Читать книгу Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3) - Claire McFall - Страница 8

Kapitel 5

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»Schau nicht hin!«

»Mach ich doch gar nicht.«

»Ich weiß, dass …« Susanna drückte Jacks Hand. »Schau nicht hin.«

Schweiß tropfte ihr von der Stirn, ihre Kleidung klebte ihr an der Haut. Die Hitze war gnadenlos; kein noch so leiser Windhauch, der ihnen Erleichterung verschaffte. Obwohl das letzten Endes ein Segen war, denn zuvor hatte der Wind um sie herumgeheult, hatte den Sand vom Boden aufgewirbelt und nach ihnen geschleudert, scharfe Sandkörner, die ihnen die Haut zerkratzten und in Mund, Nase und Augen drangen.

Dafür war es mit zusammengekniffenen Augen einfacher gewesen, die Dämonen zu ignorieren.

Inzwischen war es Mittag, dem Stand der Sonne nach zu urteilen. Noch heißer wurde es also hoffentlich nicht, aber da der Boden den ganzen Morgen über die Sonnenglut gespeichert hatte, drohte der Nachmittag noch stickiger zu werden, wenn der festgebackene Sand seine Hitze auf sie abstrahlte.

Schatten gab es nicht. Nichts als trockene, rissige Erde, hügelig genug, um den Weg vor ihnen zu verbergen, und zackige Felsgipfel und herabgestürzte Trümmer, die aus unerfindlichen Gründen keine Schatten warfen. Im »normalen« Niemandsland, das ihr vertraut war, bedeuteten Schatten Gefahr, einen Ort, an dem vielleicht Dämonen lauerten. Hier rettete sie die teuflische rote Sonne – und verweigerte ihnen zugleich auch nur den Hauch eines Schattens, der ihnen die Chance geboten hätte, ihren gnadenlosen Strahlen zu entkommen.

»Ich brauche Wasser«, krächzte Jack neben ihr.

»Nein, brauchst du nicht«, erinnerte sie ihn. »Du bist tot. Deine Seele braucht weder Essen noch Wasser.«

»Also gut«, knurrte Jack. »Ich will Wasser. Besser so?«

Sein Atem ging in rauen, keuchenden Stößen, als der Hang, den sie erklommen, immer steiler wurde, bis alle Muskeln in Susannas Beinen sich schmerzhaft verkrampften.

»Verdammter Mist«, fluchte Jack weiter. »So heiß war mir in meinem ganzen Leben noch nicht.«

»Tröste dich einfach damit, dass das alles hier nicht echt ist«, riet sie ihm.

»Hä?«

»Es ist nicht die Wirklichkeit«, wiederholte sie. »Deine Haut brennt nicht wirklich, du bist nicht wirklich durstig. Und egal, wie erhitzt du dich fühlst, die Sonne wird dich nicht töten.« Sie lachte keuchend und fügte hinzu: »Hitzschläge gibt es im Niemandsland nicht.«

»Sag, was du willst – mir kommt es verdammt echt vor«, murrte Jack. »Und ich fühle mich hundeelend – so als würde ich jeden Moment sterben.«

Wie in aller Welt sollte er sterben, wenn er sowieso schon tot war? Susanna hütete sich natürlich, diesen Gedanken laut auszusprechen. »Du stirbst nicht«, sagte sie stattdessen. »Daran musst du dich halten und immer schön einen Fuß vor den anderen setzen. Und ja nicht die Dämonen ansehen!«

Das Letzte fügte sie hinzu, weil sie aus dem Augenwinkel sah, wie Jacks Hand sich unwillkürlich zur Faust ballte. Anscheinend juckte es ihn in den Fingern, einen der Dämonen, die auf ihre Köpfe herunterschossen, zu packen und auf den Boden zu knallen.

»Ich … versuche es«, brachte er zähneknirschend hervor. »Aber es fällt mir verdammt schwer. Die sind wie Wespen. Am liebsten würde ich eine Zeitung nehmen und sie alle totschlagen.«

»Das kannst du nicht«, sagte sie. »Wenn du auf sie reagierst, wenn du sie zur Kenntnis nimmst oder nur anschaust – dann kriegen sie dich. Wenn du sie dagegen ignorierst, sind sie nicht viel anders als deine Wespen. Lästig, aber harmlos.«

»Dich hat eben noch nie eine Wespe gestochen«, brummte Jack, weil er wie immer das letzte Worte haben musste.

Dabei schwitzte sie genauso wie er und war nicht in der Stimmung, ihm die Oberhand zu lassen.

»Kann schon sein«, fauchte sie. »Aber ich wurde viel öfter von Dämonen attackiert, als ich zählen kann, und das ist kein Vergnügen. Also ignorier sie einfach.«

Schweigen. Dann, so leise, dass es auch reine Einbildung sein konnte, murmelte Jack: »Tut mir leid.«

Susanna nahm seine Hand und drückte kurz seine Finger, bevor sie ihn wieder losließ. Sie hatte verstanden.

Nach einigen quälend langen Minuten erreichten sie die Hügelkuppe. Der Hang fiel auf der anderen Seite abrupt ab und sie zuckte zusammen, als sie den Schotter sah, der über die Steilhalde verteilt war. Mist. Das war ein riskanter Abstieg – sie würden den ganzen Weg hinunterschlittern.

Weiter unten stob plötzlich ein Dämon auf und schoss direkt auf sie zu. Sie kniff die Augen zusammen, aus Angst, dass sie es sonst nicht schaffen würde, ihn zu ignorieren, und spürte einen leichten Luftzug und einen scharfen Ritzer in ihrer Wange, als das Ding an ihr vorbeifegte. Wahrscheinlich würde es sich dem Schwarm anschließen, der ihnen schon den ganzen Morgen folgte.

Warum auch nicht?, dachte sie höhnisch. Willkommen im Pulk.

»So überlebst du das also?«, sagte Jack. Als sie sich überrascht zu ihm umdrehte, schaute er sie mit seinen grauen Augen forschend an. War das etwa Mitgefühl, was sie in seinem Gesicht las?

»Wie meinst du das?«

»Ich meine, überlebst du so die Dämonenangriffe? Indem du dir einredest, dass deine Verletzungen nicht echt sind?«

Im selben Moment schoss ein Dämon zwischen ihnen hindurch, um eine Reaktion zu erzwingen, aber Susanna konnte ihre Augen nicht von Jack abwenden, der sie bohrend anstarrte und auf eine Antwort wartete.

»Ja«, sagte sie, weil sie keinen Grund sah, warum sie es ihm verheimlichen sollte. »Es tut weh, aber ich sterbe nicht daran. Und irgendwann hört es auf. Ich muss einfach nur weiteratmen.« Sie schaute auf den Abgrund vor ihnen, um nicht länger seinen Blick halten zu müssen. »Das sage ich mir immer und immer wieder.«

»Und hilft es?«

Sie lächelte grimmig. Jacks Fragen trafen immer mitten ins Schwarze, darin war er unerreicht.

»Nein«, sagte sie. »Es hilft nicht.«

Sie wartete darauf, dass er eine spöttische Bemerkung über ihre tollen Ratschläge machte – die leider keine waren, wie sie gerade zugegeben hatte –, aber er seufzte nur.

»Das wird ein Schlauch, da runterzuklettern, oder?«

Susanna musste beinahe lachen – Jack hatte wieder mal den Nagel auf den Kopf getroffen –, obwohl es ganz und gar nicht lustig war. Sondern ein Schlauch.

»Ja«, gab sie zu.

Er seufzte wieder. »Also dann. Gehen wir.«

Das war Jack in Reinkultur. Durchbeißen, zurückschlagen. Weiterkämpfen. Aber sie wusste, dass er nicht weniger erschöpft war als sie, geistig wie körperlich. Was die beste Voraussetzung dafür war, Fehler zu machen.

Nur mit dem Unterschied, dass jeder Fehler hier seinen Untergang bedeuten konnte.

»Warte.« Sie streckte die Hand nach ihm aus und hielt ihn zurück. »Lass uns eine Pause machen.«

»Eine Pause?« Er lachte rau. »Sag bloß! Hast du vielleicht auch den Picknickkorb dabei?«

»Nein«, sagte sie mit geradezu übermenschlicher Geduld. »Aber lass uns einfach mal fünf Minuten durchatmen, ohne dass wir uns konzentrieren müssen. Das wird uns sicher helfen. Hier.« Sie drückte ihn mit eisernem Griff auf die Knie, hockte sich direkt vor ihn hin, beugte sich vor und legte ihren Kopf auf seine Schulter, die Augen geschlossen. Es dauerte einen Moment, aber schließlich gab Jack klein bei und ahmte ihre Haltung nach.

»So«, sagte sie schließlich leise. »Jetzt kannst du nichts sehen, selbst wenn du deine Augen aufmachst. Du kannst dich entspannen, nur eine Minute lang. Sie werden trotzdem auf uns herunterschießen, aber mehr auch nicht.«

Gezielt lockerte sie ihre Muskeln, rollte mit den Schultern, um die Spannung dort zu lösen. Es war unbequem, auf der hart gebackenen Erde zu knien, noch dazu mit den winzigen Steinchen, die sich in ihre Schienbeine bohrten. Aber wenigstens musste sie nicht die ganze Zeit ihren Blick kontrollieren, was den Druck in ihrem Kopf linderte, und das war eine Erlösung.

»Wie hat Dylan das nur allein geschafft?«, fragte Jack nach einer langen, stummen Minute.

»Ich weiß es nicht, wirklich«, murmelte sie. »Ich denke …« Sie dachte daran, was ihr an Tristan und Dylan sofort ins Auge gesprungen war – jenes unzerreißbare Band, das die beiden zusammenschweißte, die Liebe, die sie vereinte. »Wahrscheinlich war ihre Motivation stark genug.«

»Motivation? Boah, wenn’s danach geht – also, ich bin mehr als motiviert, nicht in dieser Hölle zu krepieren, das kannst du mir glauben. Dann besteht ja vielleicht noch Hoffnung.«

Susanna ließ ihn in dem Glauben. Sie wusste nur zu gut, was er meinte. Ein Dämon zu werden, das bedeutete den Tod seines Selbst, seiner Seele – nicht nur seines Körpers.

Zum … ach, wahrscheinlich Millionsten Mal quälten sie Gewissensbisse. Es wäre ein Zuckerschlecken gewesen, Jacks ursprüngliches Niemandsland zu durchqueren, verglichen mit dem hier.

»Jack …«

»Wenn du dich schon wieder entschuldigen willst, vergiss es. Kannste dir echt sparen.«

Susanna sog die Luft ein. Der Schmerz traf sie mit voller Wucht, wie ein Schlag unter die Gürtellinie, fast so, als hätte ein Dämon sie gerammt. Benommen taumelte sie zurück, wäre vielleicht gestürzt, wenn Jack sie nicht gehalten hätte, seine Hand sanft, aber fest in ihrem Nacken.

»Ich war einverstanden«, sagte er, immer noch knurrig. »Ich hab’s genauso verbockt wie du, also hör auf, dich deshalb fertigzumachen. Nur …« Er brach ab, drückte sie an sich und sein Griff verwandelte sich in eine Umarmung. »Ich meine, versprich mir einfach, dass du mich hier rausbringst.«

Das konnte sie nicht. Nicht hier, in dieser glühenden Wüste, wo die Dämonen jederzeit über sie herfallen konnten, wo ihnen noch tagelange qualvolle Kämpfe bevorstanden. Nein, versprechen konnte sie das nicht, machte es aber trotzdem.

»Ich verspreche es dir, Jack. Ich bring dich hier raus. Das schwöre ich.«

Sie blieben noch etwas länger, als sie eigentlich durften. Susanna wusste, wie riskant das war, konnte sich aber irgendwie nicht zum Weitergehen aufraffen, und Jack beschwerte sich nicht. Den ganzen Morgen hatten sie gekämpft, sich gezwungen, bei jedem Schritt und in jedem einzelnen Moment ihre Augen auf den Boden oder starr geradeaus gerichtet zu lassen, irgendwo in die Ferne, ohne etwas zu sehen. Und manchmal war ihr Blick sogar einen Herzschlag lang zu den Dämonen abgeglitten, die mit aller Gewalt ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen versuchten.

Susanna wusste nicht, warum das so war – warum die Dämonen nur angreifen konnten, wenn man sie direkt ansah, aber egal. Sie war dankbar für diese Chance, mochte sie auch noch so gering sein, Jack in einem Stück hier durchzubringen.

Ein einziger Morgen, und sie waren schon völlig erschöpft, körperlich wie geistig. Wie sollten sie nur den Nachmittag überstehen, geschweige denn tagelang in dieser Hölle ausharren? Sie brachte schon jetzt kaum noch die Kraft auf, ihren Kopf zu heben. Jacks Atem strich wie eine Liebkosung über ihre Schulter, seine Umarmung war wunderbar warm und tröstlich. Nein, sie konnte sich einfach nicht von ihm losreißen. Nur noch eine Minute, schwor sie sich. Eine winzige Minute

Endlich siegte die instinktive Angst davor, noch hier draußen herumzuirren, wenn es dunkel wurde. »Also gut, gehen wir.« Sie holte tief Luft. »Bist du bereit?«

»Nein«, murmelte Jack an ihrer Schulter. »Aber wir gehen trotzdem.«

Mühsam rappelten sie sich auf, immer noch einander zugewandt. Susanna wusste nicht, was Jack machte, aber sie ließ ihre Augen geschlossen. Hauptsache, sie konnte noch ein paar Sekunden lang das Gefühl auskosten, dass sie ihren Blick nicht bei jedem Blinzeln kontrollieren musste.

»Susanna«, sagte Jack endlich. Sie öffnete die Augen und sein Gesicht war direkt vor ihrem, nah genug, dass kein Dämon sich zwischen sie quetschen konnte.

Sie saugte seinen Blick förmlich ein, zog Kraft daraus. Schiefergrau, diese Augen, leicht verengt und kampfbereit. Als Jacks Seelenfahrerin waren seine Erinnerungen ein offenes Buch für sie und sie wusste, wie hart er sein Leben lang gekämpft hatte. Er war bereit. Sie musste nur vorangehen.

»Gut«, sagte sie und ihre Entschlossenheit, sich dieser Aufgabe zu stellen, wuchs mit jeder Sekunde. »Packen wir es an.«

Der Hang war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Nach einer Weile merkte sie, dass es einfacher war, wenn sie ihre Augen entspannte und auf nichts fokussierte, um die großen Trümmer nicht sehen zu müssen, die überall als heimtückische Stolperfallen herumlagen – oder die losen Kiesel, ganze Ströme davon, die unter ihren Füßen wegrollten und sie jeden Moment nach unten zu reißen drohten. Immer wenn sie den Halt verlor – und sie landete zweimal auf dem Hintern –, kämpfte sie erbittert dagegen an, ihren Blick scharfzustellen, sich zu orientieren, nach etwas zu suchen, das ihr wieder aufhelfen oder sie ins Gleichgewicht bringen konnte. In solchen Momenten schloss sie einfach die Augen und wartete darauf, dass sich eine rettende Hand nach ihr ausstreckte. Sie wartete nie vergeblich.

Natürlich machte sie auch dasselbe für Jack. Es war die einzige Chance, aus dieser Hölle herauszukommen – wenn sie zusammenhielten wie Pech und Schwefel.

Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3)

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