Читать книгу Die "Endlösung" und das Auswärtige Amt - Christopher R. Browning - Страница 6
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JÜRGEN MATTHÄUS
Vorwort
Macht es Sinn, ein Buch zum Holocaust mehr als 30 Jahre nach seinem ersten Erscheinen nunmehr in deutscher Sprache zu publizieren? Wer dem Thema Interesse entgegenbringt, sieht sich einem Berg an wissenschaftlichen Publikationen gegenüber, der seit den 1990er Jahren in Deutschland, in den USA und in anderen Ländern alpine Größenordnung angenommen hat. Gerade ein Schlüsselthema wie die Rolle des Auswärtigen Amtes bei der Umsetzung der „Endlösung der Judenfrage“ im Dritten Reich, so möchte man hoffen, sollte in der Fülle neuer Bücher mit einigen einschlägigen Studien vertreten sein. Doch diese Hoffnung trügt, und schon deshalb ist es zu begrüßen, daß Christopher Brownings „The Final Solution and the German Foreign Office“, 1978 in den USA und Großbritannien erschienen, nun endlich in deutscher Sprache vorliegt.
Brownings Studie zu den Männern der „Abteilung Deutschland“ im Auswärtigen Amt, die auf seiner von Robert Koehl an der University of Wisconsin betreuten Dissertation beruht, gehört zu den Standardwerken der Holocaust-Forschung. Sie wurde zu einer Zeit geschrieben, in der – wie Koehl seinen Doktoranden vorab warnte – die Beschäftigung mit dem Thema selbst in den USA als Garantie für eine gescheiterte akademische Karriere galt. Browning hat sich weder durch diese Warnung noch durch wissenschaftliche Konjunkturzyklen davon abhalten lassen, seinen Weg als einer der Pioniere seiner Zunft zu gehen. Seit seinem Buch „Ganz normale Männer“ und besonders im Zusammenhang mit der sogenannten Goldhagen-Debatte ist er auch in Deutschland einem breiteren Publikum bekannt geworden. Zu Recht gilt er als einer der profiliertesten Experten zur Geschichte des deutschen Mords an den europäischen Juden und als ebenso undogmatischer wie streitbarer Wissenschaftler, der sich nicht scheut, als Gutachter und Zeuge vor Gericht den Thesen von Holocaust-Leugnern wissenschaftliche Tatsachen entgegenzusetzen.
Auch für Bücher gilt, daß Alter nicht nur Nachteile hat. In den 1970er Jahren recherchiert und geschrieben, ist das vorliegende Buch frei von der bisweilen monomanischen Fixierung auf die Rolle Hitlers und die Frage nach der Datierung der Entscheidung zum Genozid, wie sie die Geschichtswissenschaft seit den 1980er Jahren beschäftigt hat, und wirkt auch in dieser Hinsicht überraschend aktuell. Welchen Fragen Browning statt dessen nachgeht, läßt sich anhand des Bandes gut nachvollziehen; gleichzeitig liefert er grundlegende Informationen zu einem nicht hinreichend erforschten Thema. Daß es daran weiterhin mangelt, hat vor einigen Jahren das bundesdeutsche Auswärtige Amt bestätigt, indem es, von den Medien konfrontiert mit der braunen Vorgeschichte einiger seiner früheren Mitarbeiter, einer internationalen Expertenkommission die Aufarbeitung dieses unerfreulichen Kapitels übertrug. Das Ergebnis wird sich nicht zuletzt an Brownings Studie messen lassen müssen.
Seit dem Tod von Raul Hilberg im August 2007 wird Christopher Browning zunehmend die Rolle des Doyens der Holocaust-Forschung zugeschrieben. Der Vergleich ist insofern nicht passend, als sich Ausgangsinteresse, Erklärungsansatz und Stil der beiden Forscher in wesentlichen Aspekten unterscheiden; doch fehlt es auch nicht an Gemeinsamkeiten. Hilberg und Browning haben beide die Holocaust-Forschung durch ihre wegweisenden Arbeiten entscheidend vorangetrieben und als legitimes Feld etabliert. Ihre Erstlingswerke waren für deutsche Leser lange Zeit nur in der englischsprachigen Originalausgabe verfügbar. Hilbergs 1961 publiziertes opus magnum „The Destruction of the European Jews“ erschien erst 1981 in deutscher Übersetzung bei einem kleinen Verlag, bevor sich Anfang der 1990er Jahre der Fischer Taschenbuch-Verlag des Werks annahm. Der Forschungsstelle Ludwigsburg und ihrem verdienten wissenschaftlichen Leiter Klaus-Michael Mallmann sowie der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft ist es nun zu danken, daß Christopher Brownings Klassiker jetzt einem deutschen Publikum nähergebracht werden kann.
Jürgen Matthäus, Washington D.C.