandlungen wie Kugelschreiber oder Handys in die Luft schmeißen haben sich als wenig hilfreich erwiesen, wenn man in seinem Leben noch mal auf einem Presseplatz sitzen möchte.

Ansonsten kann man auf der Pressetribüne viel lernen. Zum Beispiel, wie die Kollegen vom Boulevard schon zur Halbzeit Spielernoten in die Redaktion durchgeben. Oder wie beim Tor in der Nachspielzeit das ganze Stadion bebt, aber beim Sitznachbarn die Gesichtszüge entgleisen, weil er seinen Spielbericht bereits fertiggestellt hatte und eigentlich nur noch den Absende-Button für die E-Mail an die Redaktion drücken musste.

Wer zwischen Fanblock und Pressetribüne pendelt, hat aber mitunter noch ein ganz anderes Problem: Nach den obligatorischen Pressekonferenzen findet man sich in sogenannten Mixed-Zonen wieder. Hier trifft man sich zu Interviews mit jenen Spielern, denen man an anderer Stelle noch allerlei harmlose, wenn auch spielverhindernde Krankheiten an den Hals gewünscht hat. Selbst eine branchenübliche Frage wie „Wie fühlst du dich nach dem Unentschieden gegen Ahlen?“ wird dann mit einem hochroten Kopf gestellt, als bewerbe man sich um den Osram-Heynckes-Gedächtnispreis.

Moderne Fußballarenen wollen aber nicht nur den Medienvertretern, sondern auch den VIPs ein kuscheliges Zuhause bieten. Wer einen Blick in die hochglänzenden Sponsorenmagazine der Bundesligisten wirft, weiß, dass ungefähr 98 Prozent der VIPs Besitzer von Autohäusern sind oder aus dem Baugewerbe oder anderen Unternehmen der männerverabeitenden Industrie stammen.

Vor dem Spiel gibt es für VIPs mehrgängige Menüs. Tonnenweise Erbsensuppe, Lachshäppchen und Cocktails, bis der Schiedsrichter anpfeift. Menschen, die ansonsten nur die obligatorische Stadiongastronomie kennen, dürften sich die Augen reiben: keine Warteschlange an der Essensausgabe, kein Biss in ein rohes oder verkohltes Etwas, kein halbvolles, alkohollimitiertes Bier zu einem Preis, der einen überlegen lässt, beim nächsten Mal vielleicht nicht doch besser die Schuldnerberatung aufzusuchen als das Stadion. Kein Bierausschütter, der krakeelend durch die Schlange pflügt und einen anbrüllt: „Pass doch auf, wo du stehst!“ Keine Bedienung, die einen ignoriert, das Wechselgeld falsch berechnet oder nicht weiß, wo der Senfnachschub ist.

Nein, im VIP-Bereich gibt es überfreundliche Servicekräfte, die einem vor dem Betreten der Plätze neben einem kostenlosen Eis allen Ernstes noch den Satz anbieten: „Viel Spaß beim Spiel!“ Viel Spaß! Wohlgemerkt: Es geht um Fußball, und der ist zum Spaßhaben ungefähr so geeignet wie eine Samstagabend-Fernsehshow, die von Mike Krüger, Piet Klocke und dem Hasen Cäsar moderiert wird. Selbst wenn man in der 93. Minute dreckig und unverdient 1:0 gewinnt, war das vorher für keinen der Beteiligten eine Freude.

Die VIPs im Kuchenblock machen manchmal sogar bei der „La Ola“ mit jene unsägliche, aus dem Repertoire mexikanischer Tennis-Hooligans herübergeschwappte Begeisterungswelle, deren Sinn darin besteht, rechtzeitig aufzustehen, die Arme zu heben und „Hey“ zu rufen (Wellenprofis wedeln schon vorher mit dem Arm und beherrschen ein tiefes „Ohhh“).

Vielleicht sollte man einmal die Servicekräfte tauschen. Jene übellaunigen, muskelbepackten Fachkräfte, die vor dem Auswärtsblock jeden Fünfzehnjährigen abtasten, als wäre er ein Schwerkrimineller, könnten an Zugängen zu den VIP-Plätzen stehen und gucken, ob die very betuchten Fans auch nicht etwa pyrotechnische Erzeugnisse oder Leuchtspurmunition ins Stadion schmuggeln. Derweil halten am Eingang des Stehplatz-Fanblocks freundliche Damen Currywurst-Garnelen-Spieße und eine fröhliche Begrüßung parat. Wobei man fairerweise sagen muss, um einfach mal mit einem weitverbreiteten Klischee aufzuräumen, dass sich bei VIPs nichts so großer Beliebtheit erfreut wie die Halbzeit-Currywurst.

Alternativ zum Stadion bietet sich noch der Besuch einer Kneipe an, um ein Fußballspiel live im Fernsehen zu verfolgen. Hier ist die Stimmung mitunter sogar besser als im Stadion, was aber oft nur an den Fans von anderen Mannschaften liegt, die im Nachbarraum „Konferenz“ gucken. Zudem sind Getränkesituation und Nahrungsaufnahme deutlich entspannter. Der größte Nachteil: Die stehplatzimmanente Ahnungslosigkeit, die für die Spielwahrnehmung nicht unwichtig ist, kann man sich nur bewahren, wenn man die Hälfte des Spiels damit verbringt, mit dem Erdnussspender ein Fachgespräch über, sagen wir mal, Elefantendiäten zu führen.

Superzeitlupen nämlich decken Abseitsstellungen und Schwalben schonungslos auf, glücklicherweise ist manchmal aber auch ein Betrug am eigenen Team zu erkennen, der Stadiongängern verwehrt bleibt. Mag anderswo noch das Zeitalter der Faxe herrschen, hektische SMS-Nachrichten von Kneipensehern wie „Schiebung! War kein Abseits!“ oder „Sauerei! Klarer Elfer!“ haben schon so manchem Stadionbesuch die richtige Würze verliehen.

Allerdings hat sich auf allen Plätzen der Bundesligastadien das Zuschauerverhalten in den vergangenen Jahren geändert. Vor gar nicht allzu langer Zeit war Fußball der bevorzugte Sport von Männern, die selbst im 3-Sterne-Lokal den als „Kutscher“ angebrüllten Kellner noch mit Bacardi-Cola- und Pommes-Majo-Bestellungen überhäufen würden und für die das Eimerkreisen am balearischen Ballermann mindestens so wichtig ist wie das Recht auf freie Religionswahl. Fußballfans waren Typen in Jeansjacken mit Aufnähern, auf denen zum Beispiel ein nackter Männerpopo abgebildet war, aus dem eine Sprechblase die doch recht unwahrscheinliche Zukunftsprognose verkündete: „Eines Tages wird ein Riesenarsch auftauchen und ganz Schalke zuscheißen.“

Das hat sich geändert. Fußball ist ein Trendsport, eine Riesenunterhaltung für die ganze Familie. Wem der Kommerz und das Überdrehte dieser Tage zu viel wird, dem seien Fußballerlebnisse an anderen Orten nahegelegt. Beim Kinder- und Jugendfußball zum Beispiel gibt es auch ein großes Unterhaltungsprogramm für die ganze Familie. Überdrehte Eltern und billigen Kaffee, überforderte Trainer und wilde Jungs oder Mädchen. Einmal verfolgte ich ein E-Jugend-Spiel zwischen TuS Eintracht Bielefeld und Solbad Ravensberg. Auf die Trikots zur Unterscheidung der beiden Teams hätte man getrost verzichten können, da reichte ein Blick auf die Köpfe. Während die Bielefelder von einer gewissen Frisurenvielfalt zeugten, waren die Gäste aus Borgholzhausen offenkundig allesamt beim selben Frisör gewesen. Ich kann das durchaus beurteilen, denn ich habe meine Kindheit in diesem Borgholzhausen verbracht und nicht wenige Stunden davon bei jenem stadtbekannten Haarhandwerker, der für die Frisurentrends dieser Welt seit jeher nur ein müdes Lächeln übrig hatte. Das fußballerisch überlegene Auftreten der Jungen aus Borgholzhausen wurde demnach von einer Einheitsfrisur konterkariert, die dabei herauskommt, wenn man Kindern einen Topf auf den Kopf setzt und dann einmal drumherum schneidet und anschließend Gel in das Resthaar einmassiert, das dann gen Fußballgott gestriegelt wird. Parallel spielte auf einem anderen Platz eine Mädchenmannschaft gegen eine jüngere Jungenmannschaft Geschlechterkampf pur. Die Mädchen waren technisch deutlich besser, die Jungs merklich übermotivierter und jubelten nach ihrem Führungstreffer noch gockelhafter als sonst. Andererseits waren es Jubelposen, die nicht für Kameras bestimmt waren, sondern einzig und allein für Papa und die große Schwester. Ein tröstlicher Augenblick für genervte Profistadionbesucher. Bis die jubelnden Eltern mit Kuchen im Mund eine La-Ola-Welle anstimmten.

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