Читать книгу Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3) - Claire McFall - Страница 6

Kapitel 3

Оглавление

»Tristan, bist du jetzt endlich fertig?« Dylan musste ihn so direkt fragen, weil alles Seufzen, Schnauben und Herumwirbeln auf ihrem Stuhl nichts geholfen hatte. Er wollte einfach nicht einsehen, dass sie sich halb tot langweilte.

»Ähm … ja«, murmelte Tristan, ohne vom PC aufzusehen. Sein Finger lag auf der Maus, klick, klick, klick, während er sich durch die Website scrollte, die er gerade studierte.

»Im Ernst, Mrs Lambert wirft uns jetzt bestimmt bald raus. Sogar die Putzkolonne ist schon weg!« Sie rollte auf ihrem Stuhl zu ihm hinüber. »Was schaust du dir da überhaupt an?«

Seit der Mittagspause saßen sie in der Bibliothek, wo ihr Geschichtslehrer die Computertische für ihre Doppelstunde am Nachmittag reserviert hatte – die Klasse sollte über den Sklavenhandel im Amerika des achtzehnten Jahrhunderts recherchieren. Inzwischen war es fast siebzehn Uhr und sie wollte endlich aus der muffigen Luft herauskommen, und aus der beklemmenden Atmosphäre, die Mrs Lambert verbreitete – die unfreundlichste Schulbibliothekarin der Welt (die vielleicht auch für diesen Geruch verantwortlich war).

Außerdem wälzten sich seit einer Viertelstunde dicke schwarze Wolken über den Himmel, und wenn sie nicht bald aufbrachen, würden sie auf dem Heimweg klatschnass werden.

»Nur die Nachrichten«, murmelte Tristan. Er klickte einen anderen Link an.

»Die Nachrichten? Das können wir doch zu Hause machen, Tristan. Wo es eine Couch gibt, verstehst du, und Fernsehen und einen Kühlschrank – und wo es nicht so krass riecht.« Ungehalten fügte sie hinzu: »Du kannst meinen Laptop nehmen. Oder dein Telefon. Oder Dads Tablet.«

»Tut mir leid«, sagte Tristan, aber er klang kein bisschen zerknirscht. »Bin gleich fertig, ich schwöre es.« Er drehte sich zu ihr um, während der PC die Seite lud, und lächelte entschuldigend. Sie lächelte zurück, wenn auch etwas säuerlich, dann schaute sie auf den Bildschirm, überflog die Schlagzeile und …

»Was zum Teufel ist das?«

Auf dem Bild war fast nichts zu erkennen. Sie konnte nur vier Hufe ausmachen, der ganze Rest war eine einzige undefinierbare Masse aus zerfetzter Haut, Haaren und Muskeln. Ihr wurde fast schlecht davon und sie lehnte sich unwillkürlich zurück, während sie die Überschrift las.

PFERD GRAUENHAFT VERSTÜMMELT

BAUER FASSUNGSLOS

»Also, das hier war mal ein Pferd«, murmelte Tristan.

Was sie natürlich schon der reißerischen Schlagzeile entnommen hatte. Aber abgesehen von den vier Hufen deutete nichts darauf hin, dass diese blutige Masse einmal ein Pferdekörper gewesen war – mit Beinen, Rumpf und Kopf.

»Wie ist das passiert?« Dylan hätte den Artikel lesen können, war aber nicht fähig, ihren Blick von dem Bild abzuwenden.

»Das ist es ja gerade«, sagte Tristan. »Niemand weiß, wer es so zugerichtet hat. Oder was«, fügte er vielsagend hinzu.

Sie sah ihn an, dann wieder das Bild. Nein. Unmöglich. Das konnte einfach nicht sein. Nicht schon wieder.

Eine eisige Angst kroch in ihr hoch, sosehr sie sich auch gegen den Gedanken wehrte.

»Wo ist das passiert?«, würgte sie hervor.

»Hier.« Tristan hatte bereits eine Karte von Google Maps hochgeladen. Er zeigte auf den kleinen roten Punkt in der Mitte. »Direkt außerhalb eines Orts namens Kilsyth.«

»Kilsyth?« Die Kälte, die sich in ihrem Magen eingenistet hatte, löste sich auf, sobald sie sah, wo der Ort lag. Ihr Verstand schaltete sich wieder ein und drängte die Panik zurück. Kilsyth war ein kleines Dorf in der Nähe von Cumbernauld – meilenweit von dem Tunnel entfernt, in dem sie ihr Leben verloren hatte, oder von Denny, wo Jack gestorben war. Erleichtert stieß sie die Luft aus. »Das kann kein … du weißt schon … gewesen sein.« Mrs Lambert saß zu weit weg, um sie zu hören, und sonst war niemand in der Bibliothek. Trotzdem sträubte sich alles in ihr dagegen, das Wort laut auszusprechen. »Oder? Das ist doch viel zu weit weg – von beiden Löchern.«

Die sie ja außerdem geschlossen hatten. Und kein Dämon war imstande, den Schleier zu durchbrechen, der die Welt der Lebenden vom Niemandsland trennte.

»Das stimmt«, sagte Tristan leise. Er klickte die Karte weg und das arme tote Pferd ploppte wieder auf dem Bildschirm hoch.

»Das muss ein wildes Tier gewesen sein, oder vielleicht eine durchgeknallte Hundemeute. Ich meine, es gibt doch so abartige Typen, die Pitbulls und andere Kampfhunde zum Töten abrichten.« Beschwörend fügte sie hinzu: »Das wäre jedenfalls viel naheliegender, Tristan, ehrlich«, weil ihr etwas in Tristans Gesicht verriet, dass er nicht daran glaubte, obwohl er die ganze Zeit zustimmend nickte. »Komm jetzt«, drängte sie, wollte nur noch weg, weg von dem Bild, den traurigen Überresten des Pferdes, das auf so grauenhafte Weise gestorben war. Es drehte ihr fast den Magen um, wenn sie nur daran dachte, wie viel Angst das arme Tier ausgestanden haben musste, wie es vergeblich zu fliehen versucht hatte …

Tristan erhob keine Einwände und loggte sich schnell aus dem PC aus. Er blieb stumm, als sie die Bibliothek verließen, blieb stumm auf dem ganzen Weg durch das verlassene Schulgebäude, schwieg auch dann noch, als sie die Halle erreichten, wo im Büro bereits alle Lichter gelöscht waren, sodass eine gespenstisch leere Atmosphäre herrschte.

Erst beim Haupteingang, wo sie unter der Überdachung stehen blieben, um in den trommelnden Regen zu starren, der jetzt vom bleiernen Himmel fiel, machte er den Mund auf. Er drehte sich zu Dylan um, ein verschmitztes Lächeln im Gesicht. »Ups«, sagte er.

Es wurde ein langer Heimweg. Der Regen ließ nicht nach und es war schon fast dunkel, als sie gegen halb sechs nach Hause kamen. Oder vielmehr in ihr vorläufiges Zuhause. Ein großes, hässliches »ZU VERKAUFEN«-Schild hing in Dylans Schlafzimmerfenster. James hatte auf einem neuen Zuhause bestanden – einem richtigen Haus diesmal –, wo sie wirklich neu anfangen konnten. Aber solange die Wohnung noch nicht verkauft war, mussten sie weiterhin die Treppe in diesem Gebäude hinaufsteigen und den Absatz überqueren, auf dem Tristan zusammengebrochen war. Wo ihre Wunden immer wieder neu aufbrachen, sobald er sich zu weit von ihr entfernte. Das Blut, das an diesem Tag geflossen war, war natürlich längst weggeschrubbt und trotzdem schauderte sie jedes Mal, wenn sie an dieser Stelle vorbeikam. Das war einer der Gründe, warum sie den Umzug kaum noch erwarten konnte.

Von James und Joan keine Spur, als sie hereinkamen. Das überraschte sie nicht. Obwohl ihre Eltern jetzt verheiratet waren, »dateten« sie sich weiterhin, trafen sich im Kino und im Theater oder zum Abendessen in einem teuren Restaurant oder einem der vielen Pubs im West End. Sie hatte nichts dagegen, dass ihre Eltern sich amüsierten – besonders natürlich, weil sie auf diese Weise ungestört mit Tristan zusammen sein konnte, was kein schlechter Nebeneffekt war. So wie an diesem Abend wieder.

»Ich muss mich erst mal umziehen – sogar die Unterwäsche«, jammerte sie, während sie ihre wasserdichte Jacke abstreifte. »Ich bin nass bis auf die Knochen!«

»Tut mir leid«, sagte Tristan zerknirscht. Seine Jacke, die neuer war als ihre, hatte sich im Regen erheblich besser bewährt, aber auf seiner Hose zeichneten sich riesige dunkle Flecken ab, dort, wo der Regen den Stoff durchtränkt hatte. Tristan kickte seine Schuhe von den Füßen und grinste sie spitzbübisch an. »Ich mache es wieder gut, Ehrenwort.«

Dann verschwand er in ihrem Schlafzimmer.

Sie starrte ihm einen Augenblick nach, aber als dann Musik durch die offene Tür herauswehte, gab sie sich einen Ruck und zerrte hastig an ihren Stiefeln, die einfach nicht abgehen wollten. Am Ende flutschten sie samt den Socken von ihren Füßen, aber da sowieso alles tropfnass war, ließ sie die Stiefel einfach im Flur stehen und lief barfuß in ihr Zimmer.

Tristan hatte sich bereits auf ihr Bett geworfen, aber das war nicht der Grund, warum sie abrupt stehen blieb. Er hielt etwas in der Hand – einen großen Papierblock, dessen blaues Deckblatt mit kunstvoll ineinander verschlungenen schwarzen Wirbeln verziert war. Sein Zeichenblock, den er ihr noch nie, nie gezeigt hatte.

Es hatte sie fast in den Wahnsinn getrieben, dass sie nicht sehen durfte, was er zeichnete, wenn er sich mit seinem Block in einer Ecke verschanzte. Anscheinend war es ihm peinlich, ihr seine Zeichnungen zu zeigen, und obwohl sich ein paarmal die Gelegenheit ergeben hatte, einen Blick darauf zu werfen, hatte sie der Versuchung tapfer widerstanden.

Tristan hatte nie etwas Eigenes besessen, er hatte nie die geringste Privatsphäre gehabt. Seine Heimlichkeiten zu respektieren, war also das Mindeste, was sie für ihn tun konnte.

Aber ehrlich, was hatte es sie in den Fingern gejuckt! Der Block lag auf ihrem obersten Regelbrett (das sie Tristan überlassen hatte, weil sie sowieso nicht herankam, ohne auf einen Stuhl zu steigen) und stachelte Tag und Nacht ihre Neugier an. Es war, als flüsterte er ihr zu: Na, was ist? Jetzt wäre der Moment! Eine fast unwiderstehliche Versuchung.

Bildende Kunst war eine ganz neue Entdeckung für Tristan. Sie selbst hatte Kunst in der Schule abgewählt, sobald es möglich war – sie konnte weder zeichnen noch malen. Aber Tristans Augen hatten aufgeleuchtet, als sie ihm ein Malset zu Weihnachten geschenkt hatte. Er war sofort in seinem Element gewesen … glaubte sie jedenfalls. Sie hatte keine Ahnung, ob er gut war oder nicht, aber das war auch egal – Hauptsache, es machte ihm Spaß.

Trotzdem war sie natürlich neugierig.

Tristan tippte einmal, zweimal mit den Fingern gegen die Spiralbindung, bevor er ihr den Block hinhielt. »Hier«, sagte er. »Deine Belohnung.«

»Im Ernst?« Mit gespielter Überraschung zog sie die Augenbrauen hoch. »Heißt das, ich darf es anschauen?«

»Ja.«

Damit er nicht doch noch einen Rückzieher machen konnte, verzichtete sie auf trockene Kleider und setzte sich neben ihn aufs Bett, wie sie war. Behutsam nahm sie den Block und schlug das Deckblatt zurück, um die erste Zeichnung zu bewundern.

Ein Porträt. Ihr eigenes Gesicht starrte ihr entgegen. Die Augen, die das ganze Bild beherrschten, schauten unter langen, geschwungenen Wimpern hervor. Die Lippen waren zu einem leichten Lächeln gekräuselt, das sie spöttisch, ja geheimnisvoll aussehen ließ. Und hübsch. Auf dieser Zeichnung war sie richtig hübsch.

Als sie hochsah, ruhten Tristans Augen auf ihr. Es fiel ihr schwer, seinem prüfenden Blick standzuhalten, aber sie versuchte es, gab ihr Bestes, sich ihre Verlegenheit nicht anmerken zu lassen. Gegen die Röte in ihren Wangen konnte sie allerdings nichts ausrichten.

Mit leicht zitternden Fingern schlug sie das Blatt zurück, um die nächste Zeichnung anzusehen, die mit Kohlestift angefertigt war. Ein Profilbild von ihr, wie sie dastand und auf etwas außerhalb der Zeichnung starrte. Die Haare fielen ihr in langen, verschlungenen Wellen über den Rücken.

Dann das nächste Blatt. Nächstes Bild. Sie selbst im Rollstuhl, mit finsterem Gesicht, wutentbrannt an ihrem Gips herumzerrend. Die Umrisse des Rollstuhls waren leicht verschoben, die Perspektive nicht ganz stimmig, aber der bockige Ausdruck in ihrem Gesicht war unverkennbar.

Die nächste Zeichnung zeigte nicht sie, sondern ihre Eltern, die Seite an Seite auf dem abgewetzten alten Sofa saßen. Joan starrte geradeaus – wahrscheinlich auf den Fernseher – und James sah Joan an. Der Ausdruck in seinem Gesicht war … na ja, nicht anders, als sie ihn schon viele Male gesehen hatte – sehnsüchtig, voller Liebe, zuversichtlich. Tristan hatte ihn perfekt eingefangen.

Die nächste Seite zeigte kein richtiges Bild, sondern bestand aus sechs flüchtig hingeworfenen Skizzen von …

»Ist das mein Ohr?«, fragte sie und legte verwirrt ihren Kopf zur Seite. Dass es ihr Ohr war, hätte sie nicht unbedingt erkannt – ein Ohr ist ein Ohr, oder? –, wenn nicht der kleine Gänseblümchenohrstecker darin gewesen wäre.

»Ähm, ja.« Tristan griff herüber, um ihr den Block wieder abzunehmen, aber sie zog ihn schnell aus seiner Reichweite.

»Nein, warte«, sagte sie. »Ich bin noch nicht fertig.«

Sie schlug das nächste Blatt auf und sah sich selbst, lachend. Ihre Augen waren zusammengekniffen, ihr Kinn auf eine nicht besonders attraktive Weise nach unten gedrückt, aber sie lächelte trotzdem. Das Bild strahlte eine ansteckende Lebensfreude aus.

»Die sind wirklich gut, Tristan«, sagte sie leise, als ihr bewusst wurde, dass sie die ganze Zeit über stumm geblieben war, abgesehen von dem Kommentar über ihre Ohren. An Tristans Stelle hätte sie schon minutenlang herumgezappelt, als wären ihr Ameisen in die Hose gekrochen, und ungeduldig auf sein Urteil gewartet. »Ich meine, die sind wirklich, wirklich gut. So lebensnah.« Das nächste Blatt war leer, markierte den Beginn der künftigen Produktion und sie blätterte zu den bereits gesehenen Skizzen zurück. »Wie hast du nur die Details so genau hinbekommen? Du kannst das alles doch nur ein paar Augenblicke gesehen haben.«

»Ich weiß nicht.« Tristan zuckte mit den Schultern. Er griff wieder nach dem Block und diesmal ließ sie es zu. »Hab einfach was gesehen, das mir gefallen hat, und später hab ich’s nach der Erinnerung gezeichnet.«

»Dann bist du ein guter Beobachter«, bemerkte sie.

»Klar, darin hab ich Übung«, erinnerte er sie. »Nachts, im Niemandsland, gab es nicht viel mehr zu tun, als dazusitzen und zu schauen.«

»Stimmt«, sagte sie leise. Sie dachte nicht gern an die Zeit, in der Tristan eine Seele nach der anderen durch das Niemandsland führen musste, gefangen in diesem nie endenden Kreislauf. Oder nein, nicht »nie endend«. Er war jetzt hier, bei ihr. Er war diesem Leben entronnen.

Sie schaute zu, wie er zum ersten Bild zurückblätterte. Die Zeichnung von ihrem Gesicht, das zu ihnen beiden aufschaute.

»Warum jetzt?«, fragte sie leise. »Warum hast du mir das alles heute gezeigt?«

Tristan zuckte mit den Schultern. »Ich wollte nur …« Er schlug ein anderes Blatt auf, das Bild von Dylan im Rollstuhl. »Im Niemandsland gab es nur uns beide. Aber hier sind so viele Leute, so viele Ablenkungen.« Er klappte den Block zu und legte ihn beiseite, um seine volle Aufmerksamkeit auf sie zu richten. »Du sollst wissen, dass ich dich immer noch sehe. Dieses Leben, diese Welt, das alles ist fantastisch, aber nur, weil ich es mit dir teilen kann.«

Sie öffnete den Mund, brachte aber kein Wort heraus. Was sollte sie auf eine solche Erklärung auch antworten? Große Worte waren nie ihr Ding gewesen.

»Ich liebe dich«, stieß sie schließlich hervor.

Tristan grinste und strich ihr eine ihrer nassen Haarsträhnen hinters Ohr. »Ich weiß«, sagte er. »Ich liebe dich auch.«

Dann küsste er sie, sein Mund heiß auf ihrem, und zog sie in seine Arme, bis sie ganz von feuchtem Stoff umhüllt war. Sie schloss die Augen und überließ sich seiner Umarmung. Das zerfetzte Pferd war nur noch eine tragische Geschichte, die sie einfach aus ihren Gedanken gleiten ließ.

Sie waren zusammen, in Sicherheit. Das konnte ihnen nichts und niemand nehmen.

Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3)

Подняться наверх