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2 Meine Erwartungen als Patient

People will forget what you said, People will forget what you did,but they will remember how you`ve made them feel.

(Maya Angelou)

Ich möchte Sie gerne zu einem kleinen Gedankenexperiment einladen.

Nur mal angenommen – Sie haben seit knapp drei Wochen ein Drehschwindelgefühl. Dieses Gefühl wird begleitet von Übelkeit, Sehstörungen und teilweise extrem starken Kopfschmerzen. Es ist Freitagvormittag. Sie nehmen ihr Herz in die Hand und entschließen sich spontan, ihrem Hausarzt einen unangekündigten Besuch abzustatten. Sie möchten wissen, was los ist. Nach entsprechender Wartezeit kommen Sie tatsächlich noch dran. Der Arzt führt mit Ihnen ein Gespräch über die Symptome, er macht ein EKG und hört Sie ab. Er kann jedoch nichts feststellen. Bei der anschließenden Besprechung über das weitere Vorgehen wird Ihnen empfohlen, eine Spezialklinik aufzusuchen. Diese befindet sich allerdings 160 Kilometer von Ihrem Wohnort entfernt. Wenn Sie sich direkt auf den Weg machen, kämen Sie vermutlich erst am frühen Abend dort an. Außerdem steht das Wochenende bevor. Da Sie antizipieren, dass über das Wochenende weniger Untersuchungen durchgeführt werden, entscheiden Sie sich, erst am Montag in die Klinik zu fahren.

Jetzt ist Montagmorgen und Sie kommen dort an:

- Sie sind alleine

- Sie sind in einer fremden Stadt

- Sie kommen in ein fremdes Klinikum und Sie haben eine unklare Diagnose

Welches Verhalten des Klinikpersonals würde Ihnen persönlich in dieser Ausnahmesituation guttun? Was wünschen Sie sich?

Bei der Beantwortung dieser Frage geht es ausschließlich um Verhaltensweisen. Es ist irrelevant, ob die Patientenaufnahme nach den neuesten Erkenntnissen der Farbenlehre gestrichen ist und das Klinikpersonal die passende Kleidung dazu trägt. Vermeiden Sie auch Ideen, die sich auf eine überhöhte Anspruchshaltung von Patienten beziehen („Ich will einen großen Fernseher“ oder „Ich möchte ein besonders bequemes Bett“). Es geht einzig und alleine um die Frage, was Ihnen persönlich guttun würde. Was können die Angestellten des Klinikums tun, damit es Ihnen in dieser Ausnahmesituation besser geht und Sie sich gut aufgehoben fühlen?

Welches Verhalten tut mir gut? Was wünsche ich mir?

Mediziner bemängeln häufig, dass Patienten und Angehörige völlig überzogene Vorstellungen davon haben, mit welchen Leistungen sie während eines Klinikaufenthaltes rechnen können. Die Erwartungen werden als übertrieben, realitätsfern und stressfördernd empfunden. Wenn ich allerdings Seminarteilnehmern aus dem Gesundheitswesen das oben beschriebene Szenario vorstelle, werden immer die gleichen Punkte genannt:6

1. Freundlichkeit

2. Empathie & Verständnis

3. Ernstgenommen werden

4. Hilfsbereitschaft

5. Zeit nehmen/Ruhe ausstrahlen

6. Klare Aussagen

7. Verbindlichkeit

8. Informationen (Abläufe, Räumlichkeiten, Ansprechpartner, Wartezeiten)

9. Ehrlichkeit

10. Diskretion

11. Interesse an der Person

12. Zuhören

13. Transparenz

14. Verständlichkeit

15. Kompetenz/Gute Behandlung

16. Gute, freundliche Arbeitsatmosphäre

Die aufgeführten Punkte verdeutlichen, dass die eigene Anspruchshaltung ebenfalls sehr hoch ist. Die Antworten decken sich mit verschiedenen Studien zu den Einflussfaktoren auf die Patientenzufriedenheit in Krankenhäusern7, ohne dabei Anspruch auf Vollständigkeit zu haben. Auf der vorherigen Seite haben Sie die Aspekte aufgezählt, die Ihnen persönlich wichtig sind. Sind diese deckungsgleich mit der o.g. Liste? Mit Sicherheit gibt es einige Überschneidungen, doch woher kommt das?

Wenn man den „Ottonormalverbraucher“ unmittelbar nach einem Krankenhausaufenthalt dazu befragt, wie er die Qualität des Aufenthaltes beurteilt, werden die folgenden drei Kriterien zumeist als Erstes genannt: Die dritthäufigste Antwort auf die Frage lautet „Die Zimmer waren sauber oder dreckig“, also der Hygieneaspekt. Die zweithäufigste Antwort lautet „Das Essen war gut oder schlecht“, und das, obwohl es um die Bewertung eines Krankenhauses und nicht eines Restaurantbesuches geht. Die Bedeutung des Essens für die Patientenzufriedenheit nimmt allerdings bereits einige Tage nach dem Krankenhausaufenthalt stark ab. Aus diesem Grund schicken die Krankenkassen ihren Kunden die Fragebögen zur Beurteilung des Krankenhausaufenthaltes auch erst nach drei bis vier Wochen zu.

Die absolute Topantwort auf die Frage, wie es dem Patienten in dem Krankenhaus gefallen hat, lautet jedoch „Das Personal war freundlich oder unfreundlich.“ Dieser Punkt wird auch bei der Arbeit mit Seminargruppen zu der Eingangsfrage (Welches Verhalten tut mir gut?) fast immer als Erstes genannt. Hierfür gibt es eine relativ banale Erklärung.

Nehmen wir wieder an, Sie sind Patient in einem Krankenhaus. In dieser Situation gehen Sie mit hoher Wahrscheinlichkeit davon aus, dass es Ihnen bei der Entlassung etwas besser geht als vorher, oder? Das gilt natürlich nicht bei einer unheilbaren Diagnose. Betrachten wir stattdessen das vereinfachte Beispiel eines gebrochenen Arms. Sie bekommen einen Gipsverband und ggf. ein Schmerzmittel, sodass es Ihnen beim Verlassen des Krankenhauses wieder ein wenig besser geht. Wenn wir diesen Gedanken weiterspinnen, bedeutet das zugleich, dass die medizinische Versorgung in einer Klinik die absolute Minimalleistung darstellt. Patienten gehen ohnehin davon aus, dass ihnen medizinisch geholfen wird. Folglich können die Angestellten eines Klinikums an dieser Stelle gar keine „Pokale gewinnen“. Patienten erachten diese Leistung als selbstverständlich. Aus diesem Grund wird auch bei der Eingangsfrage (Was tut mir gut?) der Aspekt einer guten Behandlung bzw. Kompetenz in der Regel nachrangig – teilweise sogar gar nicht – genannt. Hohe medizinische Standards, effektive Therapien und medizinisches Fachwissen werden heute in jedem Krankenhaus vorausgesetzt. Doch inwiefern können Patienten die medizinische Versorgung objektiv beurteilen?

Patienten sind dazu kaum in der Lage, da sie in den meisten Fällen Laien auf diesem Gebiet sind. Sie verfügen über keinerlei oder nur sehr geringe Fachexpertise. Woher sollte ein Patient beispielsweise wissen, ob sein Röntgenbild aus Klinik A besser und genauer ist als die Röntgenaufnahme aus Klinik B? Ein Patient kann den radiologischen Scan in Bezug auf seine Qualität nicht beurteilen – er hat keine Ahnung davon. Patienten können den medizinischen Wert einer Behandlung oft nicht beurteilen, „behandelt“ fühlt sich dagegen jeder. Da es für Patienten maßgeblich ist, ob sie sich in einer Klinik gut betreut und versorgt fühlen, machen sie Qualitätsunterschiede an anderen Dingen fest. Hierbei spielt die Form der Kommunikation eine entscheidende Rolle. Durch eine bedachte Wortwahl bzw. die Kraft der Sprache kann man starken Einfluss darauf nehmen, wie Patienten den Aufenthalt in einem Krankenhaus erleben. Trotz aller wissenschaftlichen und technischen Möglichkeiten, die Medizinern heute zur Verfügung stehen, gilt Kommunikation noch immer als das A und O des klinischen Prozesses zur Diagnose, Behandlung und pflegerischen Versorgung von Patienten. Die Zufriedenheit von Patienten mit der Behandlung durch Ärzte und Pflegekräfte hängt sehr stark von der Qualität der Kommunikation ab, die zwischen ihnen abläuft. Untersuchungen zeigen eine stark ausgeprägte Zufriedenheit bei Patienten im Zusammenhang mit (1) freundlichem Verhalten von Medizinern gegenüber den Patienten, mit (2) Einfühlungsvermögen, mit (3) der Klärung und Zusammenfassung von erhaltenen Informationen sowie (4) der Weitergabe von Informationen an Patienten in einer ihnen verständlichen Sprache.8 Einer der wesentlichen Hilfsparameter zur Beurteilung eines Krankenhaues ist folglich die wahrgenommene Freundlichkeit des Klinikpersonals. (Überprüfen Sie an dieser Stelle noch einmal Ihre eigene Liste, ob und an welcher Stelle Freundlichkeit und Kompetenz bei Ihnen auftauchen.)

Dieses Gedankenspiel lässt sich auf viele andere Alltagssituationen, wie beispielsweise die einer Autoreparatur übertragen. Wenn wir unser Auto im Schadensfall oder für eine Inspektion zur Werkstatt bringen, gehen wir davon aus, dass das Fahrzeug im Anschluss daran wieder einwandfrei fährt. Im Krankenhaus gehen wir davon aus, dass eine gesundheitliche Verbesserung eintritt. Hier besteht also eine gewisse Parallele. Stellen Sie sich nun folgendes Szenario vor: Sie bringen Ihr Auto in eine Werkstatt und bekommen es nach einem halben Tag mit dem Ergebnis zurück, dass der Wagen wieder 1A fährt. Der Servicemitarbeiter in der Werkstatt ist bei der Schlüsselübergabe allerdings extrem unfreundlich und gibt Ihnen das Gefühl, nicht willkommen zu sein. Er signalisiert durch sein Verhalten, dass Sie stören. Würden Sie Ihr Auto beim nächsten Mal wieder dorthin bringen? Die meisten Menschen beantworten diese Frage mit einem klaren Nein. Dieses Beispiel zeigt, wie wichtig ein freundliches Auftreten ist. Die eigentliche Leistung, also die Reparatur des Autos, wird tadellos erbracht. Wenn der Mitarbeiter der Werkstatt jedoch als unfreundlich empfunden wird, kann es durchaus passieren, dass der Kunde beim nächsten Mal zur Konkurrenz wechselt. Das gleiche Prinzip kann auf die Arbeit im Krankenhaus übertragen werden. Ein Patient erhält aus medizinischer Sicht die bestmögliche Versorgung, die man sich überhaupt vorstellen kann. Wenn dieser Patient die Angestellten des Krankenhauses jedoch als unfreundlich empfunden hat, besteht die Gefahr, dass er trotz einer guten Behandlung direkt im Anschluss an seinen Krankenhausaufenthalt auf sozialen Medien wie Facebook oder Google ein negatives Feedback hinterlässt und sich beim nächsten Mal für eine andere Klinik entscheidet.

6 Grundlage hierfür ist die Arbeit mit über 500 Seminargruppen.

7 Vgl. Stahl & Nadj-Kittler (2016), vgl. Wachholz (2020)

8 Vgl. Comstock et al. (1982), vgl. Korsch & Negrete (1972)

Sprache formt Realität

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