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Emigration und Vertreibung

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Rademachers Plan für die massenhafte Vertreibung der europäischen Juden nach Madagaskar war die spektakulärste seiner Tätigkeiten im ersten Jahr seiner Tätigkeit im Referat D III, doch die tagtägliche Arbeit – er verharmloste sie als „die Beschäftigung mit 1000 Einzelentscheidungen über […] das Schicksal einzelner Juden“ – ging ebenso weiter. Eine dieser Tätigkeiten betraf die jüdische Emigration.

Der Kriegsausbruch machte die deutsche Politik forcierter jüdischer Auswanderung erheblich schwieriger, aber er veränderte sie nicht grundlegend. Das Auswärtige Amt drängte allerdings darauf, jüdischen Intellektuellen und Spezialisten, die der Wirtschaft und Propaganda des Feindes dienlich sein könnten, die Genehmigung zur Ausreise zu verweigern.25 Die wichtigste Auswanderungsroute, die nach Verhandlungen zwischen Großbritannien, Italien, dem Auswärtigen Amt und der Gestapo im Oktober 1939 ausgearbeitet worden war, führte von Deutschland durch Triest nach Palästina. Doch als sich Italien im Mai 1940 offensichtlich auf den Kriegseintritt gegen Großbritannien vorbereitete und befürchtete, deutsche Juden könnten in Triest stranden, weil der Seeweg nach Palästina abgeschnitten war, lehnte Italien die Erteilung weiterer Transitvisa ab.26

Rademacher nahm seine Tätigkeit im D III somit zu einem Zeitpunkt auf, als die letzte Hauptroute für jüdische Emigranten gesperrt wurde. Es blieben nur die heiklen Überlandwege durch Osteuropa und die Sowjetunion. Rademacher und Eichmann arbeiteten einträchtig zusammen, um die sowjetischen Reiserouten nach Fernost bestmöglich auszunutzen. Rademacher für seinen Teil zentralisierte und vereinfachte die Abläufe innerhalb des Auswärtigen Amtes. Da fast alle Auswanderer Juden waren, pochte er mit Erfolg darauf, dass das D III, und nicht das Referat Fernost der Politischen Abteilung, für sie zuständig war. Anstatt Auswanderungswilligen eine Unbedenklichkeitsbescheinigung auszustellen, mit der sie dann Transitvisa an den Berliner Botschaften der Sowjetunion, Mandschukuos und Japans hätte beantragen können, sandte Rademacher Listen der jüdischen Bewerber an die ausländischen Botschaften mit der Empfehlung, Transitvisa zu bewilligen, sobald diese Bewerber überprüft und die politisch unerwünschte Emigration von Universitätsprofessoren, Ingenieuren und Wirtschaftsspezialisten ausgeschlossen worden sei.27 Ähnlich zentralisierte Eichmann die Bearbeitung aller Auswanderungsanträge in seinem Büro im Reichssicherheitshauptamt (RSHA), wo alle notwendigen Dokumente ausgefüllt wurden und nur noch Stempel und Unterschrift des Auswärtigen Amtes fehlten.28 Eichmann und Rademacher arbeiteten somit Hand in Hand und entwickelten eine Fließbandtechnik, um bürokratische Verzögerungen zu reduzieren und den Überlandweg nach Fernost bestmöglich auszunutzen; bis zum deutschen Angriff auf Russland im Juni 1941 nutzten mehrere Tausend Juden diese Strecke.

Um die zunehmend gefährdeten Auswanderungsrouten ausschließlich für deutsche Juden offen zu halten und die Ausreise anderer jüdischer Emigranten – seien sie ehemalige deutsche Juden, die in anderen europäischen Ländern festsaßen, oder ausländische Juden, die aus Europa heraus wollten – zu blockieren, konnte sich Eichmann auf die Unterstützung des Auswärtigen Amtes jederzeit verlassen.29 Ein von Walter Schellenberg in Heydrichs Abwesenheit unterzeichnetes Rundschreiben des RSHA vom 20. Mai 1941 regelte diese Politik schließlich systematisch. Es verbot explizit jüdische Auswanderung aus Belgien und dem besetzten Frankreich, um nicht die ohnehin schon unzureichenden Emigrationsmöglichkeiten für deutsche Juden durch Lissabon zu reduzieren.30 In vielen Fällen wurden Anträge auf Auswanderung in der Korrespondenz zwischen dem RSHA und D III zur jüdischen Emigration abgelehnt „im Hinblick auf die zweifellos kommende Endlösung der Judenfrage“. Diese Standardformulierung kam erstmals im September 194031 auf und wurde im Frühjahr 1941 zunehmend verwendet. Man verweigerte jedoch nur die Emigration von Juden aus nicht-deutschen Gebieten und betonte häufig ausdrücklich, dass die Emigration von Juden aus Deutschland weiterhin das Ziel der deutschen Judenpolitik sei. „Endlösung“ bedeutete zu dieser Zeit noch nicht die physische Vernichtung der europäischen Juden, sondern ein judenfreies Deutschland; die Vertreibung der Juden aus dem übrigen Europa sollte auf die Nachkriegszeit verschoben werden.32

In Sachen jüdischer Emigration spielte Rademachers Büro gegenüber Eichmann eine untergeordnete Rolle. Rademacher ergriff in einigen wenigen Fällen die Initiative (er rationalisierte zum Beispiel die Abläufe im Auswärtigen Amt zur Vereinfachung der Emigration nach Fernost), doch die meisten Anfragen an ihn wurden zur Beschlussfassung einfach an Eichmann weitergeleitet. Ähnlich versuchte Rademacher, im Auswärtigen Amt Unterstützung für Eichmanns Politik zu gewinnen. Trotz seiner regelmäßigen Kooperation bei routinemäßigen Auswanderungsangelegenheiten bemühte sich Eichmann umgekehrt allerdings nicht um Rademachers Unterstützung und informierte ihn bei drastischeren Ausweisungsmaßnahmen nicht vorab. Obwohl solche Fälle unweigerlich außenpolitische Folgen hatten, handelte das RSHA eigenmächtig.

Am 23. Oktober 1940 reichte die französische Delegation bei der Wiesbadener Waffenstillstandskommission Beschwerde ein, da sieben Züge mit über 6000 deutschen Bürgern am selben Morgen über die Grenze in das unbesetzte Frankreich gefahren seien. Die französischen Grenzwachen hätten keinerlei Vorwarnung erhalten und hätten den Zügen die Durchfahrt in dem falschen Glauben erlaubt, es handele sich bei den Fahrgästen um Franzosen, die aus dem nun von Deutschland besetzten Osteuropa ausgewiesen worden seien. Die französische Regierung wollte wissen, welche Reisepläne die deutsche Regierung für diese ausgewiesenen deutschen Bürger habe.33

Die Nachricht wurde am 29. Oktober an die Abteilung Deutschland weitergeleitet, wo sich Luther unverzüglich zwecks weiterer Informationen mit dem RSHA in Verbindung gesetzt haben muss, denn noch am gleichen Tag erhielt er einen persönlichen Brief aus Eichmanns Büro mit einer Unterschrift von Heydrich. Heydrich erklärte, der „Führer“ habe die Deportation aller Juden aus Baden und der Pfalz angeordnet; insgesamt seien 6504 Personen ohne vorherige Benachrichtigung der französischen Behörden in das unbesetzte Frankreich geschickt worden. Die Maßnahmen seien reibungslos und ohne Zwischenfälle verlaufen und seien von der Bevölkerung vor Ort kaum wahrgenommen worden.34 Gerhard Todenhöfer, Rademachers Stellvertreter, versuchte vom RSHA herauszufinden, warum der Einsatz ohne Benachrichtigung der französischen Regierung durchgeführt worden sei, doch seine Bemühungen blieben erfolglos. Ein vollständiger Bericht sowie die Bitte der deutschen Delegation an die Waffenstillstandskommission, weitere Anweisungen zu erhalten, wurden an Ribbentrop weitergeleitet. Dessen erste Reaktion war, die Angelegenheit zu verschleppen.35

Wie schon einmal im Frühjahr 1940 nach der Deportation deutscher Juden aus Stettin nach Polen informierte ein anonymer Schreiber das Auswärtige Amt über grausigere Details, die in der offiziellen Korrespondenz nicht erwähnt wurden. Der anonyme Brief wurde an Friedrich Gaus geschickt, den Leiter der Rechtsabteilung, dessen Frau eine Vierteljüdin war. Gaus leitete ihn an Luther weiter, der ihn nach Lektüre über das D III an die Gestapo sandte. Im Bericht war davon die Rede, wie Juden – außer jene in Mischehen – ungeachtet ihres Alters evakuiert würden, darunter sogar eine 97-jährige Frau. Altersheime würden geräumt, und viele würden auf Bahren in die Züge getragen. Die Abzuschiebenden hätten nur eine halbe bis zwei Stunden Zeit, um sich für die Abreise zu rüsten, und mindestens elf hätten die Gelegenheit genutzt und einen Selbstmordversuch unternommen. Die Überlebenden würden – ohne ausreichende Essensrationen – in einem französischen Konzentrationslager in den Pyrenäen interniert und würden wahrscheinlich von der französischen Regierung nach Madagaskar geschickt, sobald die Seewege wieder offen seien. Luthers einzige Reaktion bestand darin, neben der Erwähnung von Madagaskar „sehr interessant“ zu vermerken.36

Rademacher leitete Ribbentrops anfängliche Anweisungen weiter, die Angelegenheit bei der Waffenstillstandskommission hinauszuzögern.37 Doch die französische Delegation ließ nicht locker, und die deutsche Delegation unter General Stülpnagel war verärgert, keine Anweisungen vom Auswärtigen Amt zu erhalten.38 Als Reaktion auf die Bitten um weitere Instruktionen bereitete Rademacher den Entwurf einer Anweisung für Luther sowie eine unterstützende Mitteilung vor. Seiner Meinung nach konnte die Affäre nicht länger mit Stillschweigen von deutscher Seite behandelt werden. Er schlug deshalb vor, die Klärung der Frage nicht der Waffenstillstandskommission in Wiesbaden, sondern dem deutschen Botschafter in Paris, Otto Abetz, persönlich zu übergeben. Die Franzosen dürften nicht länger auf der Rücknahme der 6000 Juden durch Deutschland bestehen. Stattdessen sollten sie sie in Lagern versammeln und bei Gelegenheit nach Übersee deportieren. Deutschland habe kein weiteres Interesse an ihrem Schicksal, und insofern einzelne Juden in der Lage seien zu arbeiten, könnten die Franzosen sie in Bauarbeiten einweisen.39 Rademachers Vorschlag wurde jedoch nie umgesetzt, da am darauffolgenden Tag, dem 22. November, weitere Anweisungen von den Mitarbeitern des Außenministers eintrafen. Ribbentrop blieb bei seinen Instruktionen, die Angelegenheit zu verschleppen und betonte, eine Rückkehr der Vertriebenen käme unter keinen Umständen in Frage.40

Am 30. November 1940 wurde das Auswärtige Amt auf eine Beschwerde der französischen Delegation zur Waffenstillstandskommission hingewiesen, nach der ein weiterer Zug – diesmal mit etwa 280 Juden aus Luxemburg – versucht habe, die Demarkationslinie in das unbesetzte Frankreich zu überqueren. Diesmal seien die französischen Behörden jedoch nicht überrascht worden, und der Zug sei zurückgeschickt worden. Das Auswärtige Amt erfuhr die Einzelheiten erst, als das Oberkommando des Heeres (OKH) mehr als einen Monat später einen Bericht der Militärverwaltung in Bordeaux an das Amt weiterleitete. Die Luxemburger Juden wollten über Portugal nach Amerika auswandern – ein Wunsch, den das RSHA unterstützte. Wie im Falle Italiens vor dem Mai 1940 hatte das Auswärtige Amt ein Abkommen ausgehandelt, das Juden die Auswanderung über Portugal ermöglichte; allerdings müssten die Deutschen sie zurücknehmen, falls eine Einschiffung in Lissabon nicht möglich sein sollte. In diesem Fall kam der Zug mit den Luxemburger Juden am 14. November in Portugal an und wurde am 19. November aus Portugal zurückgeschickt. Er kehrte nach Bayonne zurück, wo der Befehlshaber des SS-Sonderkommandos – ein Mann namens Herbert Hagen – erklärte, er habe die alleinige Entscheidungsbefugnis über die weitere Behandlung der Luxemburger Juden. Hagen schickte den Zug am 26. November in Richtung unbesetztes Frankreich zurück, wo er jedoch von den französischen Behörden abgewiesen wurde. Die Juden saßen nun in Bayonne fest, während sich die Militärverwaltung beschwerte, ihre fortgesetzte Präsenz sei eine unerträgliche Bedrohung der Sicherheit. Hagen hatte der Wehrmacht erklärt, Verhandlungen mit Portugal seien im Gange, um die Juden noch einmal dorthin zu bringen, doch seien diese noch nicht abgeschlossen. Die Wehrmacht bat daher das Auswärtige Amt um Unterstützung, um die Juden so bald wie möglich zu entfernen.41

Anfang Dezember 1940 hatte sich Rademacher mit einem RSHA-Mitarbeiter, dem SS-Hauptsturmführer Hartmann, wegen der Luxemburger Juden in Verbindung gesetzt. Hartmann war sogar so weit gegangen, einen schwerwiegenden Fehler der in Luxemburg stationierten Sicherheitspolizei zuzugeben. Das RSHA stand in ständigem Telefonkontakt mit der Luxemburger Sicherheitspolizei; das Problem müsse von dort aus geklärt werden.42 Überflutet von Telegrammen der Waffenstillstandskommission und der Wehrmacht – einschließlich eines Berichts, demzufolge weitere 38 Luxemburger Juden mit deutscher Hilfe in das unbesetzte Frankreich eingeschleust worden seien – erbat Rademacher mehrfach weitere Erklärungen vom RSHA.43 Nach knapp drei Monaten verächtlichen Schweigens antwortete das RSHA am 28. Februar 1941, die meisten Juden in Bayonne seien verschwunden; mit der Abreise der übrigen könne man in Kürze rechnen. Nach zwei weiteren Anfragen antwortete das RSHA Ende März kryptisch, die Affäre um die Luxemburger Juden in Bayonne sei erledigt. Es gäbe dort keine Luxemburger Juden mehr, die die Demarkationslinie überqueren könnten.44

Das OKH bestätigte daraufhin, dass alle Luxemburger Juden in Bayonne verschwunden seien. Hagens SS-Sonderkommando in Bordeaux hatte die gesamte Zugladung einfach in kleine Gruppen aufgeteilt über die spanische Grenze und die Demarkationslinie ins unbesetzte Frankreich geschmuggelt.45 Der konstanten Beschwerden der Franzosen überdrüssig, bat der Vertreter des Auswärtigen Amtes bei der Waffenstillstandskommission das D III herauszufinden, ob weitere Deportationen zu erwarten seien. Eichmanns Büro antwortete erst am 7. Juli 1941 und erklärte, die Deportationen von Juden aus Luxemburg, Baden und der Pfalz seien „besondere Einzelmaßnahmen“ gewesen. Diese Aktionen seien abgeschlossen; weitere Deportationen ins unbesetzte Frankreich würden nicht vorgenommen werden.46

Sechs Monate lang, vom Oktober 1940 bis zum März 1941, schob das RSHA Juden ins unbesetzte Frankreich ab. Diese Ausweisungen wurden nicht nur von der französischen, sondern auch von den anderen Behörden der deutschen Regierung geheim ausgeführt.47 Nichtsdestotrotz blieb das Auswärtige Amt – insbesondere durch Berichte von der Waffenstillstandskommission und der Militärverwaltung in Bordeaux – relativ gut informiert. Als Referat, das für die Beobachtung der Auswirkungen der deutschen Judenpolitik zuständig war, erhielt das D III darüber hinaus ständig Zeitungsausschnitte aus der ausländischen Presse. Rademacher wusste somit von Hunger und Entbehrungen in den Internierungslagern in Südfrankreich, in die man die Juden aus Baden und der Pfalz geschickt hatte.48 Die Informationsquellen des D III erstreckten sich auch auf andere Gebiete. Der Verbindungsmann des Auswärtigen Amtes zum Generalgouvernement meldete die Vertreibung von 50 000 Juden aus Krakau.49 Und als Anfang 1941 Deportationen aus Wien nach Polen stattfanden, wusste das D III nicht nur aus Zeitungsartikeln von ihnen, sondern es hatte auch einen weiteren anonymen Brief erhalten; sein Verfasser war vermutlich derselbe, der 1940 solch drastische Einzelheiten der Deportationen in Stettin und Baden-Pfalz berichtet hatte.50 Obwohl das RSHA das Auswärtige Amt nicht über seine verschiedenen Vertreibungsmaßnahmen (sei es nach Frankreich oder andernorts) vorab informierte, blieben diese Maßnahmen nicht geheim.

Bei routinemäßigen Emigrationsmaßnahmen bat das RSHA das Auswärtige Amt um Hilfe, doch bei den drakonischeren Vertreibungsmaßnahmen hatte es offenbar den Eindruck, die Beteiligung des Auswärtigen Amtes wäre eher ein Hindernis. Entsprechend kurzlebig war das Vertreibungsprogramm. Die erste Massenvertreibung von Juden aus Baden und der Pfalz gelang nur deshalb, weil die Franzosen von ihr überrascht wurden. In der Folgezeit waren die Franzosen darauf vorbereitet, jüdische Transporte an der Demarkationslinie zurückzuweisen. Ohne ein vom Auswärtigen Amt ausgehandeltes und von der deutschen Wehrmacht unterstütztes Abkommen konnte die SS die Franzosen nicht dazu zwingen, weitere Transporte zu akzeptieren. Allein konnte das RSHA immerhin noch schrittweise Juden in das unbesetzte Frankreich einschmuggeln; allerdings entledigte es sich so mit unverhältnismäßig hohem Aufwand nur einer sehr kleinen Zahl an Juden. Es verwundert also nicht, dass das RSHA im Sommer 1941 bereitwillig erklärte, man werde keine weiteren Deportationsversuche mehr unternehmen. Stattdessen begann es nun, über Deportationen in die entgegengesetzte Richtung nachzudenken. Bei diesen Deportationen wollte es allerdings nicht länger allein handeln, sondern in diese Operation sollten die Judenexperten des Auswärtigen Amtes einbezogen werden.

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