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1. Die Entwicklung der deutschen Judenpolitik

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Die deutsche Judenpolitik war nicht das Ergebnis eines verschwörerischen Komplotts, das Hitler nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg ausgebrütet und dann zielstrebig und mit beharrlicher Häme durch die Errichtung einer monolithischen Diktatur ausgeführt hat. Vielmehr entwickelte sie sich aus einem Zusammentreffen verschiedener Faktoren, unter denen Hitlers Antisemitismus nur einer war. Stellt man die Existenz eines langjährigen Hitlerschen Plans zur Vernichtung der Juden in Abrede, so leugnet man damit weder die zentrale Funktion des Antisemitismus in Hitlers sozialdarwinistischer Ideologie noch ihre wichtige Rolle für die Entwicklung der deutschen Judenpolitik. Als universaler Sündenbock war der Jude das vereinende Element in Hitlers Weltanschauung, denn er stellte das Bindeglied zwischen all dem dar, was Hitler ablehnte und attackierte: parasitäre jüdische Kapitalisten bzw. Kaufhausbesitzer und kommunistische Gewerkschaftsagitatoren, die von Juden beherrschten plutokratischen Demokratien des Westens und das jüdisch-bolschewistische Russland. Die ungeheuerliche Irrationalität im Zentrum seines Denkens verlieh seinen vielgestaltigen und widersprüchlichen Unterstellungen eine oberflächliche Rationalität. Sie machte das plausibel, was ansonsten zusammenhanglos gewesen wäre.1

Der Antisemitismus war nicht nur der ideologische Grundpfeiler von Hitlers Weltanschauung, sondern er fungierte auch als Kitt, der seine Bewegung zusammenhielt. Die wirtschaftlichen und sozialen Missstände der unteren Mittelklasse sowie radikale Parteimitglieder, die von der Nazipropaganda vor 1933 begünstigt, von der späteren Nazipolitik jedoch ignoriert worden waren, wurden in Antisemitismus umgeleitet. Unter Hitler setzte sich die Modernisierung der deutschen Gesellschaft fort, denn wer wiederaufrüsten wollte, konnte unmöglich zu einem auf Handwerkern, Bauern und Ladenbesitzern basierenden Wirtschaftssystem zurückkehren. Diejenigen, die dem Modernisierungsprozess feindlich gegenüber standen – und dies waren nicht wenige Nazi-Wähler –, wurden zumindest teilweise durch eine verbale Überhöhung rassischer Überlegenheit entschädigt. Nicht umsonst schreibt George Mosse: „Die deutsche Revolution wurde zur anti-jüdischen Revolution“; diese war eine ungefährliche Revolution, die weder die Eigentumsverhältnisse noch die traditionellen Beziehungen zwischen den Klassen bedrohte.2

Der Antisemitismus war daher nicht eine von Hitlers vielen Obsessionen, sondern er war eine besondere. Parteiintern war es unmöglich, die Existenz eines „jüdischen Problems“ zu leugnen oder bloß in Frage zu stellen. Niemand konnte öffentlich sagen, dass „der Kaiser nichts anhatte“, dass das jüdische Problem nur in Hitlers Einbildung existierte und keinen Bezug zur Realität hatte. Wer auch immer sich in leitender Position befand, hatte von der Prämisse auszugehen, dass das „jüdische Problem“ so existierte, wie Hitler es vorsah. Es war die Erklärung aller anderen Probleme und daher das ultimative Problem. Hitlers Antisemitismus schuf einen ideologischen Imperativ; das ultimative Problem verlangte eine sich ständig ausweitende Suche nach einer ultimativen oder „Endlösung“.

Was war die Verbindung zwischen Ideologie und politischem Handeln? Durch welchen Mechanismus entstand die Judenpolitik? Nazi-Deutschland war kein monolithischer Staat, in dem alles von oben bestimmt und durch eine Kette absoluten Gehorsams bis in die untersten Ränge weitergegeben wurde. Vielmehr setzte sich das System der Nazis aus Fraktionen zusammen, die sich um die Nazi-Anführer scharrten, welche wiederum in permanenter Konkurrenz zueinander standen, um sich gegenseitig zu überbieten. Wie ein Feudalherrscher stand Hitler über seinen zankenden Vasallen. Er teilte „Lehen“ zu, um die Güter seiner konkurrierenden Vasallen aufzubauen, während sie bewiesen, wie gut sie die vom Führer meist geschätzten Aufgaben erfüllen konnten.3 Das Dritte Reich befand sich damit in einem Zustand permanenten inneren Krieges.

Die Judenpolitik stand nicht außerhalb dieses fortwährenden Machtkampfes. Ganz im Gegenteil befand sie sich zwischen 1933 und 1939 häufig ganz in seinem Zentrum. Da Hitler der oberste Gebieter seiner Vasallen war, konnte es sich keiner von ihnen leisten, seine persönlichen Obsessionen zu ignorieren oder zu hinterfragen. Zur „Lösung der Judenfrage“ brauchte Hitler keinen Plan, kein Ablaufschema entwickeln und dann zur Ausführung absoluten Gehorsam von unwilligen Untergebenen einfordern. Er brauchte nur die andauernde Existenz des „jüdischen Problems“ zu verkünden, und schon wetteiferten seine Vasallen miteinander, um an seiner Lösung mitzuwirken. Angesichts der Dynamik des politischen Systems der Nazis wurden „Endlösungen“ unweigerlich die einzigen Lösungen, die es wert waren, dem Führer vorgelegt zu werden, und es überrascht nicht, dass die endgültigste aller Lösungen sich letztendlich durchsetzte: die Vernichtung.

Diese Entwicklung geschah allerdings nicht von heute auf morgen, denn das Zusammentreffen von ideologischen und politischen Faktoren führte zu keinem überlegten, systematischen Ansatz in der Judenpolitik. Ganz im Gegenteil schlug die Judenpolitik der Nazis zwischen 1933 und 1939 einen „gewundenen Weg“ ein.4 Dass es ein „jüdisches Problem“ gab, konnte niemand leugnen. Die Existenz des „jüdischen Problems“ durfte weder hinterfragt noch abgestritten werden, doch zugleich musste sich die Formulierung der Judenpolitik den politischen und wirtschaftlichen Realitäten der Zeit stellen. In der frühen Phase der Nazi-Diktatur standen Hitlers Werben um seine konservativen Alliierten, seine verhaltene Empfindlichkeit gegenüber Meinungen aus dem Ausland und die Farce der „legalen Revolution“ im Widerspruch zu den vereitelten Bestrebungen und revolutionären Energien der SA- und Parteibasis. Die Arbeitslosigkeit zu senken war eine politische Notwendigkeit; wirtschaftlicher Aufschwung die Voraussetzung zur Wiederaufrüstung – doch beides war mit einem Frontalangriff auf die vermeintliche jüdische Vorherrschaft in der Wirtschaft nicht zu vereinbaren. Als Schiedsmann musste Hitler diese widersprüchlichen Kräfte abwägen.

Im gesamten März 1933 hatten die Radikalen in der Partei viel Druck gemacht, die „Judenfrage“ anzugehen; Anfang April gipfelte dies in einem Boykott jüdischer Geschäfte. Der Widerstand Hindenburgs und der Konservativen in Hitlers Koalition, die schwache Wirtschaftslage, heftige Reaktionen im Ausland und das Desinteresse großer Teile der deutschen Bevölkerung trugen dazu bei, dass der Boykott alles andere als ein Erfolg war.5 Er wurde eilig nach einem Tag abgesagt. Jedoch bereitete er den Weg für die relativ reibungslose Akzeptanz der Judengesetze, die die Beteiligung von „Nicht-Ariern“ im Staatsdienst, an Schulen, als Juristen und Mediziner einschränkte; Gesetze galten nun als ordnungsgemäßer und korrekter Weg, die „Judenfrage“ zu behandeln. Da Pläne zur Säuberung der Beamtenschaft, zur Beendigung der Einbürgerung von Ostjuden und zum Verbot des Namenswechsels zur Verschleierung jüdischer Identität bereits unter von Papen entwickelt worden waren, bevor die Nazis an die Macht kamen, wurde der legislative Ansatz von Hitlers konservativen Partnern und der deutschen Bürokratie wohlwollend aufgenommen.6

Im Juli 1933 verkündete Hitler das Ende der Nationalen Revolution und versuchte, aufständische Elemente in der eigenen Partei davon abzuhalten, das Wirtschaftsleben Deutschlands zu stören.7 Nichtsdestotrotz verstärkte die SA unter der Führerschaft von Ernst Röhm ihren Druck auf eine Zweite Revolution. Wenn sich dieser Druck auch im Wesentlichen auf die privilegierte Position von Hitlers konservativen Alliierten in Militär, Bürokratie und Wirtschaft richtete, so waren die Juden nicht vor ihm gefeit. Als Hitler von Röhms Rivalen angestachelt wurde, im „Röhm-Putsch“ im Juni 1934 die SA-Führung zu beseitigen, war die Wirkung auf überlebende radikale Parteimitglieder jedoch so erschreckend, dass sie eine längere Atempause in Judenangelegenheiten bewirkte.

Der Druck innerhalb der Partei, eine aktivere anti-jüdische Politik zu verfolgen, setzte sich 1935 fort, zum Teil auf Anregung des berüchtigten Gauleiters von Nürnberg, Julius Streicher. Hjalmar Schacht, der Finanzexperte, der sowohl Wirtschaftsminister als auch Präsident der Reichsbank und kein Nazi war, verteidigte das Wirtschaftsressort erfolgreich gegen Eingriffe radikaler Parteimitglieder, indem er den heiklen Zustand der deutschen Wirtschaft und das vorrangige Interesse an Wiederaufrüstung nachdrücklich betonte. Hitler ergriff weder öffentlich für Schacht Partei, noch verleugnete er Streicher, doch muss er seinem Wirtschaftsminister hinter verschlossenen Türen die notwendige Unterstützung gegeben haben.8 Enttäuschte radikale Parteimitglieder wurden allerdings erneut durch legislative Maßnahmen entschädigt. Die Nürnberger Gesetze vom September 1935, die Ehen und außereheliche Beziehungen zwischen Juden und Ariern sowie die Anstellung junger deutscher Frauen als Dienstmädchen in jüdischen Haushalten untersagten, schienen speziell darauf ausgelegt, den von Sexualität besessenen Antisemitismus in der Gruppe um Streicher zu befriedigen.

Ebenso wie sich an den Angriff auf die Juden 1933 im darauffolgenden Jahr eine Kampfpause aufgrund von Hitlers Problemen mit der Zweiten Revolution anschloss, so ließen die Aktivitäten nach der Agitation und den Gesetzen von 1935 im folgenden Jahr nach, diesmal aufgrund der Olympischen Spiele 1936 in Berlin. Hitler war offenkundig in der Lage, seinen eigenen Antisemitismus sowie den seiner tollwütigsten Gefolgsleute zu zügeln, wenn es politisch zweckdienlich war. Hinter den Kulissen erwies sich die Gestaltung der Judenpolitik als immer komplizierter. Bis 1936 hatte ein Dreikampf stattgefunden zwischen radikalen Parteimitgliedern, die den Ansatz der Pogrome befürworteten, den Bürokraten des Innenministeriums, die den ordnungsgemäßen Weg diskriminierender Gesetze gingen, und Schachts Wirtschaftsexperten, die forderten, anti-jüdische Maßnahmen sollten zumindest vorübergehend nicht die Wirtschaft betreffen. Bei seltenen Anlässen intervenierte Hitler, normalerweise um die Radikalen zu zügeln und als Entschädigung eine weitere legislative Attacke zu bewilligen, doch meistens gab er wenig direkte Anweisungen.9 In den Jahren nach den Nürnberger Gesetzen kamen jedoch zwei neue Elemente im Wettbewerb um die Judenpolitik auf: Hermann Görings vielgestaltiges Reich und Heinrich Himmlers SS.

1936 wurde Hermann Göring zum Leiter des Vierjahresplans ernannt und mit der Vorbereitung der Wirtschaft auf den Krieg beauftragt. Schachts hartnäckige Warnungen vor dem gefährlich raschen Tempo der deutschen Wiederaufrüstung hatten im Herbst 1937 seine Absetzung als Wirtschaftsminister zur Folge. Da Schachts Nachfolger Walter Funk Görings Untertan war, lag die Kontrolle der deutschen Wirtschaft von nun an in neuen Händen. Zudem befand sich die Wirtschaft jetzt auf weitaus sichererem Grund, und große Unternehmen waren darauf bedacht, zum ersten Mal seit der Depression – insbesondere auf Kosten ihrer jüdischen Konkurrenten – zu expandieren. Die Zeit war „reif“ für einen Frontalangriff auf die Position der Juden in der deutschen Wirtschaft.10 Im April 1938 tat Göring mit der Verordnung, alles jüdische Vermögen müsse angemeldet werden, einen ersten Schritt zur Beseitigung der Juden aus dem Wirtschaftsleben Deutschlands.

Das Tempo und der Ablauf dieser Aktion blieben jedoch umstritten. Der Reichsminister des Innern Wilhelm Frick befürwortete Zwangsarisierung, bei der jüdisches Eigentum der deutschen Mittelklasse übertragen werden sollte. Dies war ein direkter Appell an radikale Parteimitglieder, denn Frick wollte wahrscheinlich Boden wiedergewinnen, den er an Göring und Funk verloren hatte. Schacht, damals noch Präsident der Reichsbank, und Finanzminister Schwerin von Krosigk traten für eine Fortsetzung der freiwilligen Arisierung ein.11 Letztere Maßnahmen hätten der kapitalarmen Mittelschicht nicht genützt und dem von den Radikalen verlangten Tempo der Arisierung wohl kaum gepasst. Göring war für einen Mittelweg, der das Tempo der Arisierung beschleunigte, aber dem Staat, nicht der Mittelschicht nutzte und der deutschen Wirtschaft nicht schadete.12

In der SS lehnte das Judenreferat innerhalb des Sicherheitsdienstes (SD) von Himmlers Stellvertreter Reinhard Heydrich die „wilden Aktionen“ der radikalen Parteimitglieder ab und trat für eine systematische und vollständige Emigration zur „Lösung des Judenproblems“ ein.13 Die Judenexperten des SD waren insbesondere an der Auswanderung nach Palästina interessiert, wenn auch die Nazis befürchteten, dass eine drastische Zunahme der jüdischen Bevölkerung die Chancen für die Gründung eines unabhängigen jüdischen Staats dort erhöhte. Diese Männer forderten „die Zentralisierung der gesamten Beschäftigung mit der ,Judenfrage‘ in den Händen von SD und Gestapo“.14

Der SD hielt sich bis 1938 in Sachen Judenpolitik bedeckt, während sich der Auswanderung der Juden scheinbar unüberwindbare Hindernisse in den Weg stellten. Inmitten der Weltwirtschaftskrise sträubte sich das Ausland dagegen, nicht beschäftigungsfähige Einwanderer aufzunehmen, die dem Staat auf der Tasche liegen würden. Außerdem waren die deutschen Juden nicht die einzigen, die um die winzigen Einwanderungsquoten konkurrierten; aufgrund der steigenden Welle von Antisemitismus in großen Teilen Osteuropas kämpften immer mehr europäische Juden um immer beschränktere Einwanderungsmöglichkeiten. Aufgrund der Währungsbeschränkungen und „Fluchtsteuer“ in Deutschland konnten Auswanderer nur einen Bruchteil ihrer Habe mitnehmen. Darüber hinaus hingen sie sehr an dem, was über Generationen ihr Land gewesen war; mit Ausnahme der Jungen und Abenteuerlustigen war es für sie außerordentlich schwierig, ihre Wurzeln zu kappen und das Risiko eines Neuanfangs im Ausland einzugehen.15

Nach dem Anschluss im März 1938 wurde der SD-Experte für Zionismus, Adolf Eichmann, nach Österreich entsandt, um die Auswanderung der Juden zu organisieren. Er entwickelte eine Fließbandtechnik, um Bürokratie abzubauen, und nutzte das Vermögen reicher Juden, um die Auswanderung armer Juden finanziell zu unterstützen. Darüber hinaus nutzte er den Terrorapparat nach Belieben, um Zögernde unter Androhung von Gewalt zur Auswanderung zu bewegen. Eichmanns Methoden waren mehr Vertreibung als Emigration, und doch erzielte er eine Ausreiserate, die diejenige in Deutschland zwischen 1933 und 1937 bei weitem übertraf. Für die Gestaltung der deutschen Judenpolitik durch die SS war dieser persönliche Triumph Eichmanns ein wesentlicher Durchbruch.

Im Sommer 1938 war die Judenpolitik ein Sammelsurium an Widersprüchen, da rivalisierende Fraktionen ihre eigenen Programme ohne zentrale Koordination oder Leitung durchzusetzen versuchten. Göring und andere versuchten, die Juden aus der Wirtschaft zu verdrängen, waren sich aber nicht einig, wie dies geschehen sollte. Die SS hatte die Auswanderung durch Eichmanns Vertreibungsmaßnahmen in Österreich verstärkt, doch die daraus entstandene Flut an Flüchtlingen machte den Unwillen des Auslands nur noch größer, diese aufzunehmen. Und je gründlicher und systematischer Görings Arisierungsmethoden zu werden drohten, desto größer war der Widerstand im Ausland gegen die Einwanderung der zunehmend verarmten deutschen Juden. Arisierung und Auswanderung arbeiteten gegeneinander. Neben diesen Versuchen, das „Judenproblem systematisch zu lösen“, nahm die Unzufriedenheit unter radikalen Parteimitgliedern, der Gruppe um Streicher, der SA und Görings und Himmlers Hauptrivalen Joseph Goebbels zu. Sie alle waren frustriert vom langsamen Tempo der legislativen und bürokratischen Verfolgung und befürchteten, in Judenangelegenheiten kein Mitspracherecht zu haben.

Die Ermordung des deutschen Diplomaten Ernst vom Rath durch einen jüdischen Attentäter, Herschel Grynszpan, am 9. November 1938 gab Goebbels Gelegenheit, „revolutionäre“ Maßnahmen gegen die Juden zu ergreifen und radikalen Parteimitgliedern Grund zum Jubel zu geben. Mit Billigung Hitlers startete er das Kristallnacht-Pogrom, in dessen Verlauf in ganz Deutschland jüdische Synagogen in Flammen aufgingen und jüdische Geschäfte verwüstet wurden. Göring und Himmler, die von Goebbels Initiative überrascht wurden und grollten, griffen die immense öffentliche Aufmerksamkeit und Beschädigung von Eigentum begierig auf, um Goebbels aus dem Amt zu vertreiben.16 Hitler ließ Goebbels nicht im Stich, doch bündelte er schließlich die Zuständigkeit für Judenangelegenheiten unter Göring, wie letzterer einer interministeriellen Konferenz am 12. November 1938 nachdrücklich erklärte.

Der Allianz zwischen Göring, Himmler und Heydrich, die Röhm und die SA-Führung 1934 zerstört und die beiden obersten Befehlshaber der Wehrmacht im Frühjahr 1938 ihres Amtes enthoben hatte, gelang es somit, den Einfluss radikaler Parteimitglieder auf Judenangelegenheiten schließlich zu beseitigen. Der bürokratische Ansatz hatte über das Pogrom gesiegt. Es verwundert allerdings nicht, dass das neue Triumvirat in Judenangelegenheiten keinen Versuch unternahm, sich für eine der widerstreitenden Strategien der Arisierung und Emigration zu entscheiden und stattdessen einfach beide beschleunigte.

Diese Nicht-Entscheidung bedeutete faktisch den Erfolg der Arisierung und das Scheitern der Auswanderung. Denn den deutschen Juden wurde rasch ihr verbleibender Besitz aberkannt. Zugleich ermächtigte Göring Schacht, mit Vertretern der Evian-Konferenz zu verhandeln – einer internationalen Versammlung, die das Problem jüdischer Flüchtlinge lösen sollte. Im Januar 1939 erklärten sich die Deutschen schließlich einverstanden, den Auslandstransfer eines Teils des jüdischen Besitzes durch den Kauf deutscher Exporte zu erlauben – die Methode wurde seit 1933 in Zusammenarbeit mit den Zionisten angewandt, um die Auswanderung nach Palästina zu fördern. Allerdings konnte das Exekutivkomitee der Evian-Konferenz weder Siedlungsgebiete für die jüdischen Emigranten noch Geldquellen außerhalb Deutschlands auftreiben, um die unmittelbaren Kosten der Umsiedlung zu tragen. Somit wurde der sogenannte Schacht-Rublee-Plan zur organisierten Auswanderung der deutschen Juden nie realisiert.17 Göring sah sich daher anderweitig um.

Auf einer Konferenz im Nachgang zur Kristallnacht am 12. November 1938 hatte Heydrich den Erfolg von Eichmanns Methoden in Österreich gerühmt. Im Januar 1939 ermächtigte Göring schließlich Heydrich, analog zu Eichmanns Organisation in Wien eine Reichszentrale für jüdische Auswanderung in Deutschland einzurichten, um alle Maßnahmen für eine verstärkte jüdische Auswanderung vorzubereiten.18 Jedoch konnten selbst Vertreibungsmaßnahmen nichts gegen die immer höher werdenden Hürden bei der Auswanderung von Juden ins Ausland ausrichten. Nach Abschluss der Arisierung hatte Göring an der eingeschlossenen und verarmten jüdischen Gemeinschaft kein Interesse mehr. Im Juli 1939 wurde die Reichsvereinigung der Juden gegründet, die einzige jüdische Organisation in Deutschland, die Heydrich unterstand. Somit lagen jetzt nicht nur alle Angelegenheiten, die mit Auswanderung zusammen hingen, sondern auch die totale Kontrolle der jüdischen Gemeinschaft in Deutschland in der Hand der SS. Dieser war es zwar nicht gelungen, das „Judenproblem zu lösen“, doch hatte sie das sechsjährige Kompetenzgerangel um die Ausrichtung der Judenpolitik für sich entschieden.19

Sechs Jahre lang waren ideologische und politische Faktoren zusammengekommen, ohne dass sie die fatale Beschleunigung in der Judenpolitik hin zur systematischen Auslöschung bewirkt hätten, wie sie nach 1939 geschah. In jenem Jahr konsolidierte die SS ihre Vormachtstellung in jüdischen Angelegenheiten, und Deutschland zog in den Krieg. Das Zusammenspiel dieser beiden zusätzlichen Faktoren hatte drastische Auswirkungen. Der Krieg warf die bis dahin von der SS verfolgte Politik jüdischer Auswanderung vollständig um. Mit Ausbruch der Kampfhandlungen wurden zunächst viele Grenzen geschlossen, so dass nur noch die gefährlichsten Auswanderungsrouten offen standen. Alle darauf folgenden bewaffneten Auseinandersetzungen verschärften die Situation nur weiter. Zweitens stieg mit jeder militärischen Eroberung die Zahl der Juden unter deutscher Herrschaft. Die militärischen Erfolge führten außerdem zu einer wachsenden Zahl deutscher Alliierter, besonders in Südosteuropa, wo zahlreiche Juden lebten. Europa war zu einem deutschen Einflussgebiet geworden, in dem Millionen Juden eingeschlossen waren. Die alte Lösung der Auswanderung versagte, zugleich weitete sich das Problem aus. Eine neue „Endlösung“ musste gefunden werden, doch diesmal konnte die SS rasch, unbehindert und ohne großes Eingreifen von anderen in Judenangelegenheiten reagieren.

Der Ausbruch des Krieges veränderte die Situation in noch weiterer Hinsicht. Alle äußeren Faktoren, die vorher eine Bremswirkung auf die Judenpolitik gehabt hatten, wurden nun irrelevant. Die Berücksichtigung der öffentlichen Meinung im Ausland, die Zweckmäßigkeit in außenpolitischer Hinsicht sowie wirtschaftliche Berechnungen spielten für die Entscheidungsfindung keine Rolle mehr. Außerdem hatten die Juden – anders als die Kirchen, die Wehrmacht, das Beamtentum oder die Industrie – keine Verteidiger unter den konservativen Elementen der deutschen Gesellschaft; letztere hatten sich längst zu Kollaborateuren und Alliierten der Nazis entwickelt. Diese konservativen Nationalisten konnten sich schwer vorstellen, in Kriegszeiten die Politik der Regierung abzulehnen, selbst wenn diese Politik das bedrohte, woran sie am meisten hingen. Noch weniger konnten sie daher in der „Judenfrage“ Position beziehen. Sie hatten anfangs anti-jüdische Maßnahmen unterstützt und verteidigt. Als deren Ausmaß ihnen jedoch Unbehagen bereitete, waren sie zu kompromittiert und moralisch gelähmt, um effektiven Widerstand zu leisten. Sie empfanden es als schwierig genug, ihr eigenes Interesse zu verteidigen, und waren nicht bereit, Risiken für die Juden auf sich zu nehmen, denen sie selber bereits soviel Schaden zugefügt hatten. Somit gab es nach Kriegsausbruch kein ernsthaftes Gegengewicht, das einen Kompromiss in der „Judenfrage“ nötig machte. Die Judenpolitik konnte sich damit rasch und fast reibungslos bis zum äußersten Extrem entwickeln.

Unter diesen Umständen verfolgte die SS in rascher Folge zwei weitere Versionen einer „Endlösung der Judenfrage“ – das Lublin-Reservat und den Madagaskarplan.20 Die erstere kam im Herbst 1939 nach dem Blitzkrieg in Polen auf, denn durch die neue jüdische Bevölkerung der einverleibten (von Polen annektierten) Territorien sowie der in Österreich und dem Böhmischen Protektorat hatte sich ein Teufelskreis offenbart: Jeder Fortschritt in militärischer und außenpolitischer Hinsicht war nun ein Rückschritt auf dem Weg zur versprochenen „Lösung der Judenfrage“, dem judenreinen Deutschland durch Auswanderung. Denn die Zahl der Juden auf deutschem Territorium nahm zu, nicht ab. Um diesen Teufelskreis zu durchbrechen, kündigte Heydrich am 21. September 1939 die Entscheidung des Führers an, die neu einverleibten Territorien so bald wie möglich von Juden zu „säubern“. Als Vorstufe zum „Endziel“ sollten zunächst die Juden aus den eingegliederten Territorien und dann die aus Westpolen in Städten entlang der Bahnstrecken konzentriert werden. „Endziel“ bedeutete zu dieser Zeit die Deportation von Juden in ein Reservat in der Gegend von Lublin, nicht Vernichtung, denn Heydrich nahm den östlichen Teil der Generalgouvernement ausdrücklich von den Konzentrationsmaßnahmen aus, die an anderen Orten unternommen wurden.21

Im Anschluss an Heydrichs Direktive wurden viele Vorschläge gemacht und Projekte unternommen, um Juden und Polen von den eingegliederten Territorien und aus Westpolen sowie aus dem Protektorat und aus Österreich zu deportieren. Die ersten Transporte aus dem Protektorat und Österreich brachen Mitte Oktober zu Eichmanns „Umerziehungslager“ in Nisko in der Nähe von Lublin auf, und groß angelegte Transporte aus den neu eingegliederten Gebieten und Westpolen setzten im Dezember ein; 200 000 Menschen wurden innerhalb von zwei Monaten entwurzelt.22

Im Februar und März 1940 wurden auch die jüdischen Gemeinden von Stettin und Schneidemühl deportiert – es war das erste Mal, dass Juden mit deutscher Staatsbürgerschaft von Deportationen betroffen waren. Dies war jedoch nicht der Auftakt zu größeren Deportationen aus dem alten deutschen Reichsgebiet, sondern der letzte Atemzug des Reservatsplans. Hans Frank vom Generalgouvernement bekam Angst vor den Auswirkungen dieser Flut von Juden auf sein darauf nicht vorbereitetes Gebiet. Er nahm die Hilfe eines verständigen Göring in Anspruch, der die Deportationen Ende März 1940 stoppen ließ. Dieser seltene Fall, bei dem Göring in die „Handhabung der Judenfrage“ durch die SS eingriff, bedeutete das Ende des Reservatsplans.23

Die Eroberung von Holland, Belgien und Frankreich im Mai und Juni 1940 ließ die Zahl der Juden unter deutscher Herrschaft erneut steigen, bot andererseits jedoch die Möglichkeit einer anderen Lösung – der Annexion der französischen Kolonie Madagaskar, die als insulares Super-Ghetto für die Juden Europas genutzt werden sollte.24 Sie erwies sich als noch kurzlebiger als das Lublin-Reservat, denn Voraussetzung zu ihrer Umsetzung war offensichtlich der Sieg über Großbritannien und damit die Kontrolle über die Meere. Als Hitler im Herbst 1940 noch vor dem vermeintlichen Sieg über Großbritannien den Angriff auf Russland beschloss, musste der Madagaskarplan zurückgestellt werden.

Die Entscheidung, Russland anzugreifen, bedeutete nicht nur den zeitlich unbeschränkten Aufschub des Madagaskarplans, sondern sie warf das alte Dilemma wieder auf. Mit der voraussichtlichen Eroberung Russlands kämen zusätzlich Millionen Juden unter deutsche Herrschaft. Irgendwann zwischen dem Herbst 1940 und dem Frühjahr 1941 traf Hitler die fatale Entscheidung, dass die Eroberung Russlands die „Endlösung der Judenfrage“ nicht weiter verschärfen dürfe. Stattdessen sollten die russischen Juden systematisch vernichtet werden, so wie sie in deutsche Hände gerieten. Diese Entscheidung war ein Quantensprung in der deutschen Judenpolitik. Hatten frühere „Endlösungen der Judenfrage“ immer physische Beseitigung bedeutet, so bedeutete „Endlösung“ von nun an physische Zerstörung. Hatte der Tötungsprozess erst einmal begonnen, so ließ er sich nicht wieder rückgängig machen, sondern nur weiter ausweiten.

Als Teil der Vorbereitungen für den Angriff auf Russland organisierte Heydrich Einsatzgruppen, um die „Sonderaufgaben“ auszuführen, die sich aus der endgültigen Konfrontation zweier gegensätzlicher politischer Systeme ergaben. Die Vernichtung der russischen Juden war eine solche Aufgabe. Nach dem Ausbruch von Kampfhandlungen und in enger Kooperation mit der deutschen Wehrmacht verübten die Einsatzgruppen Massaker durch Erschießen in den Gebieten hinter den rasch vordringenden deutschen Frontlinien.25

Der Teufelskreis war durchbrochen; weitere Eroberungen bedeuteten nicht länger mehr Juden. Doch die Existenz von Millionen Juden in einem von Deutschland dominierten Europa war noch immer ein „Problem“, dessen Lösung sich die Nazis verpflichtet hatten. Der in Russland begonnene Tötungsprozess erschien nun verlockend. Im Sommer 1941 hatte Hitler beschlossen, auch die europäischen Juden zu vernichten. Am 31. Juli 1941 ermächtigte Göring Heydrich, alle erforderlichen Vorbereitungen für eine „Gesamtlösung der Judenfrage“ im deutschen Einflussgebiet in Europa zu treffen und die Beteiligung der Reichsstellen zu koordinieren, deren Zuständigkeiten hiervon betroffen waren.26

Doch die Vernichtungsmethode der Einsatzgruppen erwies sich schon im Umgang mit den russischen Juden als wenig angemessen. Die schwere psychologische Last, die auf den Tätern lag, die Unmöglichkeit, die Massaker geheim zu halten und vor allem die erschütternde Zahl an Opfern, mit denen man sich befassen musste, machten diese Methode für den breiteren Gebrauch ungeeignet, insbesondere in Gebieten außerhalb der Kriegszone. Die Nazis mussten daher eine neue Tötungsmethode entwickeln. Die drei bereits angewandten Programme – das System der Konzentrationslager, das Euthanasie-Programm und groß angelegte Projekte von Zwangsauswanderung und der Umsiedlung von Bevölkerungsgruppen – wurden vereinigt, um dieses technische Problem zu lösen. Die europäischen Juden sollten entwurzelt und in Lager in Ostdeutschland und Polen deportiert werden, die speziell mit den Gasanlagen ausgestattet waren, welche Euthanasieexperten im Laufe der vorangehenden zwei Jahre entwickelt hatten.27 In punkto Produktivität, Geheimhaltung und psychologischen Auswirkungen auf die Täter ließen die Todesfabriken, in denen Opfer am Fließband durchgeschleust wurden, die alte Methode der Einsatzgruppen so obsolet aussehen wie einen Handwerksbetrieb.

Wie jede hoch entwickelte Institution der modernen Gesellschaft erforderten die Todesfabriken eine umfassende Infrastruktur, um sie in Gang zu halten. Vor allem musste die Versorgung mit Rohmaterialien, dem unaufhörlichen Strom an Opfern, sichergestellt sein. Die Juden in Deutschland und Polen standen bereits zur Verfügung und warteten auf ihren Abtransport; die Juden im übrigen Europa mussten erst noch beschafft werden. Im Hinblick auf diese Probleme hatte Göring Heydrich gemahnt, die Beteiligung der relevanten Stellen der deutschen Regierung zu koordinieren, deren Hilfe benötigt wurde. Mitte Oktober hatten die ersten Deportationszüge Deutschland verlassen, im Dezember hatten die ersten Massaker an deutschen Juden in Riga stattgefunden, und die ersten Vergasungen waren im Todeslager in Kulmhof ausgeführt worden. Die nötige Koordination konnte nicht länger warten.

In einer Villa am Rande von Berlin mit Blick über den Wannsee versammelte Heydrich am 20. Januar 1942 die Staatssekretäre der deutsche Reichsbehörden und Vertreter der Zivilverwaltungen der besetzten Gebiete des Ostens; er informierte sie in verschleierter, aber dennoch unmissverständlicher Sprache über das Schicksal, das Hitler für die europäischen Juden bestimmt hatte. Heydrich machte den Staatssekretären klar, dass er ihre Zusammenarbeit erwarte, und keiner enttäuschte ihn. Die Ministerien des Dritten Reiches waren bis 1939 unterschiedlich stark in die Judenpolitik involviert, wurden dann jedoch größtenteils von einer eifersüchtigen, auf die Wahrung ihrer neu gewonnenen Vorrechte bedachten SS beiseite geschoben; jetzt wurden sie erneut einbezogen. Die Bürokraten der SS konnten die Aufgabe allein nicht bewältigen, daher musste man sich auch für die „Endlösung“ die beträchtlichen Energien der ministeriellen Bürokratie zunutze machen.

Zusätzlich zu den ideologischen und politischen Faktoren hinter der Entwicklung der deutschen Judenpolitik und dem radikalisierenden und beschleunigenden Einfluss des Krieges muss man auch den Faktor Bürokratie berücksichtigen. Seit dem Erscheinen von Raul Hilbergs klassischer Untersuchung „Die Vernichtung der europäischen Juden“ von 1961 ist das Konzept der „Endlösung“ als eines bürokratischen und administrativen Prozesses nicht ernsthaft in Frage gestellt worden. Dennoch warf Hilbergs Buch wie jedes wichtige historische Werk neue Fragen auf und regte weitergehende Untersuchungen an. Obwohl Hilberg zum Beispiel zugibt, dass die deutsche Bürokratie „keinen Masterplan, keinen basic blueprint“ besaß, behauptet er, dass „die deutsche Verwaltung wusste, was sie tat. […] Mit unheimlichem Orientierungsvermögen fand die deutsche Bürokratie den kürzesten Weg zum Endziel.“28 Jüngere Untersuchungen zeigen allerdings, dass die deutsche Bürokratie einen „gewundenen Weg nach Auschwitz“ einschlug und nicht den kürzesten nahm.29

Auch andere Fragen zur deutschen Bürokratie stellen sich. Im Hinblick auf die Ministerien, Wehrmacht, Industrie und Partei erklärt Hilberg: „Die Zusammenarbeit dieser Hierarchien war tatsächlich so vollständig, dass man wahrhaft von ihrer Fusion in eine Zerstörungsmaschinerie“ sprechen kann.30 Wie, wann und in welchem Ausmaß fand eine solche Fusion statt? Obwohl Hilberg oft so redet, als sei die Bürokratie eine monolithische Instanz, räumt er ein, dass „sich bei genauerer Untersuchung die Zerstörungsmaschinerie als lose Organisation von Teilzeitkräften entpuppt“.31 Was für Menschen waren diese Halbtags-Judenexperten? Was trieb sie an?

Hilberg selbst bemerkt: „Eins von unseren schwierigen Problemen ist es, zu verstehen, wie die deutsche Bürokratie ihre Arbeit aufnahm, wie sie ihre allerersten Schritte machte.“ Dabei nimmt er an, dass „der Verwaltungsapparat einsatzbereit war, dass man ihm nicht sagen musste, was zu tun war“; seine Antworten sind eher poetisch als historisch. Wo ihm das eroberte Europa zu Füßen lag, „winkten die Bürokraten ihr faustisches Schicksal heran“ und „mussten das Ultimative versuchen“. Oder: „Die deutsche Bürokratie war ein so sensibler Mechanismus, dass er im rechten Klima fast von allein zu funktionieren begann.“ Schließlich wurde die deutsche Bürokratie mit einem Ball verglichen, der der Trägheit unterliegt: „1933 gab man ihm den fehlenden Stoß, und der Ball begann zu rollen.“32

Doch wenn man nicht länger von einer linearen Progression von 1933 bis 1942 sprechen kann, kann man dann von einem einzigen Anfangspunkt sprechen? Haben nicht sehr unterschiedliche Faktoren die frühe Beteiligung von verschiedenen Mitgliedern dieses „sehr dezentralisierten Apparats“ in den 1930er Jahren bestimmt und später zur Zeit der „Endlösung“ die erneute Mitwirkung einiger von ihnen beeinflusst? Wie verlief der Entscheidungsfindungsprozess, der dazu führte, dass Organisationen, welche seit 1939 von Judenangelegenheiten größtenteils ausgeschlossen waren, in den Tötungsprozess verstrickt wurden?

Diese Fallstudie der Judenexperten und Judenpolitik des Auswärtigen Amtes zwischen 1940 und 1943 unternimmt den Versuch, zusätzliches Licht auf die Abläufe der „Endlösung“ zu werfen und die oben genannten Fragen für zumindest ein Zahnrad in der Zerstörungsmaschinerie zu beantworten.

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