Читать книгу Sprache formt Realität - Christoph Sieper - Страница 8

Оглавление

1 Problemstellung

Patienten und Angehörige sind im Krankenhaus mit einer für sie extrem ungewohnten Situation konfrontiert. Sie betreten unbekanntes Terrain, geben ihre Selbstbestimmung an der Eingangstür ab und fühlen sich dabei häufig ängstlich, hilflos, ausgeliefert und alleingelassen. Auf der anderen Seite geht die Arbeit im Krankenhaus oft mit Eile einher. Mediziner3 sehen sich mit einer Kombination aus erhöhtem Arbeitsaufkommen und einer stetig wachsenden Anspruchshaltung konfrontiert. Jeder Wunsch soll Patienten direkt von den Lippen abgelesen, Arbeitsprozesse effizienter gestaltet und Anfragen von Angehörigen – besser gestern als heute – kompetent beantwortet werden. Überspitzt gesagt, fühlen sich Pflegekräfte dabei teilweise schon wie Angestellte einer Hotelkette. Patienten klingeln nach einer Krankenschwester, obwohl sie uneingeschränkt mobil sind. Man möge ihnen ein Glas Wasser reichen. Wenn das nicht auf der Stelle geschieht, wird direkt mit einer Beschwerde bei der Pflegedienstleitung gedroht.

Hierbei gilt es häufig sehr unterschiedlichen, teilweise gegensätzlichen, Anforderungen gerecht zu werden. Einerseits soll man sich geduldig Zeit nehmen, um die Anliegen von Patienten und Angehörigen zu bearbeiten. Andererseits sollen „noch ganz nebenbei“ Verwaltungsarbeiten gewissenhaft und fehlerfrei ausgeführt werden. Der stetige Kostendruck sowie Personalknappheit machen diese Situation nicht gerade leichter. Laut einer Studie der Hans-Böckler-Stiftung liegt der sog. Nurse-Patient-Ratio, also das Verhältnis von Pflegepersonal zu Patienten, in Deutschland tagsüber bei eins zu 13, in der Nacht sogar nur bei eins zu 19, 4 d.h., dass eine Pflegekraft in Deutschland während der Nacht durchschnittlich 19 Patienten gleichzeitig betreut.

Aufgrund dieses Spannungsfeldes wird die Arbeit im Krankenhaus von vielen Medizinern auf zwischenmenschlicher Ebene als sehr herausfordernd erlebt. In diesem speziellen Kontext kommt neben der medizinischen Versorgung einer gelungenen Kommunikation, insbesondere auch in schwierigen Situationen, eine ganz besondere Bedeutung zu.5 Doch was sind überhaupt schwierige Situationen? Die einen empfinden den Kontakt mit kritischen Angehörigen als schwierig. Andere hingegen empfinden eher aggressive oder unzugängliche Menschen als problematisch. Dritte erachten es als problematisch, wenn Patienten sich unkooperativ verhalten und eine geringe Therapietreue zeigen. Somit scheint es kein einheitliches Bild von schwierigen Situationen bzw. Patienten und Angehörigen zu geben. Vielmehr bezeichnen wir jene als schwierig, zu denen wir noch keinen passenden Zugang haben.

Hieraus lässt sich eine Vielzahl von Fragestellungen ableiten:

- Welche kommunikationspsychologischen Stolperfallen führen dazu, dass Patienten nicht das tun, worum wir sie bitten?

- Warum befolgen manche Patienten ärztliche Anordnungen nicht?

- Wie kann man Patienten zu mehr Therapietreue motivieren?

- Patientenzufriedenheit erhöhen und gleichzeitig stressfreier arbeiten – geht das überhaupt?

- Kann man eine gastliche Atmosphäre aufbauen und dabei sogar Zeit sparen? Wann sind Patienten mit der Betreuung in einem Krankenhaus tatsächlich zufrieden?

- Warum verhalten sich gestandene Menschen als Patient in einem Krankenhaus plötzlich völlig anders als beim täglichen Einkauf im Supermarkt?

- Warum versteht mein Gesprächspartner eine Aussage ganz anders, als ich sie gemeint habe? Wie kann ich das vermeiden?

- Wie gehe ich mit unzufriedenen oder aggressiven Patienten um?

- Wie schafft man es, Aussagen von Angehörigen nicht persönlich zu nehmen?

- Wie kann man Ruhe bewahren und freundlich bleiben, selbst wenn der Andere unfair und übergriffig wird? Muss man sich alles gefallen lassen?

- Wie lassen sich schwierige Situation gekonnt entschärfen?

- Kann man Angehörigen tatsächlich ihre Angst nehmen, indem man ihnen versichert, sie bräuchten sich keine Sorgen zu machen?

- Wie kann man Beschwerden über lange Wartezeiten vermeiden?

- Welche Rolle spielt der erste Eindruck beim Kontakt mit Patienten und Angehörigen?

- Erschaffen wir uns schwierige Patienten manchmal selbst?

- Beeinflusst unsere Wortwahl unter Umständen sogar den Behandlungserfolg? Und wenn ja, wie und warum?

Und zu guter Letzt: Was hat all das mit Vivaldi, Waschpulver, Zirkuselefanten und der eigenen Schwiegermutter zu tun?

3 Ich verwende diesen Begriff im weiteren Verlauf als Synonym für Ärzte und Pflegekräfte.

4 Vgl. Simon & Mehmecke (2017). In Ländern wie der Schweiz oder Holland liegen diese Werte bei 1:8 bzw. 1:7. Im Bundesstaat Kalifornien sogar nur bei 1:5,3.

5 Vgl. Bartens (2013), vgl. Stahl & Nadj-Kittler (2016). Im Laufe ihres Berufslebens führen Ärzte Schätzungen zufolge durchschnittlich zwischen 150.000 und 200.000 Patientengespräche. Sie verbringen somit ca. 60 – 80% ihrer täglichen Arbeitszeit im Dialog mit Patienten.

Sprache formt Realität

Подняться наверх