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[Christoph Ruf] Ritual de lo habitual Ich leide wie der junge Werther, nur meine Leiden sind noch härter: Über Selbstmordgedanken im Stadion-Shuttle.

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Johann Wolfgang von Goethe muss für vieles herhalten, wogegen er sich aus rein biologischen Gründen nicht mehr wehren kann. Frackträger aus dem mittleren Management von Autoversicherern geben bei Weihnachtsfeiern Zitate aus seinen Werken zum besten, Studentenverbindungen besaufen sich in seinem Namen, und überhaupt gibt es hierzulande sicher weit mehr Goethe-straßen als Menschen, die den guten Mann mit „oe“ statt mit „ö“ schreiben. Kurzum: Der bedauernswerte Dichterfürst wird von den absonderlichsten Gestalten in Beschlag genommen.

Sogar von Fußballfans in der Midlife-Crisis, die im Stadion immer öfter an den armen Werther und dessen Leiden denken müssen. Der junge Mann seufzte ja bekanntlich bereits in den Siebzigern des 18. Jahrhunderts, es sei „ein einförmig Ding um das Menschengeschlecht“. Ritualisierte Vergnügungen („Eine Spazierfahrt, einen Tanz zur rechten Zeit“), wohin das Auge reicht. Ein wenig Tanz, ein Humpen Bier. Zur Verwunderung Werthers waren seine Mitmenschen damit zufrieden.

Sie sind es auch heute noch, 240 Jahre später. Kein Wunder, schließlich gibt es heutzutage weit mehr Fernsehsender als kluge Moderatoren und mehr Chipsvariationen als demokratische Parteien. Und es gibt den Fußball, diese riesige Projektionsfläche, über die sich immerhin an Positivem feststellen lässt, dass jeder Stadionbesuch sinnvoller ist, als seine Kinder zu verprügeln oder „Wetten, dass..?“ zu schauen. Aber sonst? Wer wie wir Sportjournalisten das Privileg hat, jedes Wochenende mindestens zwei Spiele live im Stadion zu sehen und dabei nicht mit Taubheit geschlagen ist, muss gar nicht einmal so bewundernswert feinfühlig wie Herr Werther sein, um zu verzweifeln. Es genügt die Prise Ungeduld, die die Lebenden von den Toten unterscheidet, um zu verzweifeln: Allüberall der gleiche monotone Singsang, die gleichen Melodien, die gleichen pathetischen Treueschwüre. Von den Gegnerbeschimpfungen mal ganz zu schweigen. Der wird wahlweise mit „Scheiß Bayern München“ oder „Münchner Arschlöcher“ bedacht. Geht auch prima mit Kölnern, Hamburgern oder Dortmundern. Sprache, oh, du Quell steter Freuden.

Nicht, dass ich etwas gegen Gegnerbeschimpfungen hätte. Aber ganz im Gegenteil! Die gehören zum Fußball unbedingt dazu und lassen sich mit Shakespeare- oder Werther-Zitaten eben nicht besonders glaubwürdig artikulieren. Aber eben auch nicht mit Drei-Wort-Tourette-Syndrom-Stakkatos, die jeder Profi in seinem Leben schon 4.837-mal gehört hat. Es ist eben nicht sehr wahrscheinlich, dass sich Bastian Schweinsteiger tief getroffen zeigt, nur weil ein paar Tausend Zuschauer der Meinung sind, sein Verein sei „Scheiße“. Wer jemanden treffen will, muss gut zielen. Und verdammt noch mal, es gibt doch sicher in jeder Fankurve ein paar Sadisten oder Charakterschweine, die sich vor einem Spiel einige originellere Tiraden überlegen könnten, oder? Manchmal reicht doch schon ein Blick auf das Mannschaftsfoto des Gegners!

Das gleiche Elend beim angeblichen „Support“ der eigenen Mannschaft. Die Seite www.fangesaenge.de listet bei manchen Vereinen (Spitzenreiter ist derzeit Schalke 04) weit über 150 verschiedene Songs und Slogans auf, die da angeblich aus dem Fanblock zu hören seien. Selbst wenn man weiß, dass der Shanty mit dem Titel „Lalalala Schalke“, der mit dem Text „Lalalalala lalala Schalke“, der namens „Lalalalala Gelsenkirchen Schalke“, der namens „Lalalalala ich liebe S 04“ sowie die beiden Preziosen „Lalalala Schalke 04“ und „Lalalalala Hey“ schon sechs der 168 aufgezählten sind, spricht das doch für eine erstaunliche Kreativität bei der Variation der beiden Buchstaben „l“ und „A“. Aber wir wollen nicht zu streng sein. Auch der Buchstabe „O“ und das Wort „super“ erfreuen sich einer gehörigen Beliebtheit. Deshalb gibt es in allen Fanszenen zu mindestens zehn verschiedenen Melodien die Lobpreisung des jeweiligen Vereinsnamens in Kombination mit den Worten „Super“, „Olé“ oder „Schalala“. Es gibt Krabbelgruppen, in denen die Einjährigen sich differenzierter ausdrücken.

Blieben noch die Ultras, die Chefs in den Fankurven, deren Protagonisten noch nachts um drei Uhr unwiderlegbar begründen könnten, warum sie sich so grundsätzlich von der unfassbar dämlichen Szene in der Nachbarstadt unterscheiden. Das tun sie sicher auch nur nicht in ihren Gesängen. Auch die Ultras finden „Lala“, „Oléolé“ und Co. super, lassen ansonsten aber immerhin mit liebevollen Choreografien das Auge jubilieren. Zuweilen dichten sie auch eigene Lieder, teilweise extra auf einen bestimmten Spieltag abgestimmt und überhaupt. Aber nur allzu oft sind sie dennoch auf verlorenem Posten, weil wieder 90 Prozent der Leute den Text nicht kennen und es auf Dauer doch reichlich dämlich aussieht, wenn man wie einst die Wiener Sängerknaben mit einem Zettel vor der Nase den Bariton erklingen lässt, während unten die Mannschaft den dritten Platzverweis kassiert. Wahrscheinlich vertonen deswegen auch so viele Ultras aus lauter Frust 90 Minuten lang Reime von der Güteklasse „Auf geht’s, Name der Heimmannschaft, schieß ein Tor, schieß ein Tor für uns …“.

Es ist ein einförmig … aber das hatten wir ja schon.

Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Im Gegensatz zu den meisten anderen Ligen geht es in Deutschlands Stadien wenigstens laut zu, Fußball ist allermeistens noch wirklich ein Live-Erlebnis, das der bedauernswerte Fernseh-Fußball-Fan (ein Widerspruch in sich) nie kennenlernen wird. Alles wäre bestens, wenn, ja wenn es nur hin und wieder mal ein klein bisschen überraschender zugehen würde.

Am dringlichsten erscheint dieser Wunsch all denen, die das Pech haben, mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den Stadien ihrer Wahl ruckeln zu müssen. Jenen metallenen Seuchenvögeln, die sich mal Bus, mal Straßenbahn, mal U-, mal S-Bahn nennen. Im „Guinness“-Buch der Rekorde heißt es, dass bis zu 52 Menschen in einen Mittelklassewagen passen. Angeblich haben die 52 Menschen das sogar ausprobiert. Chapeau!

Fußballfans können darüber nur lachen. Sie wissen, dass man längst nicht ersticken muss, wenn sich ein Dutzend Menschen 20 Minuten lang zwei, drei Kubikmeter Luft teilen müssen, der nach wenigen Sekunden nach einer perfiden Mixtur aus eingeschweißten Frikadellen, schalem Bier und frischem Furz riecht. Doch das ist nicht das Schlimmste, nicht einmal in Köln, wo das dauereuphorisierte Fanvolk die ewig lange Fahrt raus zum Stadion auch noch durchgehend mit Karnevalsliedern ausfüllt eine Praxis, vor der selbst die hartgesottensten Folterknechte in Guantanamo bislang zurückschreckten.

Nein, das Schlimmste ist, dass öffentliche Verkehrsmittel offenbar besonders gern von Fußballfreunden heimgesucht werden, die das komplette Fehlen von Humor durch Lautstärke und Wiederholung auszugleichen versuchen. Es sind genau jene Menschen, bei denen man erst dann merkt, dass sie soeben einen Witz gerissen haben, wenn sie am Schluss „Spaß muss sein“ sagen und triumphierend um sich schauen. Bei der Fahrt zum Stadion das ist das Murphy’sche Gesetz des Fußballfreundes findet sich immer mindestens einer davon in exakt dem Abteil, in dem man selbst steht. Immer dann, wenn es richtig voll geworden ist, die Türen trotzdem irgendwie noch zugehen und das Fahrzeug losruckelt, wertet er das als Signal, seine Arbeit als Witzbold aufzunehmen. Er stellt dann auch pflichtbewusst nach wenigen Sekunden fest, dass so ein voll besetztes Abteil doch auch sein Gutes habe: „So kann man wenigstens nicht umfallen.“ Und dann zieht er den Joker … Es mag Gottesdienste geben, in denen das Wort „Amen“ nicht mehr vorkommt, Metzger, die auf der Fleischermesse vegane Ernährung propagieren. Und vielleicht gibt es sogar einmal einen Beckenbauer-Sermon, der ohne ein kräftiges „Ja gut“ beginnt. Aber glauben Sie mir: Es wird in den nächsten hundert Jahren nie passieren, dass sich eine vollbesetzte U-Bahn in Fahrt setzt, ohne dass kurz darauf jemand „Fahrscheinkontrolle“ brüllt. Vollkommen ausgeschlossen. Und was noch erstaunlicher ist: Es gibt immer wieder Leute, die daraufhin schallend zu lachen anfangen. Sie merken: Es ist ja so was von einförmig um das Menschengeschlecht …

Ich bin ein wenig ratlos. Vielleicht sollte ich einfach wieder öfter mit dem Auto ins Stadion fahren. Oder zu Fuß gehen. Städte wie Osnabrück, Dresden oder Hannover haben in meiner Wertschätzung jedenfalls ungeheuer gewonnen, seit ich weiß, dass man ihre Stadien vom Bahnhof aus bequem zu Fuß erreichen kann.

Eines aber ist klar. Wenn es nach mir ginge, würden drei von vier Stadionverboten wieder aufgehoben, da bin ich ganz Ultra. Aber mit U-Bahn-Verboten würde ich nur so um mich werfen!

Ohne Fußball wär'n wir gar nicht hier

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