Читать книгу Deine Wahl / Your Choice - Zweisprachiges E-Book Deutsch / Englisch - Christopher Peterka - Страница 12
Kapitel 1
Geschätzte Lesezeit: 23 Minuten
Erster Abschnitt: 7 Minuten
Zweiter Abschnitt: 10 Minuten
Dritter Abschnitt: 6 Minuten WIR SIND SKLAVEN DIGITALER MONOPOLE VON GUTENBERG BIS ZUCKERBERG – VON DER BEFREIUNG HIN ZUM RAUSCH BEFREIUNG
ОглавлениеStell dir vor, du bist kein Vollidiot.
Stell dir vor, du bist ein gut aussehender Typ mit sinnlichen Lippen, schönen Haaren und einer Denkerfalte auf der Stirn. Stell dir das Selfie vor: Du bist intelligent, du bist toll, du bist sexy.
Ein Selfie geht gerade nicht, denn wir schreiben das Jahr 1517, aber ein schickes Porträt von dir wurde gemalt: Läuft bei dir.
Du lebst in einer pittoresken kleinen Stadt namens Wittenberg in der Mitte Deutschlands, das allerdings noch nicht Deutschland heißt, sondern Heiliges Römisches Reich. Streng genommen ist es kein Reich, es ist nicht wirklich römisch, und es ist ganz sicher nicht heilig. Zumindest deiner Ansicht nach nicht, und die ist sehr entschieden, denn du bist ein Mönch: Du verbringst den größten Teil deiner Zeit mit Beten und damit, das Wesen Gottes zu erkunden. Manchmal gehst du auf Pilgerfahrt. Du bist Martin Luther, das Original.
[DU HAST KEINE GEDANKENFREIHEIT NOCH SONST IRGENDEINE FREIHEIT.]
Dein größtes Problem mit dem Heiligen Römischen Reich und der katholischen Kirche besteht darin, dass die Kirche durch das Heilige Römische Reich fast absolute Macht genießt und allen, auch dir, vorschreiben will, was sie denken sollen, was sie sagen sollen, was sie tun sollen, wann sie beten sollen und an wen sie glauben sollen. Gedankenfreiheit? Fehlanzeige! Noch ist irgendeine andere Art von Freiheit in Sicht. Dir wird vorgeschrieben, wie alles zu laufen hat, und das Risiko, das du eingehst, wenn du widersprichst, ist beträchtlich. Und vor allem real: Du könntest exkommuniziert werden, was in der Praxis bedeutet, dass du alle Glaubwürdigkeit in der Gesellschaft verlierst; du könntest sogar hingerichtet werden.
Aber es gibt eine Sache, die dich wütender macht als alles andere: der »Ablasshandel«. Was soll die Scheiße?
Es geht dabei genau um das, was du denkst, aber das sagst du so nicht. Im Endeffekt geht es um Freifahrtscheine, die von der Kirche an die Leute verkauft werden. Nur statt aus dem Gefängnis sollen sie damit aus dem Fegefeuer entlassen werden. Und anders als die Monopolykarten sind sie nicht kostenlos: Leute zahlen echtes Geld dafür.
Du hältst das Ganze für Abzocke. Es geht dabei um ein heimtückisches Geschäft, bei dem Geld von den Armen zu den Reichen fließt. Die Armen sind das Volk, die meisten haben keine Bildung und glauben daher, was auch immer man ihnen sagt; die Reichen gehören zum Adel und zur Kirche. Die Kirche verfügt über immensen Wohlstand, sie schwimmt im Gold. Und da in den Augen der katholischen Kirche alle Sünder sind, landen alle im Fegefeuer. Das Fegefeuer ist der Vorhof zur Hölle: ein unangenehmer Ort. Aber für eine kleine Gebühr erspart dir ein Ablassbrief die furchtbare Folter und den unerträglichen Schmerz, den du dort erfährst, um für deine Sünden zu büßen. Sollten deine Sünden besonders widerlich ausfallen, fällt die Gebühr natürlich ein wenig höher aus.
Du hältst das Ganze für einen riesigen Unsinn. Du bist Mönch, du hast die Schriften studiert, und zwar ausgiebig. Jeden Tag, jahrelang. Es ist dein Beruf gewesen, die Schriften zu studieren. Und so wie du die Schriften begreifst, kann jeder Erlösung und Gottes Vergebung erlangen, wenn er nur an Christus glaubt. Und das tust du kund. Das passt der katholischen Kirche gar nicht; was die katholische Kirche angeht, bist du Häretiker und extrem gefährlich.
Und immer noch ist es das Jahr 1517: Was tun?
Du hast kein Internet, kein Smartphone, keine Verschlüsselung, auch kein Telefon, noch nicht einmal Strom. Es gibt keine Züge, keine Flugzeuge, keine Autos. Du hast den Papst und das ganze »Heilige Reich« im Nacken, und du bist Mönch. Du hast dich einem Leben in Armut und Demut verschrieben, du besitzt nichts.
Du druckst.
Das Buch ist deine Waffe, und sie ist kein Geheimnis mehr. Du kannst dich direkt an dein Publikum wenden, du brauchst keinen Papst.
Du schreibst deine 95 Thesen auf und nagelst sie wahrscheinlich an die Tür deiner Kirche – wir können uns heute nicht ganz sicher sein, ob das tatsächlich so geschehen ist –, und du druckst sie. Du verbreitest deine Ansichten, du veröffentlichst sie. Und das Gleiche machst du mit der Bibel: Du machst sie verfügbar, auf Deutsch, damit die Leute, die des Lesens kundig sind, sie lesen und sich ihre eigene Meinung bilden können. Und damit Leute, die nicht lesen können, lernen können zu lesen. Denn jetzt gibt es Bücher.
Der Mann, der deine Stimme verstärkt und es möglich macht, dass du über ganz Europa hinweg gehört werden kannst, hat leider schon das Zeitliche gesegnet, jedoch wird er nicht so bald in Vergessenheit geraten: Johannes Gutenberg, geboren um 1400, gestorben 1468, etwa 50 Jahre vor dem Druck der Thesen.
Er war ebenfalls ein echter Kerl mit einem fantastischen Bart, von dem die meisten Hipster nur träumen können, und einem Kopfschmuck, mit dem er auch heute in Shoreditch oder Dashanzi noch Eindruck schinden würde. Seine Heimat war Mainz, rund 370 Kilometer Fluglinie südwestlich von Wittenberg: drei Wochen Pferderitt oder einen Monat zu Fuß, je nach Jahreszeit und persönlicher Fitness. Technologie reist noch nicht so schnell, weil es die Menschen auch nicht tun.
[DER WICHTIGSTE TECHNOLOGISCHE FORTSCHRITT SEIT DER ERFINDUNG DES RADES]
1439, im Alter von ungefähr 40 Jahren, unternahm Gutenberg etwas, das unsere Welt wesentlich veränderte. Er »erfand« die mechanische Druckpresse. Man kann nicht sagen, dass er der Erste gewesen wäre, der mechanisch gedruckt hat: Druckpressen unterschiedlicher Art kamen in Asien bereits im siebten Jahrhundert zum Einsatz, doch erreichte Gutenberg beachtliche Fortschritte bei den bis dahin ausprobierten Verfahren und führte die Technologie in Europa ein. Sein größter Beitrag war der Bleisatz.
Er ist der bedeutendste technologische Fortschritt seit der Erfindung des Rades. Der Bleisatz erlaubte dem Drucker, Worte, Sätze und Paragrafen für eine Seite zu setzen und davon große Auflagen in kurzer Zeit zu drucken – zu verhältnismäßig niedrigen Kosten. Nie zuvor hatte eine einzelne Erfindung so schnell einen so großen Einfluss gehabt.
Der einfache Grund, warum Gutenbergs Beitrag unsere Welt so sehr verändert hat, besteht darin, dass durch ihn die Massenproduktion von gedruckten Materialien möglich und erschwinglich wurde. Zuvor musste man in eine Universität oder ein Kloster oder in eine der sehr wenigen Bibliotheken gehen, um ein Buch zu lesen. Allein die Tatsache, dass du ein Buch lesen wolltest, machte dich zu einer extrem privilegierten Ausnahme. Es bedeutete, dass du lesen konntest, über Bildung verfügtest. Von vielleicht zehn Leuten warst du der Einzige.
Wenn du das gelesene Buch dann teilen wolltest, konntest du dich entweder hinsetzen und es selbst von Hand kopieren oder jemanden dafür anheuern. So oder so dauerte es Wochen oder Monate. Kein Wunder, dass Wissen, ja sogar Einzelinformationen so eingeschränkt waren und so streng kontrolliert wurden. Es gab nicht viele Menschen auf der Welt, die darüber verfügten, und noch weniger, die es wirklich handhaben konnten – es zum Beispiel manipulieren, ändern oder erweitern. Und wenn du in der Position und Lage warst, ein Buch zu schreiben, damit andere es lesen konnten, gehörtest du zu einer wahren Elite.
Deswegen hat der Druck so viel verändert. Er stellt das erste Medium für Massenkommunikation dar und ermöglichte erst die Reformation: Mithilfe des Drucks konnte Luther die Autoritäten überwinden und die Leute direkt erreichen. Zwar konnten noch nicht alle lesen, aber in jedem Dorf und in jeder Stadt gab es jemanden, der die Schrift kannte. Ein Gelehrter, ein Priester oder ein Lehrer, der offen für neue Ideen war. Und mehr brauchte es nicht. Jetzt konnten sie lernen: Die Texte kamen zu ihnen, in ihre Häuser, ihre Schulen, ihre Köpfe.
Offenbar aber wurde der Druck nicht nur zu aller Nutzen verwendet. Er ist eine Technologie; mit ihr lässt sich eine bösartige Gesinnung ebenso verbreiten wie echte Weisheit. So wurde ein Buch, das seinen Lesern sagte, dass Hexen unter ihnen lebten und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden mussten, zu einem Bestseller. Das ist es genau, was den Druck so mächtig macht: Fast jeder hat Zugriff darauf. Auch wenn man berücksichtigen muss, dass eine Druckpresse eine beachtliche Investition bedeutete, der dadurch ausgelöse Wandel war dennoch von tektonischer Wirkung. Der Druck demokratisierte erstmals das Wissen – und auch den Aberglauben. Plötzlich befand sich das geschriebene Wort und damit das Lernen, der politische Diskurs, das Gebet wie auch die Polemik, die Poesie, die Prosa nicht mehr im festen Griff der wenigen Gelehrten, sondern konnte jeden erreichen, der gewillt war, lesen und schreiben zu lernen. Und in Europa machte sich fortan der Hunger nach Wissen und nach Geschichtskenntnis bemerkbar. Nach Kunst und Einsicht. Nach alten Lehren und neuen Gedanken. Nach Aufklärung. Es ist die Wiedergeburt eines Zeitalters einer fast vergessenen Kunst und Kultur, es ist die Renaissance.
Ja, man kann sagen, der Druck war das Tor zur Befreiung.