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FÜRSORGE

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Was ist uns wichtig? Als Individuen? Als Gesellschaft?

Auch diese Frage ist nicht neu. Jede Generation, jedes Jahrhundert, jede Epoche muss sich fragen: Was ist uns wichtig? Was schätzen wir auf der untersten Ebene, und was heben wir hervor, fetischisieren und feiern wir?

[VON DEN ANDEREN 27 MAHLZEITEN WIRD DIR NUR SCHLECHT.]

Was kümmert uns, und wie kümmern wir uns? Wie kommt es, zum Beispiel, dass wir Fußballer und CEOs so sehr schätzen, dass wir ihnen an einem Tag das bezahlen, was wir dem durchschnittlichen Schullehrer im Jahr bezahlen? Nicht zu vergessen, dass deine Kinder im Schnitt mehr Zeit mit ihrem Schullehrer verbringen als mit dir. Wie spiegelt sich das, was uns wichtig ist, in unserer Wertschätzung und Fetischisierung wider? In unserer Entlohnung?

Vielleicht geht es nicht um Geld. Ab einem gewissen Wohlstandsniveau wird es – wie gesagt – irrelevant. Man wird nicht glücklicher davon, sich 30 Mahlzeiten am Tag leisten zu können, es sei denn, man möchte neun weitere Menschen ernähren. Das könnte dich glücklich machen. Von den anderen 27 Mahlzeiten wird dir nur schlecht.

Die digitale Moderne hat beachtliche Umbrüche mit sich gebracht, aber uns auch in eine Lage versetzt, in der wir alles mit frischem Blick betrachten können. Ähnlich wie die Renaissance die Zentralperspektive als völlig neu eröffnet und geholfen hat, die Welt auf ganz neue Weise zu begreifen, erlaubt uns auch unsere Ära unsere Lebensweise, um neue konzeptuelle Dimensionen zu erweitern. Und es ist sicher nicht zu viel gesagt, wenn wir sie als neue Formen der Zivilisation betrachten. So viel kann dazu schon gesagt werden: Wenn wir in diesen Dimensionen eine Rolle als bedeutsame menschliche Wesen spielen wollen, werden wir sie definieren und formen und auch verhindern müssen, dass die Welle technologischer Entwicklungen über uns hereinbricht und uns hinwegspült.

[GELD IST EINE ERFINDUNG.]

Zum Beispiel könnte das globale Dorf, das das Internet möglich gemacht hat, weniger als eine große Masse verstanden werden, sondern als unterschiedliche, facettenreiche, sich gegenseitig befruchtende Organismen, die sich zu einem viel größeren Organismus vernetzter Wesen verbinden. Du wirst im Laufe dieses Buches viel von »Wesen« lesen, denn wir wollen Menschen, Mensch-Maschine-Hybride und Maschinen aller Größen und Arten miteinbeziehen.

In diesem globalen Dorf haben wir eine deutliche Bewegung in Richtung kommerzieller Vertikalisierung erlebt. Das ist das Gegenteil von dem, was zuvor passierte. Vorher, in der Horizontalisierung, gab es viele große Firmen und Unternehmen, die über eine weite geografische Fläche verteilt waren, indem sie zum Beispiel so viele Läden wie möglich eröffneten, um sich einen Marktanteil zu sichern.

Heute funktioniert das nicht mehr. Stattdessen kann man einen ortlosen Monolithen bauen, wie Amazon, und alles von einigen wenigen über den Globus verteilten Zentren aus betreiben. Und mit »alles« meinen wir ziemlich wörtlich alles. Amazon ist schon lange kein einfacher Vertrieb mehr, sondern bietet hochspezialisierte Dienstleistungen an, nicht nur für Konsumenten, sondern auch für andere globale Unternehmen, wie zum Beispiel digitales Streamen für die BBC. Es besitzt und betreibt Kurierdienste, verwaltet einen Teil seines eigenen interkontinentalen Versands und besitzt sogar die physische Whole-Food-Biosupermarkt-Kette, nur um auch bei diesem Spiel die Finger mit drin zu haben.

Im Angesicht solcher Konzentration von Macht haben wir Bürger, Konsumenten, Menschen nur eine Chance, wenn uns klar ist, was wir von denen, die über diese Macht verfügen, verlangen. Und das ist Transparenz. Radikale Offenheit. Und Fürsorge. Für uns, für unsere Rechte und Freiheiten und für unseren Planeten.

Und glaub nicht, dass die Mächtigen zu mächtig oder die bestehenden Strukturen zu gefestigt sein können, um herausgefordert oder gar verändert zu werden. Denn alles, was wir an unserer Zivilisation für fix, fest und gewiss halten, ist tatsächlich flexibel. Es ist alles ausgedacht. Oft über Jahrhunderte hinweg, mit extrem guten Absichten und vernünftig durchdacht. Aber es ist eine Erfindung. Geld ist eine Erfindung. Ebenso die Regierung. Und auch der Nationalstaat.

Sogar unsere Mathematik ist eine Erfindung. Keine zufällige, aber eine, die über viele Jahrhunderte hinweg entstanden ist, um unser Begreifen der Welt zu formulieren und zu formalisieren. So wie sich unser Verstehen geändert hat, hat sich auch die Mathematik angepasst. Das beste, aber bei weitem nicht einzige Beispiel ist die Zahl Null. Wir sind bis ungefähr zum sechsten Jahrhundert ohne sie ausgekommen. In Europa ist man ihr mit solcher Skepsis begegnet, dass ihr Gebrauch per Gesetz verboten werden sollte. Heute können wir uns kaum vorstellen, wie wir je ohne sie zurechtgekommen sind, nicht zuletzt, weil es kein Konzept des Digitalen ohne sie gibt und wir mittlerweile so sehr daran gewöhnt sind.

Unsere Konzepte, die unsere Gesellschaft funktional machen, sind Erzählungen, und das ist nichts Schlechtes. Es bedeutet lediglich, dass wir nun, wo wir neue Narrative brauchen, welche erfinden können, ja sogar müssen. Denn wenn wir es nicht tun, tun es andere, und möglicherweise gefällt uns deren Weltsicht und Gestaltungsvorstellung nicht.

[SO ETWAS WIE DIE GESELLSCHAFT GIBT ES NICHT.]

Das soll nicht heißen, dass wir alles vom Tisch fegen und von vorne anfangen müssen. Auch hier liegt Fürsorge im Kern der Angelegenheit. Wenn man seine Wurzeln abschneidet, kann man nicht wachsen. Die Fertigkeit – und die Aufgabe – liegt darin, neue Narrative über die alten zu legen, sie zu umschließen und mitzutragen, um etwas Starkes und Beständiges daraus zu formen. Was wir brauchen, ist eine evolutionäre Lösung, die sich nicht gegen aktuelle Systeme sträubt, sondern in sie hinein- und durch sie hindurchwächst und sie in sich aufnimmt. Wie bereits angedeutet, stellt das Kollektiv eine solche Lösung dar.

Kollektive begannen in den 1980er-Jahren einen schlechten Ruf zu bekommen, als Margaret Thatcher im Vereinigten Königreich und Ronald Reagan in den USA anfingen, das gesamte globale Wirtschaftssystem zu lenken, und dabei einen freien Markt schaffen wollten, der so unreguliert und individualistisch wie nur möglich war. In einem Interview mit dem Magazin Woman’s Own sagte Margaret Thatcher 1987: »Wer ist die Gesellschaft? So etwas gibt es nicht!« Es ist eines ihrer berühmtesten Zitate und wird oft verkürzt zu: »So etwas wie die Gesellschaft gibt es nicht.«

Aber so etwas wie die Gesellschaft gibt es eben doch. Genau die Tatsache, dass wir diese Gesellschaft seit Jahrzehnten vernachlässigen und ihre Existenz verneinen, erklärt zum Teil, weshalb wir uns in eine egoistische, entkoppelte, unerfüllte Einstellung versetzt haben. Eine Renaissance des Kollektivs muss kein Grund für Angst sein. Es handelt sich dabei um eine gemeinschaftliche Bemühung und Investition und nicht um etwas, das man unfähigen Amateuren überlässt, die es vermasseln, oder inkompetenten Regierungen. Ihr als Kollektiv wählt und setzt Professionelle, Experten und Organisationen ein, um es zu verwalten.

Die Frage danach, wer die operationalen Aspekte unserer Leben bestimmt, ist äußerst wichtig. Wenn du zum Beispiel einen Gefängnisbetrieb mit Profitausrichtung betreibst, wie es in vielen Teilen der USA der Fall ist, was tust du dann? Du machst es zum Primärinteresse der Gefängnisse, so viele Insassen wie möglich zu haben. Du hast ein System an der Hand, das sich mit Kriminellen füttert, denn wenn keine Kriminellen mehr ins Gefängnis geschickt werden, dann verringert sich der Umsatz des Unternehmens, und seine Daseinsberechtigung schwindet. Für die Firma und ihre Teilhaber ist das eine Katastrophe. Für die Gesellschaft als Ganzes wäre es wunderbar: Es wäre für sie das Ziel, keine Gefangenen zu haben, weil es keine Kriminellen gibt, die einen überfallen, auf einen schießen oder mit dem Messer angreifen, deinen Vater ermorden oder deine Tochter vergewaltigen. Die Interessen aller stehen in direktem Konflikt mit den Interessen derer, denen du die Verantwortung für den Betrieb der Gefängnisse übertragen hast. Was einer von vielen Gründen ist, warum staatlich betriebene Justizsysteme in Nordeuropa tendenziell eine extrem niedrige Rate an Wiederholungsstraftaten und eine hohe Erfolgsrate bei der gesellschaftlichen Reintegration aufweisen, während US-Gefängnisse bei beiden Aspekten katastrophal schlecht dastehen.

Das soll absolut nicht bedeuten, dass sich alles in staatlichem Besitz befinden oder öffentlich verwaltet werden sollte, um im Interesse der Gesellschaft zu funktionieren. Das ist in vielen Bereichen ganz klar nicht der Fall. Zum Beispiel schlägt niemand ernsthaft vor, dass Taxiunternehmen von der Gemeinde betrieben werden sollten. Die meisten würden jedoch zustimmen, dass sie durchaus reguliert werden sollten. Und wenn das nicht funktioniert und man auf unfreundliche und kundenfeindliche Taxifahrer stößt, dann ist ein Disruptor unter Umständen genau das, was gebraucht wird, um eine ausgeglichenere Situation zu schaffen.

[EIN ÖKONOMISCHES GLEICHGEWICHT IST KEIN TOTER TÜMPEL.]

Wirtschaftliches Gleichgewicht ist kein toter Tümpel. Es ist immer noch eine dynamische Flüssigkeit, aber eine, die nicht das Tal vergiftet, durch das sie fließt, und in der Leute nicht ertrinken oder davongeschwemmt werden. Was bedeutet: Wettbewerb ist keine schlechte Sache, und der Markt hat durchaus seinen Platz. Aber ob im traditionellen Umfeld oder im Raum der Disruption: Unsere ethischen Prinzipien und Standards müssen erhalten bleiben. Und das bedeutet, wir müssen klar ausdrücken, was unsere ethischen Prinzipien und Standards sind. Denn es gibt keine Bevölkerung auf dem Planeten, die langfristig gedeiht, wenn Teile von ihr ständig benachteiligt und ausgebeutet werden. Oder ein Teil erheblich und exzessiv überprivilegiert ist. Bei uns ist aktuell beides der Fall. Also brauchen wir neue Ideen.

Sobald man über Geld und Wohlstand und die extrem privilegierten und die systematisch Ausgebeuteten redet, kommt der Begriff »Wohlstandsverteilung« ins Spiel. Darum geht es hier jedoch nicht. Denn »Wohlstandsverteilung« denkt noch im alten System. Was wir brauchen, sind völlig neue Muster, die neue Arten von Wohlstand erzeugen und der Gesellschaft von Anfang an erlauben, davon zu profitieren.

SolarCoin ist ein Beispiel für die Art Denken, die wir meinen. Dabei handelt es sich um eine Organisation, die 2014 als offenes Gemeinschaftsprojekt begann, um Leute anzuspornen, Solarenergie mit ihren eigenen Dach- oder Gartenanlagen zu produzieren. Wer teilnimmt, wird in einer festgelegten Kryptowährung entlohnt, die man gegen gewöhnliches Geld tauschen kann. Dieses Modell funktioniert Hand in Hand und auch unabhängig von sonstigen Einspeisungstarifen, die man für seinen nicht verbrauchten Strom erhält. An dieser Art Modell kann man mit relativ geringer Investition teilnehmen, es wird nicht von der Regierung kontrolliert, schöpft keine Profite für große Konzerne ab und existiert zur Bereicherung der Teilnehmer wie auch für den Planeten im Ganzen. Es ist gesund. Ob es mittel- oder langfristig Erfolg hat oder nicht, wird sich zeigen. Aber es ist eine Idee, die Aufmerksamkeit verdient.

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