Читать книгу Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3) - Claire McFall - Страница 10

Kapitel 7

Оглавление

»Ich glaube, wir haben ein Problem.«

»Was?« Dylan löste ihren Blick von dem Cottage Pie, über den sie gerade herfallen wollte, und schaute Tristan fragend an.

»Ich bin ziemlich sicher, dass es ein Dämon war.«

»Was?« Vor Schreck fiel ihr die Plastikgabel ins Mittagessen und die Soße spritzte über ihr Schulshirt. Sie merkte es nicht einmal.

»Das Ding, das dieses Pferd getötet hat.«

»Was?« Klick, klick, klick, fügten sich die Puzzleteile zusammen, als ihr aufging, wovon er redete.

»Mehr hast du nicht zu sagen?«

Sie beugte sich vor und funkelte Tristan an, der sich auf den Platz gegenüber von ihr fallen ließ.

»Warum glaubst du, dass es ein Dämon war? Der Ort ist doch meilenweit von den Löchern entfernt, die Jack und ich im Schleier hinterlassen haben. Es kann kein Dämon sein.« Ihre Stimme klang so scharf und schrill, dass sie zusammenzuckte und sich hastig in der überfüllten Cafeteria umblickte, aber niemand achtete auf sie. »Warum meinst du, dass es einer von ihnen ist?«

Tristan holte tief Luft. »Es gab noch eine Attacke, am selben Ort.«

»Ein Mensch?«

»Nein, Schafe.«

»Was? Ein Schaf?«

Tristan schüttelte den Kopf. »Nicht nur ein Schaf, eine ganze Herde. Auf dem Nachbarhof, erst letzte Nacht. Es stand auf einer lokalen Nachrichtenseite der BBC. Die Polizei warnt die Leute vor einem Raubtier, das möglicherweise gefährlich sein könnte.«

»Ein Raubtier? Wir sind doch nicht in Afrika – hier gibt’s keine wilden Löwen oder Tiger.«

»In den Nachrichten steht, dass es vielleicht aus einem Tiergarten ausgebrochen ist, oder einem Privatzoo.«

»Ja, okay, es gibt einen Safaripark irgendwo in der Gegend.« Nachdenklich schaute sie Tristan an. »Aber du glaubst das nicht?«

»Nein.«

»Ich …« Sie stieß ihren Cottage Pie weg, der Appetit war ihr fürs Erste vergangen. Sie wollte es zwar immer noch nicht glauben, konnte aber Tristans besorgtes Gesicht nicht ignorieren. »Wie soll es denn ein Dämon gewesen sein? Irgendwo mitten in der Pampa? Du warst dir doch sicher, dass kein anderer Seelenfahrer durchgekommen ist?«

Tristan nickte leicht genervt. Das hatte sie ihn schon x-mal gefragt.

»Dann ist es doch wahrscheinlicher, dass was Normales dahintersteckt. Falls man von ›normal‹ sprechen kann, wenn ein Panther in Zentralschottland herumläuft!«, fügte sie schnaubend hinzu. »Wie soll ein Dämon überhaupt dorthin kommen? Sie können doch nicht einfach den Schleier durchbrechen, jedenfalls nicht von allein.«

Tristan wirkte nicht überzeugt. »Ich weiß, aber es fühlt sich so … Da stimmt was nicht.«

»Ich dachte, du kannst einen Dämon nicht spüren, es sei denn, er befindet sich ganz in der Nähe?«

»Ja, stimmt. Jedenfalls nicht ohne …«

»Susanna?«, ergänzte sie, als Tristan plötzlich verstummte. Ein tiefer Seufzer entwich ihr. Sie wusste nur zu gut, wo das hinführte. »Du willst da raus. Nachforschen.«

Er nickte, zuckte hilflos mit den Schultern.

Sie kräuselte die Lippen, gab sich aber geschlagen. Wenn Tristan recht hatte – obwohl sie sich das immer noch nicht vorstellen konnte –, verlangte ihr Deal mit dem Inquisitor, dass sie hinfuhren, um sich darum zu kümmern: die Dämonen töten, herausfinden, wo zum Teufel sie hergekommen waren, und alle anderen davon abhalten, in die Welt der Lebenden einzudringen.

Wenn tatsächlich ein Dämon hier sein Unwesen trieb und sie nichts unternahmen, würde der Inquisitor einschreiten müssen und …

»Also gut«, seufzte sie. »Morgen ist Freitag, da haben wir nachmittags frei. Dann können wir hinfahren. Reicht das?«

Tristan verzog das Gesicht, weil er wahrscheinlich lieber sofort aufgebrochen wäre, aber er nickte knapp.

»Morgen«, stimmte er zu.

»Wir werden nichts finden.« Sie nahm ihre Gabel wieder in die Hand und zwang sich, einen Bissen zu essen. »Du wirst schon sehen.«

Sie sagte es mit Überzeugung und konnte nur hoffen, dass sie recht behielt.

»Ich finde das immer noch dumm«, maulte sie, wadentief im Schlamm stehend. Ihre Füße in den Gummistiefeln waren eiskalt und eine ihrer Socken drohte jeden Moment herunterzurutschen. In der linken Hand hielt sie einen Regenschirm, auf den dicke, fette Tropfen vom Himmel klatschten und einen unregelmäßigen Trommelrhythmus über ihrem Kopf entfachten. Die andere Hand, die vor Kälte schon ganz starr war, hatte sie tief in ihre Jackentasche geschoben. Bei jedem Ausatmen bildete sich ein Dampfwölkchen vor ihrem Mund.

Der schottische März war nicht gerade der geeignetste Zeitpunkt, um im Matsch auf dem Land herumzustiefeln. In ihren Augen galt das allerdings für jeden einzelnen Monat im Jahr. Sie war schon vor ihrem tödlichen Unfall kein Outdoor-Mädchen gewesen und ihre Erfahrungen im Niemandsland – oder jenseits davon – hatten sie nur noch darin bestärkt, dass die freie Natur nicht ihr Ding war.

Tristan reagierte nicht. Hatte es wahrscheinlich aufgegeben, sie zu beschwichtigen, nachdem die ersten fünf Versuche nicht gefruchtet hatten. Stattdessen fasste er das nächste Feld ins Auge, seine Finger um die oberste Reihe eines Stacheldrahtzauns geklammert. Dylan blieb ein gutes Stück hinter ihm, weil … na ja … der Anblick dahinter so grässlich war.

Mehr als grässlich.

Das Ganze erinnerte an einen Slasher-Film: zahllose übereinandergestapelte Kadaver, die Beine verdreht, in absurden Winkeln abgeknickt, mehr Fleisch als Haut sichtbar. Alles war verkohlt, das Feuer noch nicht ganz aus, und die Hitze erzeugte einen wogenden Dunst, der sich nach oben wand wie ein abziehender Geist.

Dass es sich um Schafkadaver handelte und nicht um menschliche Leichen, nahm dem Anblick nichts von seinem Schrecken.

»Tristan, ehrlich, ich verstehe nicht …«

»Ich muss näher ran«, unterbrach er sie.

»Was?«

Statt einer Antwort schwang er seine Beine über den Zaun und ließ sich auf das Feld mit dem qualmenden Kadaverhaufen fallen.

»Tristan!«, rief sie und stürzte hinterher, stolperte quatschend durch den schlammigen Morast. Weiter als bis zum Zaun kam sie jedoch nicht – nicht nur, weil sie mit ihren viel zu großen Gummistiefeln unmöglich hinüberklettern konnte. Aus dieser Nähe konnte man die Einzelheiten deutlicher erkennen, der Rauch war nicht mehr so undurchdringlich und der Gestank, der ihr schon von Weitem den Atem geraubt hatte, war hier geradezu bestialisch. Würgend zog sie ihren Jackenkragen hoch, hielt ihn sich vors Gesicht und atmete durch den Mund. Aber das bedeutete, dass sie es jetzt förmlich auf der Zunge schmecken konnte: Ruß und verkohltes Holz, darunter der vertrautere Geschmack von Lamm- oder Schaffleisch.

Lammfleisch schmeckte ihr normalerweise. Aber nach dem Anblick hier würde sie wahrscheinlich nie wieder welches essen können.

Tristan schien der Gestank nichts auszumachen oder er war wild entschlossen, das alles zu ignorieren. Er stand direkt vor dem Haufen, nah genug, dass er die Hand danach ausstrecken konnte. Was er zu ihrem Entsetzen tatsächlich machte – als wollte er in diese widerliche Masse greifen. Aber zum Glück schwebte sie nur über etwas, das aus Dylans Blickwinkel wie ein verkohlter Huf aussah.

Warum in aller Welt waren sie hierhergekommen? Sie hatten doch beide Löcher zum Niemandsland geschlossen. Es gab keine Möglichkeit für die Dämonen, in die Wirklichkeit durchzubrechen.

Und selbst wenn es einer geschafft hatte, was sollte er dann hier? So weit weg von den beiden Stellen, an denen der Schleier gerissen war – dem Tunnel, in dem sie ihr Leben verloren hatte, und der dunklen Gasse, in der Jack an einer Messerwunde verblutet war. Und hier waren nicht einmal Menschen gestorben, sondern Schafe, was zugegebenermaßen sehr merkwürdig war … aber es konnte doch unmöglich etwas mit ihr und Tristan zu tun haben?

»Tristan!«, rief sie. »Es ist schon spät und es wird gleich dunkel.«

»Ja, gut.« Er steckte sein Smartphone in die Tasche, nachdem er ein paar Schnappschüsse gemacht hatte. »Ich bin fertig.« Er kam zurück und im Gegensatz zu Dylan bewegte er sich mühelos durch den tiefen, saugenden Schlamm. Typisch.

»Was denkst du?« Auch wenn sie noch so skeptisch blieb, sie war nun mal keine Expertin.

Tristan zog eine Grimasse und warf einen Blick über die Schulter zu den verkohlten Kadavern einer ganzen Herde. »Ich weiß nicht«, gab er zu. »Die Kadaver sind zerfetzt und aufgeschlitzt, wie man es bei einer Dämonenattacke erwarten würde, aber …«

»Aber es sind Schafe«, warf sie ein.

»Richtig.«

»Kann es nicht eine Meute bösartiger Hunde gewesen sein, die aus irgendeinem Grund in einen Blutrausch geraten sind?« Das hatte der wütende Bauer gesagt, als er in den Nachrichten interviewt worden war – Dylan sah ihn noch vor sich, mit seinen rot geränderten Augen unter der abgewetzten alten Kappe. »Oder ein Raubtier, wie die Polizei vermutet.«

»Ja, vielleicht«, räumte Tristan zögernd ein.

»Ich meine«, fuhr sie fort, »wir sind ja nicht mal in der Nähe der beiden Löcher. Wenn ein Dämon dort durchgekommen wäre, hätte er eine ganze Reihe von Ortschaften voll saftigem Menschenfleisch passieren müssen, bis er hier gelandet wäre.«

»Saftiges Menschenfleisch?« Tristan zog eine Augenbraue hoch.

»Du weißt schon, wie ich das meine.« Sie verdrehte die Augen und stieß ihn mit der Schulter an.

»Du hast recht«, seufzte Tristan. »Wahrscheinlich hat es nichts zu bedeuten. Nur dass ich …« Er schaute noch einmal zu den verkohlten Überresten zurück. »Ich habe nur so ein komisches Gefühl, dass hier etwas nicht stimmt.«

»Spürst du einen Dämon?« Tristans Worte brachten ihre Überzeugung ins Wanken und ihre eigenen mulmigen Gefühle nagten an ihr. Vielleicht war es doch nicht ganz so ausgeschlossen, dass die Schranke zwischen den Welten irgendwie durchbrochen worden war?

»Nicht wirklich.« Tristan rümpfte die Nase. »Glaube ich jedenfalls. Ohne Susanna ist es viel schwieriger …«

Er brach ab und sie knirschte mit den Zähnen. Schon wieder Susanna! Die Seelenfahrerin war bei der Dämonenjagd natürlich viel nützlicher gewesen als sie, was sie immer noch störte, wenn es ihr unter die Nase gerieben wurde, so wie jetzt.

»Ja, klar.« Es kam schärfer heraus, als sie gewollt hatte.

Sie blickte sich um, wobei sie die toten Schafe auszublenden versuchte. Sie waren nur wenige Meilen außerhalb von Kilsyth und das Land war säuberlich in einzelne Felder unterteilt. Einige, so wie das, auf dem sie standen, waren mit Gras bedeckt und wurden offensichtlich als Weide genutzt. Andere bestanden aus nichts weiter als gepflügter brauner Erde, deren sorgsam gezogene Furchen sich nach dem letzten Starkregen in Schlamm verwandelt hatten. Auf einem Hügel, ungefähr eine Meile entfernt, ragte ein großes Haus in die Höhe, umgeben von einigen Nebengebäuden und Ställen – wahrscheinlich der Bauernhof, zu dem die Felder hier gehörten. Hoffentlich waren die Leute, die dort wohnten, nicht zu Hause – sie hatte keine Lust, sich von einem wütenden Bauern verjagen zu lassen, der plötzlich den Hang heruntergerannt kam, mit einer Schrotflinte in der Hand.

Weiter unten am selben Hang, auf dem schmalen Weg, der in die Hauptstraße zum Ort hinunter mündete, standen ein paar gepflegte kleine Cottages, in denen vielleicht früher einmal die Knechte und Mägde des Bauernhofs gewohnt hatten. Dylan hoffte inständig, dass die hohen Hecken um das Anwesen herum sie vor den Blicken der Bewohner verbargen, aber sie fühlte sich trotzdem ausgeliefert und verletzlich. Absurderweise hatte sie mehr Angst davor, von den Hofbesitzern erwischt und angeschrien zu werden, als wenn ein Dämon plötzlich aus der Hecke hervorgeschnellt wäre, um ihr ein Loch in den Bauch zu reißen.

»Prioritäten setzen«, murmelte sie vor sich hin.

»Was?« Tristan schaute auf die Landschaft hinaus, aber sie bezweifelte, dass er dabei an wütende Einheimische dachte.

»Nichts«, sagte sie und versuchte sich zu konzentrieren. »Weißt du, auf welchem Feld das Pferd gestanden hatte?«

»Nein.« Er schüttelte den Kopf. »Nach dem Zeitungsartikel, den ich gelesen habe, liegt es weniger als eine Meile von dem Schafmassaker entfernt und wir können von hier aus eine gute Meile weit in alle Richtungen sehen. Es muss also ganz in der Nähe passiert sein.«

»Okay.« Sie drehte sich langsam im Kreis. Es gab nicht sehr viel zu sehen. »Abgesehen von den Häusern scheint es hier nicht viele Verstecke zu geben.«

»Wenn der Dämon einen Weg in die Häuser gefunden hätte, wäre es eine viel größere Geschichte geworden«, sagte Tristan.

Dagegen ließ sich kaum etwas einwenden. Zerfleischte Leichen, deren Tod rätselhaft blieb, hätten natürlich Schlagzeilen gemacht. Flüchtig schoss ihr ein Bild von Denny durch den Kopf, dem Ort, in dem sie das Dämonennest gefunden hatten. Sie hatte noch immer Albträume von den bluttriefenden Wänden, obwohl sie nur einen kurzen Blick darauf erhascht hatte.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie.

»Dämonen jagen«, entgegnete Tristan trocken. »Obwohl …« Er runzelte die Stirn. »Vielleicht sollten wir erst die Stelle suchen, wo er durchgekommen ist.«

»Falls einer durchgekommen ist«, warf sie ein. Sie wollte immer noch nicht die Möglichkeit ausschließen, dass vielleicht doch kein Dämon dahintersteckte.

»Ja, klar«, murmelte Tristan zerstreut, den Blick auf die Umgebung gerichtet.

»Und wie machen wir das? Wir werden das Loch ja wohl kaum mit bloßem Auge sehen können, oder?«

»Jedenfalls nicht, bevor wir dicht genug dran sind, um reinzustürzen.« Tristan grinste. »Und darauf lege ich keinen Wert. Wenn eine Seele ein Loch hinterlassen hätte, müsste es auf der anderen Seite des Schleiers genauso aussehen wie hier. Das wäre so, als wollte man einen randlosen Spiegel aufspüren, der praktisch nicht zu sehen ist. Dummerweise kannst du hier ja den Sog nicht spüren, so wie damals im Tunnel. Dann wäre es viel einfacher für uns.«

»Ehrlich gesagt bin ich froh darüber«, gab sie zu. Es war ein entsetzliches Gefühl gewesen, als sie an den Ort zurückgekommen waren, an dem sie ihr Leben verloren hatte. So als hätte eine bösartige Macht nach ihrem Herzen gegriffen … und mit aller Kraft daran gezogen.

»Ja, ich auch.« Tristan drückte ihre Hand, eine stumme Entschuldigung. Dann holte er tief Luft. »Gut, ich denke, wir versuchen als Erstes herauszufinden, ob es tatsächlich ein Dämon war oder nicht. Und wenn wir einen aufspüren, können wir uns immer noch Gedanken machen, wo er hergekommen ist.«

»Okay, das ist ein guter Plan.« Sie drehte sich erneut im Kreis, dann hielt sie inne. »Du meinst wahrscheinlich, dort drüben, oder?«

»Ja.«

»Na toll.« Sie schniefte abfällig. »Der dunkle, gruselige Wald. Was denn auch sonst?«

Es war kein richtiger Wald, höchstens ein Wäldchen, ungefähr auf halber Höhe des Hangs, auf allen Seiten von Feldern eingegrenzt. Und hier war tatsächlich – abgesehen von den Häusern, die Tristan bereits ausgeschlossen hatte – die einzige Möglichkeit für einen Dämon, sich bei Tageslicht versteckt zu halten. Wenn sie also dort nichts fanden …

… dann konnten sie nur hoffen, dass Tristan sich getäuscht hatte, denn wenn der Dämon bereits weitergezogen war, konnte er überall und nirgends sein.

Sie brauchten nicht lange, um den Waldrand zu erreichen. Wenigstens hatte der Regen fast ganz nachgelassen und Dylan konnte ihren Schirm auf einer niedrigen Steinmauer ablegen, die das Wäldchen säumte. Dann half Tristan ihr hinüber und sie machten die ersten Schritte unter den dunklen Baumwipfeln. Hier wuchsen fast ausschließlich Fichten, die ihre Nadeln das ganze Jahr über behielten, und bei dem bewölkten Himmel war es zwischen den Stämmen ziemlich schummrig.

Das Wäldchen war winzig; nach ein paar Dutzend Schritten hatten sie die Mitte erreicht und Dylan konnte bereits das schwache Licht sehen, das von der anderen Seite her durchsickerte.

»Vorsicht …« Tristan hob einen dicken abgebrochenen Ast auf. »Das Versteck eines einzelnen Dämons muss nicht sehr groß sein. Jeder Fuchs- oder Dachsbau würde genügen oder sogar ein tiefer Spalt zwischen zwei Wurzeln. Hier drinnen, wo nur wenig direktes Sonnenlicht hinkommt, würden diese Kreaturen keine geschlossene Höhle brauchen.«

»Na super«, murrte sie, ging weiter und setzte vorsichtig Fuß vor Fuß in dem schwammigen Untergrund aus feuchtem Laub und aufgeweichten Nadeln.

Tristan zu ihrer Linken bewegte sich wie in einem Raster vorwärts, indem er methodisch jeden Quadratmeter Waldboden absuchte. Sie selbst arbeitete sich aufs Geratewohl voran, wanderte hierhin und dahin, untersuchte alles, was irgendwie ungewöhnlich wirkte oder eine seltsame Form aufwies. Sie fand nichts und allmählich reichte es ihr. Sie war durchgefroren und langweilte sich und hätte am liebsten aufgegeben. Auch Tristan hatte inzwischen seine systematische Suche beendet. Er stand da, eine Hand in die Hüfte gestemmt, und sah ziemlich frustriert aus.

»Shit«, murrte er. »Hier ist er nicht.«

»Aber das ist doch gut, oder?«, wandte sie ein. »Kein Dämon, kein Riss im Schleier. Und folglich auch kein Besuch vom Inquisitor.«

»Ja, schon. Aber … ich war mir so sicher.«

»Tut mir leid für dich.« Dylans Mund kräuselte sich zu einem erleichterten Lächeln. »Also, ehrlich gesagt bin ich nur froh, dass wir nicht von einem entlaufenen Tiger gefressen wurden.«

Tristan warf lachend seinen Kopf zurück, verstummte aber plötzlich.

»Was?« Sie schaute ihn an. »Was ist?«

Er gab keine Antwort, zeigte nur mit dem Finger nach oben. Sie kam zu ihm herüber, stellte sich neben ihn und folgte seinem Blick. Dort oben, in sechs bis sieben Metern Höhe, hing eine wacklig aussehende Plattform zwischen den Bäumen. Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte Dylan in das Schummerlicht und konnte undeutlich ein blaues Seil ausmachen, das die Plattform mit den Bäumen verband. Und wenn sie sich nicht täuschte, ragte sogar eine Art krudes Dach darüber auf, was das Ganze zu einem kleinen Baumhaus machte. Wahrscheinlich war es von einem Kind gebaut worden, das mittlerweile aus solchen Sachen herausgewachsen war.

Diesmal entwich ihr ein Fluch.

»Verdammt.« Sie stieß einen tiefen Seufzer aus und fügte hinzu: »Bitte sag mir, dass Dämonen unter Höhenangst leiden.«

Tristan schnaubte und ließ seinen Ast fallen, der mit einem dumpfen Aufprall auf den Waldboden plumpste.

»Ich klettere hoch und seh mir das mal an«, sagte er. »Und du bleibst hier, okay?«

Er schwang sich auf den Baum hinauf, indem er sich an einem knotigen Abschnitt des Stamms festhielt. Dylan schaute zu, wie seine Füße auf der glitschigen Oberfläche nach Halt suchten – vergeblich. Er schlitterte auf den Boden zurück und rubbelte sich das klebrige Harz von seinen Handflächen.

»Erfahrener Baumkletterer, was?«, spottete sie.

»Nein«, gab er zu, ohne sich beirren zu lassen. Er wuchtete sich wieder hinauf und zog sich auf den untersten Ast. »Aber wer immer das gebaut hat, muss irgendwie hochgekommen sein, also schaffe ich das auch.«

»Ja, klar«, murmelte Dylan vor sich hin, während sie um den Baum herumging und nach der untersten Sprosse fasste, die an den breitesten Stamm genagelt war. »Allerdings nehme ich an, dass diese praktische Leiter nicht nur als Deko angebracht wurde.«

Es war nicht leicht – das Holz feucht und glitschig, ihre Armmuskeln alles andere als durchtrainiert, weil sie jeder Art von sportlicher Betätigung sorgfältig aus dem Weg ging. Wenigstens lagen die kleinen Sprossen dicht übereinander, sodass sie in weniger als einer Minute auf Augenhöhe mit Tristan war.

Ihm fiel die Kinnlade herunter und sie grinste ihn frech an.

»In Ordnung«, sagte er schließlich. »Du steigst jetzt wieder runter und ich geh hoch.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein. Wir gehen beide. Wir machen das zusammen …«

Diesmal schüttelte er den Kopf, bevor sie auch nur zu Ende sprechen konnte. »Dylan …«

Ohne ihn zu beachten, kletterte sie weiter.

»Dylan!«, zischte er wütend, weil er den Dämon nicht durch lautes Schreien aufscheuchen wollte, falls tatsächlich einer über ihnen lauerte. Aber sie ignorierte ihn und machte weiter. Eine Sekunde später hörte sie einen unterdrückten Fluch, dann knarzte es im Baum, als er schnell zu ihr hochkletterte.

Sie ließ ihn. Ihr Wagemut hatte Grenzen – sie war jedenfalls nicht wild darauf, das Baumhaus allein unter die Lupe zu nehmen.

Ein Stück unterhalb der Plattform hielt sie inne und Tristan tauchte fast sofort neben ihr auf. Er legte einen Finger an seine Lippen, dann streckte er eine Hand aus, um ihr zu bedeuten, dass sie zurückbleiben sollte. Sie schüttelte den Kopf. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass er sich allein in Gefahr begab. Tristan verzog das Gesicht, schien aber zu wissen, dass sie sich nicht aufhalten lassen würde.

Also streckte er drei Finger hoch, dann zwei, dann einen. Eine Sekunde später stiegen sie weiter hinauf. Einen Schritt, dann noch einen. Die Plattform war nur noch eine Handbreit über Dylans Kopf, als der Baum unter ihrem Gewicht gefährlich ins Schwanken geriet. Sie klammerte sich an den Sprossen fest, drückte sich an den Stamm und schaute hinunter, was sie besser nicht getan hätte.

Hilfe, war das hoch!

Hoch genug, dass sie sich noch mal beide Beine brechen konnte. Warum hatte sie nicht auf Tristan gehört und war auf dem Boden geblieben? Aber sie konnte es einfach nicht ertragen, dass er sich allein in Gefahr brachte. Obwohl das dumm war, denn inwiefern sollte sie ihm eine Hilfe sein?

Ein Windstoß fegte durch das Wäldchen und der Baum schwankte noch mehr. Den Griff noch fester umklammernd, gestattete sie sich einen Augenblick der Feigheit, bevor sie ihre Finger löste und nach der nächsten Sprosse fasste, um weiterzuklettern.

Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Tristan sie besorgt beobachtete. Sie rang sich ein beruhigendes Lächeln ab, das aber zur Grimasse entgleiste. Als er sah, dass sie entschlossen voranging, kam er hastig hinterher, um sie erneut zu überholen.

Ihr Kopf reichte jetzt über die Kante der Plattform. Leer. Jedenfalls auf den ersten Blick. Weiter hinten kam tatsächlich eine Art Dach zum Vorschein – oder eigentlich nur eine ausgefranste alte Plane, die längst zusammengesackt war und einen wirren Haufen bildete.

Darunter konnte alles Mögliche sein.

Oder nichts.

Als sie Tristan unbeholfen über die Kante klettern sah, krabbelte sie schnell hinterher. Die Holzplanken waren dick und stabil, aber sie mussten lange Zeit der Witterung ausgesetzt gewesen sein und Dylan vertraute nicht darauf, dass die Seile und Nägel halten würden. Sie zog ihre Knie an und ging mit dem Rücken zum Baumstamm in die Hocke. Ihr Blick fiel auf ein kurzes Holzstück in greifbarer Nähe und sie hob es auf, wild entschlossen, auf alles einzuprügeln, was auf sie zuschoss, während Tristan langsam und vorsichtig auf die Plane zuschlich.

Dort kauerte er sich nieder, streckte zögernd die Hand aus und packte die zerfransten Ränder des dicken Materials. Er hielt inne, die Plane in der Hand, und warf ihr einen Blick über die Schulter zu. Sie nickte, verlagerte ihr Gewicht, um besseren Halt zu finden, und umklammerte ihre improvisierte Waffe noch fester. Dann holte sie tief Luft.

Wenn jemand ein Pflaster mit einem Ruck abriss, dann Tristan. Zack, und fertig. Statt die Abdeckung vorsichtig beiseitezuschieben, zog er sie einfach zurück, um das, was sich darunter verbarg, ans trübe Tageslicht zu bringen. Dylan erhob sich halb, die Beine sprungbereit, dann erstarrte sie.

Die Plattform war leer.

Aber dort, in den Holzbrettern, traten tiefe Kratzspuren zutage und die Oberfläche glänzte in einem blutigen Rot, das ihr den Magen umdrehte. Während sie noch fassungslos hinstarrte, streckte Tristan die Hand aus und strich mit den Fingern über die Furchen im Holz. Als er seine Hand zurückzog, glänzten seine Fingerspitzen feucht.

»Ein Dämon«, flüsterte sie. Tristan hatte recht behalten.

»Wir kommen zu spät«, murmelte er, den Blick über das weite Land gerichtet, das hier und da zwischen den Bäumen durchschimmerte. »Er kann jetzt überall sein.«

Ihr Herz hämmerte so heftig in ihrer Brust, dass es wehtat.

»Und was machen wir jetzt?«, fragte sie.

Tristan gab keine Antwort.

Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3)

Подняться наверх