Читать книгу Deine Wahl / Your Choice - Zweisprachiges E-Book Deutsch / Englisch - Christopher Peterka - Страница 17

Kapitel 3
Geschätzte Lesezeit: 23 Minuten
Erster Abschnitt: 10 Minuten
Zweiter Abschnitt: 9 Minuten
Dritter Abschnitt: 4 Minuten DAS EINZIGE, WAS UNS ZU EINEM SYSTEMWANDEL FEHLT, IST ÜBERZEUGUNG HEDONIST 3.0 – DER WUCHERMENSCH SPIELEN

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Vergnügen, Sinneserfahrung, uns selbst und andere genießen – das und Ähnliches ist nicht einfach verschwunden. Im Gegenteil: Es ist sogar wichtiger geworden, und nicht nur das, es ist wesentlich leichter herstellbar. Zumindest für uns, die wir ein sicheres Leben in einem entwickelten Land führen können. Verglichen mit den Zeiten Gutenbergs leben wir heute wie Könige.

[WIR HABEN ES EIGENTLICH NOCH NIE SO GUT GEHABT.]

Das ist ein Erfolg, den man nicht gering schätzen sollte. Durch die Nachrichten und die Dauerberieselung damit bekommen wir oft den Eindruck, alles sei furchtbar. Tatsächlich sind wir in vielerlei Hinsicht ein spektakulärer Erfolg. Wir sind besser gebildet als je zuvor, die Lese- und Schreibfähigkeit befindet sich weltweit auf dem historisch höchsten Niveau. Und das sogar einschließlich Frauen und Mädchen wie auch sozialen Schichten, denen jahrhundertelang entweder keine Bildung zuteilwurde oder nur unter außergewöhnlichen Umständen. Wir haben mehr Freizeit, wir reisen weiter, die Wahrscheinlichkeit, dass wir an Krankheiten, durch Gewalt oder Unterdrückung sterben, ist geringer als für jede Generation vor uns. Wir haben es tatsächlich noch nie so gut gehabt.

Was auch stimmt: Viele werden weiter ausgebeutet und ungleich behandelt, wir leben in keiner perfekten Welt. Dennoch: Im Vergleich zur Welt, in der ein Gutenberg aufwuchs, haben wir »Vollidioten« es im Zeitalter der Zuckerbergs erstaunlich weit gebracht.

[WIR SIND NICHT DEM UNTERGANG GEWEIHT.]

Als William Shakespeare sich Mitte der 1580er-Jahre eine kurze Auszeit von seiner etwas älteren Frau und seinen drei Kindern in Stratford-upon-Avon gönnte und sich einen Namen als Dichter und Theaterautor machte, betrug die Lebenserwartung für einen jungen Mann in London etwa 30 Jahre. Kein Wunder, dass er schon mit 29 eine Art Midlife-Crisis erlebte und sich Hals über Kopf in einen reichen und besonders schönen, zehn Jahre jüngeren Edelmann verknallte. Wie wir von den vielen und nicht selten genau diesem Liebhaber gewidmeten Sonetten wissen, lebten diese Menschen oft ein Liebesleben, von dem wir auf Facebook heutzutage sagen würden: »It’s complicated.« Das hat aber auch damit zu tun, dass das Leben damals hart war und schnell vorbei sein konnte.

Als Mann konnte man jederzeit zum Duell herausgefordert, in den Krieg geschickt, in eine Schlägerei verwickelt oder für einen x-beliebigen Grund hingerichtet werden. Als Frau gehörte man gesetzlich seinem Ehemann oder Vater – außer man wurde Nonne oder war zufällig die Queen. Die Wahrscheinlichkeit, bei der Geburt eines Kindes zu sterben, war recht hoch.

Wer sich eine Grippe einfing, übel den Finger ritzte oder die Treppe hinunterstürzte, konnte ohne Weiteres den Folgen erliegen: Es gab keine Antibiotika, kaum Desinfektionsmittel, außer Alkohol, und keine Krankenwagen. Die Pest radierte regelmäßig ganze Bevölkerungen über ganz Europa hinweg aus; und wenn es ein mieses Jahr war und die Ernte ausfiel, dann verhungerten die Menschen.

Früher war also nicht alles besser: In fast jedem Teil der Welt sind Lebenserwartung, Wohlstand und der Schutz persönlicher Rechte kontinuierlich angestiegen. Ja, es liegt noch einiges an Weg vor uns, aber wir sind nicht dem Untergang geweiht.

Was ist dann los? Wieso fühlt es sich dann nach dem Gegenteil an?

Es ist gut möglich, dass wir uns einer prekären Schwelle nähern. In manchen Teilen der entwickelten Welt – Teilen der USA und Großbritanniens zum Beispiel – stagniert die Lebenserwartung oder sinkt sogar, zum ersten Mal seit Jahrzehnten. Deutschland weist aktuell eine der geringsten Lebenserwartungen in der entwickelten Welt auf, obwohl es die größte Wirtschaftsmacht Europas und die viertmächtigste der Welt gleich nach Japan, China und den USA ist.

Wie kann das sein? Wie kommt es, dass wir in so einer elementaren Kategorie stagnieren oder sogar verlieren? Mit all dem Wohlstand und all der Gesundheitsfürsorge und all der Bildung und all der Vernetzung, die wir haben?

Kann es sein, dass wir zu viel haben? Von allem? Essen, Trinken, Drogen, Kram?

Oder sind wir einfach zu busy? Stress ist ein signifikanter Indikator in den deutschen Gesundheitsstatistiken. Aber sagten wir nicht, wir hätten mehr Zeit für uns selbst übrig als die Generationen zuvor? Das stimmt zwar, aber was machen wir damit? Wir packen sie voll. Wir verplanen jede Minute des Tages mit irgendeiner Beschäftigung. Wir verplanen die Tage unserer Kinder mit Aktivitäten. Und selbst wenn wir nichts tun, kleben wir an unseren Bildschirmen, wo alle paar Minuten eine Benachrichtigung unsere Aufmerksamkeit auf irgendetwas richten will. Wir sind ständig angetrieben, stimuliert und beschäftigt – rastloser als jemals zuvor.

»What is this life if, full of care,

We have no time to stand and stare.

No time to stand beneath the boughs,

And stare as long as sheep and cows.«

So fragte der Dichter William Henry Davies in seinem Gedicht Leisure von 1911. Damals hatten die meisten nicht einmal ein Telefon, und damit meinen wir einen oldschool Festnetzanschluss – falls ihr noch wisst, was das ist. »A poor life is this«, schlussfolgert er, nachdem er ein paar weitere Zeilen lang ein Landschaftsidyll beschrieben hat, »if, full of care, / We have no time to stand and stare.«

[NICHT ZU LEIDEN WAR DAS WICHTIGSTE.]

Sind wir also immer noch nichts weiter als Hedonisten, die nur Spaß haben wollen und das auch echt gut draufhaben, oder haben wir uns insgesamt in etwas wesentlich Problematischeres verwandelt? Verwandeln wir uns in Wuchermenschen? Ein Mensch im Exzess. Ein Wesen unkontrollierten und unkontrollierbaren Wachstums sowie grenzenloser Gier? Ist das ein neuer Archetyp des 21. Jahrhunderts? Und wenn ja, ist das wirklich das, was wir sein wollen?

Bevor wir diese Frage untersuchen wollen, rufen wir uns ins Gedächtnis, wie wir genau hier gelandet sind. Das war keineswegs ein Zufall. Für die, die den Zweiten Weltkrieg durch- und überlebt hatten, galt als oberste Priorität, die Lebensumstände in der Nachkriegszeit zu verbessern. Mit deutlicher Erinnerung an die Mühsal, Zerstörung, Not und Rationierung war es am wichtigsten, nicht zu leiden. Nicht verzichten zu müssen.

Also wurde gearbeitet, und zwar hart, um materiellen Wohlstand anzuhäufen. Nicht nur genug Essen, sondern reichlich Essen. Nicht nur ein Dach über dem Kopf, sondern eine gemütliche Bleibe und ein Auto, am besten zwei. Küchengeräte und Nippes für den Kaminsims. Es schien vernünftig und nötig. Leibliches Wohl und ein anerkannter Lebensstil waren nicht nur eine nette Angelegenheit, es waren Kernambitionen, die Grundmotivation der Begierde. Für einen selbst wie für die eigenen Kinder und Kindeskinder.

Bei einem derart gut ausgestatteten und versorgten Nachwuchs überrascht es nicht, dass eine Generation entsprang, die alles hatte, und dann eine nächste, die nicht mehr nur alles hatte, sondern komplett drüber war: über-vernetzt, über-ausgestattet und über-versorgt mit Produkten, Marken, Labeln und Dienstleistungen, aber gleichzeitig bemerkenswert unter-engagiert und unter-beteiligt in Bezug auf das eigene »Schicksal«, mehr noch das des Planeten oder das nachfolgender Generationen. So schien es zumindest eine kurze Zeit lang.

Doch Dinge ändern sich immer weiter. Während wir dies schreiben, erreichen uns die Nachrichtenmeldungen über Proteste in Hongkong und in Moskau. Vor einigen Wochen kamen sie auch aus London. Es geht bei allen Protesten um etwas anderes, aber die Demonstranten gehören zum großen Teil der gerade beschriebenen Generation an. Es wäre schlichtweg falsch, die jungen Menschen heute als allgemein gleichgültig zu beschreiben.

Bleibt jedoch die Frage: Was passiert nach der Demo? Hier unterscheiden sich die Proteste in Hongkong und Moskau von denen der Extinction Rebellion. Die ersteren haben klare und spezifische demokratische Forderungen, die rein auf der lokalen und nationalen Ebene erfüllt werden können. Der Umweltaktivismus verfolgt viel komplexere Ziele, die nicht lokal und national gelöst werden können, die radikale politische und ökonomische Änderungen erfordern und eine vollständige Überarbeitung und Neukonzipierung der Gesellschaft und ihrer Funktionsweise voraussetzen.

Es ist ohnehin unmöglich, eine ganze Generation über einen Kamm zu scheren, als wäre sie eine uniforme, homogene Gruppe. Wie immer eröffnet sich auch hier bei näherem Hinsehen ein viel differenzierteres Verständnis. Und zwar das einer Generation, die vielleicht überwältigt ist von den Möglichkeiten, dem Potenzial und den Freiheiten, die sie genießt. Die nicht vor ihren eigenen Verantwortlichkeiten zurückschreckt und Zuflucht in Erholung sucht, die Bedarf hat an einer Strategie oder überhaupt dem Gefühl, etwas ausrichten zu können, wenn man es denn versuchte.

Darüber hinaus hat sich die wirtschaftliche Realität, in der sich diese Generation wiederfindet, im Vergleich zu dem, was ihre Eltern und Großeltern erlebten, fast bis zur Unkenntlichkeit gewandelt. Jobsicherheit kann man so gut wie vergessen. Staatliche Renten können in vielen großen Wirtschaften nicht mehr die Existenz der alternden Bevölkerung sichern.

Nie zu wissen, wie lang der eigene Job halten wird, nicht zu wissen, wie man sich im Alter versorgen wird – diese Art von Ungewissheit ist schon ein beachtlicher Stressfaktor, der noch nicht ganz verstanden ist und sicherlich nicht ignoriert werden kann. Wenn du heute Mitte 20, 30 und sogar 40 bist und arbeitest, hast du keinerlei Garantie für eine sichere Altersvorsorge. Vielleicht denkt man nicht jeden Tag daran, aber es lauert irgendwo im Unterbewusstsein. Es ist eine Ungewissheit, die über dir schwebt. Zu allem bereits Erwähnten – den Ablenkungen, den Krisen, dem Bedeutungsverlust – kommt das noch hinzu, ohne die Möglichkeit dem Stress einfach den Rücken zu kehren, sich um sich zu kümmern und sich in ein Leben voller Sonnenuntergänge und Freizeit abzusetzen. Nicht nur hat man jetzt keine Zeit dazu, einfach nur dazustehen und in die Luft zu starren, man wird sie vermutlich nie haben …

Oder nehmen wir das Konzept, für manche auch das Ideal der »Sharing Economy«. Sie hat gewiss ihren ganz eigenen Charme und suggeriert den Verzicht auf das Bedürfnis, Dinge zu besitzen, als Weg, sich von einem goldenen Käfig zu befreien. Sie bietet stattdessen den über Online- oder Mobilplattformen geteilten Besitz an, ob das eine Bleibe, das Auto für den Weg zum Flughafen oder der Platz zum Arbeiten ist. Aber geht es hierbei wirklich um Teilen? Viele würden das verneinen und feststellen, dass es dabei vielmehr um den somit vermittelten Zugang geht, der nun von noch wenigeren kontrolliert wird, und die Bereitstellung noch stärker monopolisiert ist, als es zuvor der Besitz war. Während es nun also noch schwieriger für junge Leute wird, auf die Besitzleiter zu steigen, bleibt weitgehend unklar, wie die Alternativen aussehen.

Die Katastrophe für uns als menschliche Wesen, und damit für unseren Planeten, ist nicht, in unserem Verlangen erfolgreich zu sein, sondern vielmehr kulturell darauf konditioniert zu werden, zu akzeptieren, dass Wachstum um des Wachstums willen – mehr zu wollen, einfach weil es mehr ist – und Profit um jeden Preis uns ein Gefühl von Erfüllung oder Zufriedenheit geben werden. Dabei wissen wir, dass das nicht der Fall ist. Die Tatsache, dass materieller Wohlstand und Geld allein nicht glücklich machen, ist immer und immer wieder bestätigt worden. Was wir brauchen, ist eine gesicherte Grundlage und die Möglichkeit, gelassen zu leben. Aber ab einem gewissen Punkt des Wohlstands wird es nicht leichter, sondern tatsächlich immer schwieriger, glücklich zu werden. Das gilt für Individuen wie für die Gesellschaft als Ganzes. Die Folgen davon beginnen wir nun zu spüren.

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