Читать книгу Deine Wahl / Your Choice - Zweisprachiges E-Book Deutsch / Englisch - Christopher Peterka - Страница 20
Kapitel 4
Geschätzte Lesezeit: 26 Minuten
Erster Abschnitt: 9 Minuten
Zweiter Abschnitt: 3 Minuten
Dritter Abschnitt: 9 Minuten
Vierter Abschnitt: 5 Minuten WIR HABEN ENTSETZLICHE ANGST VOR UNSERER FÄHIGKEIT ZU LIEBEN PREIS VERSUS WERT – DEN UNTERSCHIED ERKENNEN UND WISSEN, WAS ZÄHLT KOSTEN
ОглавлениеDer irische Autor, Schöngeist, Erzähler, Kritiker, Essayist und selbsterklärte Ästhet Oscar Wilde hatte bis 1891 mehrere Stücke geschrieben, die heute größtenteils in Vergessenheit geraten sind. Er war in der Londoner Society bereits bekannt und von gewisser Prominenz, als er sich für eine Zeit von seinem faszinierenden Szeneleben in den pittoresken Lake District im Nordwesten Englands zurückzog, wo dann die Komödie Lady Windermeres Fächer entstand. Sie brachte ihm den Durchbruch als Bühnenautor. In diesem Stück lässt er die Figur Lord Darlington die Frage »Was ist ein Zyniker?« mit den Worten beantworten: »Ein Mann, der den Preis von allem kennt, aber von nichts den Wert.«
Nicht nur traf Wildes Beschreibung eines Zynikers den Nagel genau auf den Kopf, sie schaffte es in die große Sammlung seiner berühmten Aphorismen, auf die wir, wann immer wir etwas treffend ausdrücken wollen, zurückgreifen können.
Heute, über 100 Jahre später, scheinen wir in einer Welt voller Zyniker zu leben. Voller Leute, die von allem den Preis kennen und wissen, wie man Profit maximiert, ein Schnäppchen macht und hart verhandelt, wo man einem Landwirt oder Hersteller noch ein bisschen den Preis drücken kann, ohne eine Ahnung zu haben – oder das Interesse dafür –, was die Dinge eigentlich wert sind. Wenn man sich so umschaut, scheint es überall um den Preis zu gehen, aber nirgends um den Wert.
Im Englischen hört man Menschen oft sagen, die Verhältnisse seien »wie im viktorianischen London«, was bedeuten soll, das sie besonders mies sind. Das viktorianische London war ein grässlicher Ort. Nicht ganz so schlimm für Reiche, Aristokraten und Berühmtheiten, wie Oscar Wilde eine war, obwohl selbst dann die legendäre Heuchelei der Society einen früher oder später einholen, ins Zuchthaus hinein- oder aus dem Land hinausdrängen konnte wie in Oscar Wildes Fall. Für die Armen, die Bedürftigen, die Waisen, die Bettler, die Untergebenen, die Arbeiter und die Prostituierten war es ein mieses Drecksloch, wo Kinder in Fabriken arbeiteten, wo man in den Knast geworfen wurde, wenn man einen Laib Brot für die Familie gestohlen hatte, und wo man ins Armenhaus gebracht wurde, wenn man seine Miete oder Schulden nicht mehr bezahlen konnte.
[WAS SIND DIE WAHREN KOSTEN DESSEN, WAS ICH HIER KAUFE?]
All dies gehört nicht der Vergangenheit an. Zwar in London und in anderen europäischen und nordamerikanischen Städten wie auch in vielen entwickelten asiatischen, afrikanischen oder lateinamerikanischen Städten. Aber die Umstände für die Ausgebeuteten und Missbrauchten in anderen Teilen der Welt sind heute kaum besser als damals, oft sogar schlimmer. Letztendlich leben wir in einer Welt, in der manche ein T-Shirt für den Preis einer Flasche Wasser kaufen können, während viele andere für dieselbe Summe einen Zehnstundentag ableisten müssen.
Wenn du in einen Supermarkt laufen und ein Hühnchen für zwei Euro kaufen kannst, musst du dich fragen: »Wer bezahlt dafür, denn ich tue es ganz klar nicht.« Vielleicht der Landwirt? Weil es sich dabei höchstwahrscheinlich um ein Industrieprodukt handeln dürfte, wohl eher der Arbeiter im Schlachthaus. Und ganz sicherlich die Hühner. Und wenn deine Airline dir anbietet, dich für den Preis eines Guinness von Dublin nach Prag zu fliegen, sollte man sich fragen: »Wie wirkt sich das aus? Was sind die wahren Kosten dessen, was ich hier kaufe?«
Das ist die kritische Frage, die sich jeder mit Interesse an fairer, nachhaltiger, humaner und naturnaher Wirtschaft stellen und beantworten können muss: Was sind die wahren Kosten?
Wenn du einen Kühlschrank kaufst oder ein Auto oder einen Schnellkochtopf oder in manchen Teilen der Welt sogar ein Haus oder eine Wohnung, bekommt man eine Energieverbrauchskennzeichnung, die die Energieeffizienz des Objekts bewertet und diese auf einer Skala von A+++ bis D klassifiziert. Das ist das EU-Modell, und es gibt sicher noch andere. Wenn du aber in einen Supermarkt gehst und eine Packung Avocados kaufst, bekommst du keinerlei Hinweis darauf, welche Ressourcen erforderlich waren, um diese anzubauen, zu schützen, zu ernten, zu lagern, zu transportieren, zu verpacken, nochmals zu transportieren, auszustellen und zu verkaufen. Vermutlich wirst du sagen, dass der Supermarkt, der dir die Avocados verkauft, Gewinn machen will und daher wohl alle Kosten einberechnet hat. Aber kannst du davon wirklich ausgehen? Kannst du sicher sein, dass die Umweltkosten für die Bewässerung dieser Pflanze und dafür, sie frei von Schädlingen zu halten, wirklich bezahlt wurden? Dass alle in den Prozess von der Anschaffung bis zum Verkauf involvierten Beteiligten einen fairen Lohn erhalten?
Bei Tee und Kaffee sind wir Fair-Trade- und Bio-Zertifikate gewohnt. Sie sind ohne Zweifel eine gute Sache, nicht zuletzt für uns besser betuchten Konsumenten, denn sie beruhigen unser schlechtes Gewissen. Wie gut sie wirklich für die Menschen sind, denen sie helfen sollen, darüber lässt sich streiten. Wir sprachen mit einem Bio-Qualitätsprüfer in Südafrika, der sagte, dass eines der weltweit größten Lebensmittelunternehmen einfach sein eigenes Fair-Trade-Siegel erstellt hat, als die Standards eines bereits bestehenden Siegels zu strikt wurden.
Doch das ist fast nebensächlich. Entscheidend ist, dass eine Wirtschaft ein Austausch von Waren und Dienstleistungen zwischen Personen ist. Personen sind menschliche Wesen, die wiederum Teil der globalen Familie sind. Wir alle brauchen einen Platz zum Leben, brauchen Luft zum Atmen, Essen, jemanden, der uns erzieht und Bildung vermittelt, und wir brauchen eine Zukunft für uns und unsere Kinder und Kindeskinder. Wir brauchen Gesundheitsfürsorge, einen Namen und Leute, zu denen wir Beziehungen aufbauen können.
Jeder Aspekt, und zwar wirklich jeder, einer Wirtschaft, der dafür verantwortlich ist, auch nur eine dieser Komponenten den Leuten in der Produktions- oder Lieferkette eines Produktes oder einer Dienstleistung vorzuenthalten, ist nicht akzeptabel. Wenn also das T-Shirt, das du gerade trägst, von jemandem gemacht wurde, der keinen fairen Lohn erhält oder sich mit seinem Lohn keine würdevolle Unterkunft leisten oder die eigenen Kinder davon nicht auf eine Schule schicken oder sich nicht um die eigenen Eltern kümmern kann, dann solltest du dieses T-Shirt nicht tragen. Es gehört dir nicht einmal. Du hast nicht dafür bezahlt. »Hab ich wohl«, rufst du vielleicht, »ich hab sogar noch den Kassenzettel!« Aber der ist nicht das Papier wert, auf dem er gedruckt wurde.
Du hast dein T-Shirt nur dann wirklich bezahlt, wenn ausnahmslos alle in die Produktion Involvierten fair und menschengerecht behandelt und für ihre Mühen entlohnt wurden. Und wenn jeder Schaden, der dabei der Umwelt zugefügt wurde, durch geeignete Maßnahmen ausgeglichen und das Shirt am Ende nach Gebrauch verantwortlich entsorgt wurde.
»Das«, sagst du händeringend, »ist unmöglich!« Nein, ganz im Gegenteil. »Aber mein T-Shirt wäre dann zehnmal so teuer.« Exakt. Das sind die wahren Kosten. Solange du diese wahren Kosten nicht bezahlt hast, bezahlt jemand anderes dafür, was schlicht bedeutet, dass es dir nicht wirklich gehört. Es gehört allen, die dafür bezahlt haben. Mit ihrer Gesundheit. Mit ihrer Zeit. Mit ihrer Mühe. Mit ihrer Zukunft. Mit ihrer Vergangenheit.
Auch die durch CO2-Emissionen entstandenen Kosten gehören in den Preis – so viel zur Diskussion um die sicher nicht ganz unsinnige CO2-Steuer. Dies gilt unabhängig davon, ob der Preis für ein Produkt, eine Dienst- oder Versorgungsleistung, die vom privaten oder öffentlichen Sektor oder von sonst jemandem bereitgestellt wird, bezahlt wird. Und dieser »sonst jemand« zählt auch: Wenn dein Gramm Koks nicht die sozialen Kosten der Kartellkriege berücksichtigt, die Fürsorge für Waisenkinder, verwundete Kuriere und Abholzung, ist es schlicht zu billig. Allerdings wäre im Zusammenhang mit einer fairen, humanen Wirtschaft noch ein ganz anderer Fragenkatalog in Bezug auf den Drogenhandel und »War on Drugs« abzuarbeiten, der jedoch in ein anderes Buch gehört.
Wenn du also in einen Laden gehst oder einen Supermarkt oder zu einem Marktstand oder online etwas bestellst, etwas kaufst, etwas abonnierst, solltest du erwarten können, dass die wahren Kosten im Preis berücksichtigt sind. Du solltest nicht auf Fair Trade oder sonstige Siegel achten müssen, die dich wählen lassen zwischen Waren, die ausweisen, was etwas wirklich wert ist, und solchen, die das nicht tun. Die Einbeziehung des wahren Preises sollte selbstverständlich sein. Was natürlich auch bedeutet, dass man bereit sein muss, den wahren Preis zu bezahlen. Tatsächlich solltest du verlangen, den wahren Preis zu bezahlen, denn noch einmal: Wenn du ihn nicht bezahlst, bezahlt jemand anderes für den Rest. Du stehst in Schuld. Und wenn das bedeutet, dass der Preis für ein Bund Frühlingszwiebeln von 0,99 auf 3,99 Euro steigt, dann ist das eben so. Wie viele Frühlingszwiebeln brauchst du denn wirklich?
Wir als Konsumenten müssen von unseren Anbietern Transparenz verlangen – vom ersten Produktionsschritt bis zur Entsorgung: Wo kommt etwas her, wie wurde es erzeugt, bezahlt, bereitgestellt?
[ES GEHT NICHT UM SCHLECHTES GEWISSEN, ES GEHT UM VERNUNFT.]
Ein deutsches Wort, das sich an dieser Stelle als sehr treffend erweist, ist Wertschätzung. Die Schätzung von Wert. Das ist genau das, was wir brauchen. Denn, um es zu wiederholen, es geht nicht darum, alles stillzulegen, »zurück zur Natur« zu gehen oder Wachstum zu stoppen oder Wohlstand zu unterbinden. Es geht schlichtweg darum, den Unterschied zu kennen zwischen dem aufgeklebten Preisschild und dem tatsächlichen Wert einer Sache. Nicht nur finanziell gesehen, sondern auch und viel wichtiger in Bezug auf Lebensqualität, unsere eigene wie auch die der anderen.
Nicht schlechtes Gewissen, sondern Vernunft hilft wie auch die Kultivierung einer grundlegenden menschlichen Empathie gegenüber allen lebenden Wesen und gegenüber uns selbst, was nichts anderes heißt, als den eigenen Wert anzuerkennen. Auf einem Planeten, dessen Bevölkerung auf die zehn Milliarden zusteuert, von denen mehr als die Hälfte in Städten lebt, ist das Finden eines Gleichgewichts, das uns erlaubt, harmonisch miteinander zu leben und mit den zur Verfügung stehenden Ressourcen auszukommen, kein Akt grenzenloser Großzügigkeit. Es ist eine Überlebensstrategie.