Читать книгу Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3) - Claire McFall - Страница 4

Kapitel 1

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Das kann doch nicht wahr sein! Entsetzt starrte Dylan auf ihr Abbild in dem bodenlangen Spiegel. Ihre Augen waren weit aufgerissen, mit dickem schwarzem Eyeliner umrandet und kunstvoll mit rauchgrauem Lidschatten geschminkt, der dezent schimmerte, wenn sie ihren Kopf hin und her bewegte. Ja, ihre Augen waren okay. Aber der Rest …

Ihr Haar war in alle Richtungen gezogen und gezwirbelt und stand wie ein Rattennest von ihrem Kopf ab. Mit dem blutroten Lippenstift, der auf ihren Mund geschmiert war, sah sie aus wie ein Vampir, der gerade einen schnellen Drink genommen hatte. Und dann das Kleid! Ein Taftkleid. Taft! Ein Wort, das sie noch nie gehört hatte, bis Joan sie in die Schnäppchenabteilung im großen Kaufhaus an der Sauchiehall Street schleppte. Es war der Horror, besonders dieser hässliche Pfirsichton, der sie wie einen zu lange gekochten Lachs aussehen ließ. Das Kleid hatte bauschige Ärmel und enge Bundfalten in der Mitte, die überall an den falschen Stellen zwickten. Der Rock sollte beim Gehen anmutig um ihre Beine schwingen, was er vielleicht auch tun würde, ohne diese Strumpfhose, die Joan ihr beim Ankleiden in die Kabine gereicht hatte. Das Elastan rieb sich an dem verdammten Taft und produzierte genug Elektrizität, um die halbe Stadt damit zu versorgen.

Einfach grässlich – sie schauderte so heftig, dass ihr Spiegelbild im Glas vibrierte. Und dabei war sie so glücklich gewesen, als ihre Eltern ihr gesagt hatten, dass sie heiraten würden und – was das Tollste war – dass sie auf der Hochzeit Brautjungfer sein durfte.

Aber das war vor dem Kleiderkauf gewesen.

»Oh, Schätzchen, du siehst wunderschön aus!« Großtante Gladys saß mit feucht schimmernden Augen in einem Sessel in der Ecke des Hotelzimmers und zerknüllte ein Taschentuch in ihren geschwollenen arthritischen Fingern. Dylan verdrehte innerlich die Augen. Aber okay, die alte Frau litt unter grauem Star, was ihre Geschmacksverirrung erklärte. Oder vielleicht war dieser Look in ihrer Jugend einmal der Burner gewesen. Irgendwann in der Steinzeit.

»Danke, Tante Gladys«, würgte sie hervor.

»Du bist das hübscheste Mädchen in der ganzen Stadt, meine Liebe.«

Dylan schnitt eine Grimasse. Eine heiße Röte überschwemmte ihren Ausschnitt und biss sich mit dem Farbton ihres Kleids. In dieser Aufmachung konnte sie unmöglich rausgehen. Auf keinen Fall.

Ein Klopfen an der Tür ließ sie zusammenzucken.

»Dylan, bist du fertig? Wird langsam Zeit.« Sie wirbelte zur Tür herum und starrte auf den glänzenden Messingknauf, der sich langsam drehte. »Sie warten alle auf …«

»Augenblick noch!«, kreischte sie hektisch. Der Knauf hörte auf, sich zu drehen, und die Tür blieb zu. Und jetzt? »Bin noch nicht ganz fertig, Tristan. Warte … warte noch …« Verzweifelt drehte sie sich zu Großtante Gladys um, aber von dieser Seite war keine Hilfe zu erwarten. Die alte Frau rückte gerade ihre Gehhilfe zurecht, um sich aus ihrem Sessel zu erheben, was eine ziemlich langwierige Angelegenheit zu werden versprach.

»Komm rein, Junge«, rief sie hinaus. Sie nannte ihn immer nur »Junge«, obwohl Tristan sich ihr in aller Form – und in voller Lautstärke – vorgestellt und Dylan sie schon mindestens dreimal darauf hingewiesen hatte.

Tristan öffnete die Tür und sie drehte sich schnell weg, in der Hoffnung, dass ihr sein Gesichtsausdruck erspart blieb, wenn er sie in diesem Outfit erblickte. Aber es half nichts, denn sie konnte ihn im Spiegel sehen, und ihre Augen suchten ganz automatisch seinen Blick. Was immer Tristan dachte, er ließ sich nichts anmerken. Seine Züge blieben komplett ausdruckslos, nur die Lippen zuckten leicht.

»Wow«, sagte er.

»Sprachlos, Junge, wie?«, johlte Großtante Gladys. »Da hast du es, meine Liebe, ich hab dir ja gesagt, wie umwerfend du aussiehst.«

»Und ob!«, stimmte Tristan zu. »Ich bin wirklich sprachlos.« Er grinste frech und sie brachte ein verschmitztes Lächeln zustande, das noch breiter wurde, als sie seine glänzenden Schuhe, die coole schwarze Anzughose und das knallblaue Hemd ins Auge fasste. So elegant hatte sie ihn noch nie gesehen, es stand ihm super. Vor allem das Hemd, das seine kobaltblauen Augen zum Strahlen brachte, und die zurückgekämmten blonden Haare, die ihm sonst wild in die Stirn hingen.

»Du siehst toll aus«, sagte sie bewundernd.

»Und jetzt weg da«, krächzte Großtante Gladys und schubste Tristan mit ihrer Gehhilfe beiseite, während sie mühsam und Schrittchen für Schrittchen zur Tür schlurfte. »Ich gehe an meinen Platz. Ach, und danke, Junge, aber bemüh dich nur nicht – ich brauche keine Hilfe. Bin ja schließlich erst zweiundneunzig!«

»Ich … ähm …« Tristan scharrte verlegen mit den Füßen, wusste offensichtlich nicht, wie er sich herausreden sollte. Dylan musste sich das Lachen verkneifen. Was sollte er auch machen? Er konnte Großtante Gladys ja nicht die Wahrheit sagen: dass der große Veranstaltungssaal unten einfach zu weit weg war. Das Band, das sie beide vereinte, würde an ihnen zerren, bis sie keine Luft mehr bekämen und sich vor Schmerzen krümmten. Es war schon schlimm genug gewesen, dass Tristan sich im Hotelzimmer nebenan – und somit außerhalb ihres Blickfelds – für die Hochzeit fertig machen musste, obwohl sie ja wusste, dass er da war.

Zum Glück erschien in diesem Moment Dylans Vater hinter Tristan.

»Tristan!« James schlug ihm zur Begrüßung auf die Schulter, vielleicht ein bisschen zu hart, Tristans schmerzlicher Grimasse nach zu urteilen. Erst jetzt fiel James’ Blick auf Dylan, aber sein Lächeln geriet nicht ins Wanken. An diesem Tag konnte ihm wohl nichts die Laune verderben, nicht einmal die Tatsache, dass seine Tochter wie eine überdimensionale Lachs-Meringe aussah. »Ich wollte nur fragen, ob du vielleicht Hilfe brauchst, um an deinen Platz zu kommen, Gladys«, sagte er. »Wir fangen bald an.«

»Na also«, brummte Großtante Gladys etwas besänftigt. »Wenigstens einer, der noch Manieren hat.« Mit einem angewiderten Blick in Richtung Tristan schlurfte sie davon, schwer auf ihre Gehhilfe gestützt, aber sie schlug ungeduldig James’ Hand weg, als er sie am Ellbogen zu fassen versuchte.

»Ich glaube, sie mag mich nicht«, sagte Tristan zu Dylan, sobald sie außer Hörweite war, denn trotz ihrer zweiundneunzig Jahre hatte Großtante Gladys Ohren wie ein Luchs.

»Na ja, sie findet auch, dass ich gut aussehe«, antwortete Dylan in lautem Bühnenflüsterton, »also würde ich auf ihr Urteilsvermögen nicht allzu viel geben.«

Das war Tristans Chance, ihr zu bestätigen, was sie bereits wusste – dass sie aussah, als wäre sie von einer hyperaktiven Fünfjährigen geschminkt worden. Und in dieser Aufmachung sollte sie vor fünfhundert Hochzeitsgäste treten!

»Ich finde, du siehst …« Er ließ erneut seinen Blick über ihr Outfit wandern und suchte angestrengt nach etwas Aufmunterndem, das er ihr sagen konnte, aber es fiel ihm offenbar nichts ein. »Also, du hast sehr schöne Augen.«

»Na toll«, fauchte sie und ihre »schönen Augen« wurden plötzlich feucht, was ihr gerade noch gefehlt hatte. Sie konnte doch hier nicht losheulen wie ein Baby. »Ich zieh mir einfach ’ne Papiertüte über den Rest, okay?«

»Da brauchst du aber ’ne große Tüte«, stellte Tristan nachdenklich fest.

Einen Augenblick starrte sie ihn entgeistert an, dann lachte sie.

Und boxte ihn in die Rippen.

»Sehr aufmunternd«, sagte sie mit gespielter Entrüstung.

»Ich tu mein Bestes.« Tristan grinste breit. Dann wurde er wieder ernst und nahm ihre linke Hand in seine. »Ehrlich, für mich bist du immer schön, egal was du anhast«, sagte er, »und wenn du in einer Papiertüte rumläufst. Und außerdem, falls ich dich daran erinnern darf: Das hier ist der große Tag deiner Mutter und nicht deiner. Alle werden nur Augen für Joan haben, glaub mir.«

»Ja, genau.« Sie warf ihm einen zweifelnden Blick zu. »Ich verschmelze einfach mit dem Hintergrund.« Obwohl sie in ihrem Riesenpfirsich-Outfit absolut unübersehbar war. »Wenn ich Glück habe, passe ich perfekt zur Tapete oder zu den Vorhängen. Und wenn ich an der richtigen Stelle stehe, löse ich mich einfach in Wohlgefallen auf.«

»Na bitte, das ist die richtige Einstellung!« Tristan beugte sich grinsend vor und küsste sie leicht auf die Stirn.

Genau in diesem Moment ging die Tür auf der anderen Flurseite auf und Tante Rachel kam im Rückwärtsgang heraus, pfirsichfarbenes Hinterteil voran, was nicht gerade vorteilhaft für ihre Figur war. Aufgeregt gluckte sie um etwas herum, dann trat sie beiseite und gab den Blick auf Joan frei, die jetzt in den Flur trat. Dylan schnappte nach Luft. Ihre Mum trug sonst meistens ihre gestärkte marineblaue Schwesternuniform, während sie zu Hause in bequemen Sachen herumlief und ihre Figur mit einer Reihe von hässlichen Strickjacken verschandelte.

Und jetzt diese Verwandlung!

In ihren High Heels war sie mehrere Zentimeter größer als sonst. Ihr cremefarbenes Satinkleid schmiegte sich im Wickel-Look vom Ausschnitt bis zu den Knien nahtlos um ihren schlanken Körper. Ein einziger schmaler Träger zog sich um ihren Nacken und verschwand in der schönen perlenbesetzten Spitze, die den Rückenausschnitt säumte.

In den Händen hielt sie ein zartes Rosensträußchen, von weißem Schleierkraut umhüllt.

»Mum!« Dylan schlug sich die Hand vor den Mund und spürte zu ihrer Überraschung, wie ihr die Tränen in die Augen schossen.

»Oh nein, wage es nicht!« Joan drohte mit einem Finger in Dylans Richtung, ihr Nagel schimmerte in einem sanften Perlmutt-Ton. »Oder willst du, dass ich auch noch anfange?«

Aber es war bereits zu spät. Joan schnappte sich das Taschentuch, das Tante Rachel ihr hinhielt, und tupfte hektisch an ihren Augen herum.

»Das ist kein Tag zum Weinen«, bemerkte Tante Rachel tadelnd. Ihre Augen waren trocken, die Lippen leicht gekräuselt.

»Oh, bitte«, schoss Joan zurück. »Soweit ich mich erinnere, hast du dich bei deiner Hochzeit eine Stunde lang im Badezimmer eingeschlossen und geheult wie ein Schlosshund, weil deine Frisur nicht richtig saß.«

Tante Rachel öffnete den Mund und funkelte Joan entrüstet an, brachte aber keinen Ton heraus. Dylan war an die Sticheleien der beiden Schwestern gewöhnt und zuckte nur mit den Schultern, obwohl sie wusste, dass es jederzeit in ernsthaften Streit ausarten konnte.

Aber Joan hatte sich durch den kleinen Schlagabtausch offenbar wieder gefangen, denn sie richtete sich schniefend auf und strahlte Dylan an. »Also – sind wir bereit?«

Dylan schaute wieder an ihrem Brautjungfern-Outfit herunter und wusste, dass sie nie bereit sein würde, aber Tristan hatte recht: Es war Joans Tag und nicht ihrer.

»Müsstest du nicht an deinem Platz sein?«, sagte Tante Rachel zu Tristan, mit einem scharfen Unterton in der Stimme, der verriet, dass ihr Ärger über Joans Retourkutsche noch nicht wirklich verraucht war.

»Rachel, Tristan begleitet meine Tochter«, fauchte Joan.

In den letzten Wochen war sie viel nachsichtiger gegenüber Tristan geworden, auch wenn es ihr im Moment wohl eher darum ging, ihrer Schwester über den Mund zu fahren, als den Freund ihrer Tochter zu verteidigen.

Schweigend fuhren sie mit dem Lift ins Erdgeschoss des Hotels hinunter und durchquerten das pompöse Foyer zum Veranstaltungssaal. Die Flügeltür war geschlossen, weiße Tüllschleifen rahmten sie ein, zierten auch die Türgriffe. Ein Hotelangestellter im eleganten Anzug wartete auf sie, um sie in den Saal zu führen.

»Perfektes Timing«, sagte er lächelnd. »Wir sind gleich so weit.«

Joan nickte und Dylan sah, wie sich die Anspannung im Gesicht ihrer Mum löste und einem erwartungsvollen Lächeln wich, sodass sie um Jahre jünger aussah. Wieder kamen Dylan die Tränen und sie umklammerte ihr Blumenbouquet, eine kleinere Version von Joans Brautstrauß, noch fester. Das hier war kein Traum, es passierte wirklich: Ihre Eltern heirateten und endlich wurden sie eine richtige Familie. Tristans Hand, die sich warm auf ihren Rücken legte, gab ihr vollends den Rest, obwohl er das bestimmt nicht gewollt hatte. Aber dass er da war, wirklich da war – hier, direkt neben ihr –, trieb ihr von Neuem die Tränen in die Augen.

Tante Rachel seufzte und Dylan funkelte sie drohend an. Wenn sie jetzt etwas sagte, das ihrer Mum diesen einzigartigen Moment verdarb, würde sie ihr das nie verzeihen … Aber Tante Rachel sah nicht mehr wütend, sondern wehmütig aus. »Ein Jammer, dass Dad nicht da ist und dich zum Traualtar führen kann«, sagte sie leise.

Joans Strahlen erlosch einen Moment, plötzlich sah sie sehr traurig aus. Aber dann fiel ihr Blick auf Dylan und sie fing sich wieder. »Alles gut«, sagte sie. »Ich habe ja meine Tochter, die mich begleitet, was brauche ich mehr?«

Joan hatte keine Ahnung – nicht den blassesten Schimmer –, dass sie ihre Tochter beinahe verloren hätte. James wusste einiges darüber, doch vor Joan hatten sie die Geschichte geheim gehalten – wie Dylan gestorben war, wie sie sich mühsam ins Leben zurückgekämpft und was sie alles in Kauf genommen hatte, um hierbleiben zu können. Joans Worte berührten Dylan tiefer, als sie es je für möglich gehalten hätte. Sie schniefte leise, versuchte, den Kloß in ihrer Kehle hinunterzuschlucken.

»Danke, Mum«, krächzte sie.

Joan lächelte ihr zu, dann schwenkte sie ihre Hand herum. »Vorne und Mitte, mein Schatz«, sagte sie. »Du gehst voran.«

Dylan ging zu der geschlossenen Tür voran, durch die bereits die ersten Takte des Hochzeitsmarsches drangen. Tristan, der neben ihr stand, würde gleich unauffällig an seinen Platz huschen, wenn die Hochzeitsgesellschaft den Gang entlangschritt.

Die Aufregung drohte sie zu überwältigen und sie musste tief Luft holen. Als die Tür aufging, drehten sich die versammelten Gäste neugierig um und schauten ihnen entgegen. Starrten Dylan an, die wie angewurzelt in ihrem protzigen pfirsichfarbenen Taftkleid in der Tür stand. Hundert Augenpaare waren auf sie gerichtet und vor ihr lag der endlos lange Mittelgang.

»Oh Gott«, flüsterte sie so leise, dass nur Tristan sie hören konnte. »Das ist die Hölle!«

Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3)

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