Читать книгу Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3) - Claire McFall - Страница 5

Kapitel 2

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»Das ist die Hölle.« Jack stand an der offenen Tür des Schutzhauses und blickte finster auf den Dämonenschwarm, der draußen herumwirbelte. Das blutige Rot der Sonne, das am Himmel glühte, tauchte sein Gesicht in ein gespenstisches Licht. Seine Augen waren wie dunkle Schächte unter den gerunzelten Brauen.

»Mach die Tür zu«, sagte Susanna halb streng, halb schuldbewusst, wie immer, wenn ihre Gewissensbisse sie einholten, was praktisch pausenlos der Fall war, seit sie in diesem elenden Versteck herumsaßen. »Und schau nicht hin.«

Sie setzte sich auf das abgewetzte Sofa, möglichst weit weg von der Tür. Also nicht sehr weit in diesem winzigen Verschlag, der aus vier nackten Steinwänden, einem Strohdach und einem einzigen Raum bestand. Keinerlei Rückzugsmöglichkeiten, keine Chance, einander zu entkommen. Das Sofa war das einzige größere Möbelstück, abgesehen von einem wackligen Küchenschemel, der als Sitzplatz diente. Wenn sie stritten – was in dieser Enge unvermeidlich war –, konnten sie sich nicht ausweichen. Ein einziger Schritt über die Türschwelle hätte Höllenqualen für Susanna bedeutet, denn die allgegenwärtigen Dämonen wären sofort über sie hergefallen.

Ganz zu schweigen von Jack, auf den etwas weitaus Schlimmeres als der Tod gewartet hätte.

Es war ein jämmerliches Leben, das sie hier führten, seit … sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit der Inquisitor sie ins Niemandsland zurückverbannt hatte. In das wahre, ungeschönte Niemandsland, das in blutiges Rot getaucht war und wo die Dämonen auch bei Tageslicht jeden Eindringling verschlingen konnten, der so dumm war, sich hineinzuwagen.

Die Rückwand des Schutzhauses war von oben bis unten mit eingeritzten Strichen bedeckt. Jeder einzelne davon markierte einen weiteren Tag, den sie in ihrem Niemandsland-Gefängnis überstanden hatten. Susanna hatte inzwischen den Überblick verloren und es waren zu viele Striche, um sie auf einen Blick erfassen zu können, obwohl seit Tagen keine neuen dazugekommen waren.

»Jack, mach die Tür zu«, wiederholte sie.

Jack verzog nur den Mund – noch immer sträubte sich alles in ihm dagegen, Befehle von ihr entgegenzunehmen – und beugte sich weiter vor. Einen schrecklichen Augenblick lang dachte sie, er würde es tatsächlich durchziehen – würde aus der Tür treten, um dieser ausweglosen Lage ein Ende zu bereiten. Aber er wartete nur ab, bis die Dämonen ihn spürten und gierig loskreischten, dann sprang er zurück und knallte die Tür mit dem Fuß zu.

»Mach das nicht noch mal«, herrschte sie ihn an, als er zu ihr herüberstolzierte und sich neben sie setzte. »Du bringst sie nur noch mehr in Rage.«

»Viel wütender können sie nicht mehr werden«, gab Jack zurück. Das wilde Zischen und Fauchen, das durch die Tür drang, bestätigte seine Worte. »Und es lenkt mich wenigstens mal ab.«

Sie seufzte. Jack hatte ja recht: Die Langeweile war das Schlimmste.

Sie brauchten keine Nahrung, kein Wasser, aber irgendwann mussten sie hier raus, wenn sie nicht vor Langeweile den Verstand verlieren wollten.

Wie viele Tage konnte es noch dauern, bis Jack seine Drohung wahr machte und tatsächlich über die Schwelle trat?

Susanna holte tief Luft. Es war Zeit, Klartext zu reden, aber Jack kam ihr zuvor.

»Ich habe nachgedacht«, sagte er und starrte auf den Boden. Susanna klappte ihren Mund wieder zu. Jack war ihrem Blick noch nie ausgewichen, hatte noch nie so unsicher, so zögerlich gewirkt.

»Worüber?«, fragte sie, als er verlegen am Saum seines T-Shirts herumzupfte.

»Ich glaube …« Er nahm einen tiefen Atemzug und stieß die Luft wieder aus. »Ich glaube, wir sollten es einfach probieren.«

»Was? Du meinst …«

Jacks Blick schnellte zu ihr hoch und sie konnte sehen, was er zu verbergen versuchte. Er kämpfte darum, sein übliches Pokerface aufrechtzuerhalten – und verlor. Um Haaresbreite.

»Wir können nicht ewig hierbleiben«, sagte er.

»Doch, können wir«, widersprach sie.

»Nein, können wir nicht.« Er funkelte sie an, gab ihr zu verstehen, dass er keinen Widerspruch duldete, und sie hielt den Mund. »Wir ziehen es einfach durch. Irgendwie werden wir’s schon schaffen. Und wenn nicht …« Er zuckte mit den Schultern.

»Wenn nicht, wirst du einer von denen da«, erinnerte sie ihn und nickte zum Fenster, vor dem noch immer die Dämonen herumschwärmten.

»Du auch«, schoss Jack zurück.

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich nicht. Ich muss in meinen alten Job zurück und werde zur nächsten Seele weitergeschickt. Die Dämonen können mich verwunden, aber nicht töten. Mich können sie nicht hinunterziehen und zu einem der Ihren machen. So wie dich.«

Jack zuckte wieder mit den Schultern, wie um ihre Worte abzuschütteln. Er schnaubte verächtlich, presste seine Kiefer zusammen und richtete sich kerzengerade auf. Plötzlich war es wieder voll da, sein altes Machogehabe, das ihm in den langen Tagen und Nächten im Schutzhaus abhandengekommen war.

»Na und? Es kommt doch sowieso, wie es kommt.«

»Jack …«

»Wenigstens bist du dann frei.«

Sie blinzelte, glaubte, sich verhört zu haben.

»Was?«, fragte sie.

»Du bist dann frei«, wiederholte Jack und sie spürte, wie angespannt er war. »Wenn ich es schaffe, na ja … super. Wenn nicht, bist du wenigstens hier raus, oder?«

Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. »Nein«, fing sie langsam an. »Ich bin dann nicht frei. Ich muss wieder als Seelenfahrerin arbeiten, so wie früher.«

»Aber du kommst hier raus.«

»Ja«, räumte sie ein. »Das schon.« Heraus aus diesem Käfig, ihrem einzigen sicheren Ort in der Hölle des wahren Niemandslands. Weg von Jack und diesen verdammten Schuldgefühlen, die sie überrollten, sobald sie ihn auch nur ansah.

Aber dann würde sie in jedem Dämon Jack sehen, ohne zu wissen, ob nicht vielleicht doch noch ein Fünkchen von ihm in der Kreatur weiterlebte, die sie angriff, um an ihre neue Seele heranzukommen. Sie würde sich die ganze Zeit fragen, ob Jack leiden musste, ob er ihretwegen Höllenqualen auszustehen hatte. Und wer weiß, vielleicht würde er seine Chance nutzen, um sich ein bisschen an ihr zu rächen? Susanna unterdrückte ein Kichern bei dieser Vorstellung.

»Was ist?«, fragte Jack, der sie mit schief gelegtem Kopf anstarrte. »Ich will mitlachen.«

Es war ein schelmischer Blick, der ihn viel jünger und netter aussehen ließ. Die harten, verkniffenen Linien, die sein Gesicht oft so böse machten, lösten sich. Susanna konnte nicht sagen, wann er sie zum ersten Mal so angesehen hatte, aber er hatte sich unzweifelhaft verändert. In den quälend langen Stunden, die sie zusammen im Niemandsland verbracht hatten, waren sie einander nähergekommen, hatten gelernt, sich zu akzeptieren. Sie hatten angefangen, miteinander zu sprechen – über Gott und die Welt – und sogar zu lachen, hatten ihren ganz eigenen, ungewöhnlichen Rhythmus gefunden. Waren Freunde geworden.

Aber genau das war der springende Punkt. Wenn die Dämonen Jack erwischten und zu einem der Ihren machten, würde sie nicht nur eine Seele verlieren, die ihr anvertraut worden war, sondern einen Freund. Einen, der sie wirklich wahrnahm. Der sie so sah, wie sie war.

»Ich hab mir gerade vorgestellt, wie es wäre, wenn die Dämonen dich erwischen«, gab sie zu. »Dann könntest du dich für alles an mir rächen.«

Jack grinste, als hätte sie einen guten Witz gemacht. Aber in Wahrheit war es alles andere als komisch.

»Ich würde dich natürlich stalken, während du das Niemandsland durchquerst«, sagte Jack. »Ich wäre dann dein persönlicher Dämon, der dich auf Schritt und Tritt begleitet.«

»Danke«, erwiderte sie trocken. »Wie nett von dir.«

Das Fünkchen Humor, das zwischen ihnen aufgeflackert war, erlosch wieder. Schweigend saßen sie auf dem Sofa und schauten zu, wie der Himmel sich tief burgunderrot färbte, als die Sonne unterging und die Nacht hereinbrach. Bald würde der Lärm draußen anschwellen. Immer mehr Dämonen würden sich sammeln, würden sich dicht gedrängt und unter wildem Gerangel gegen die Wände des Schutzhauses werfen, um so nah wie möglich an sie heranzukommen. Susanna fragte sich wieder einmal, warum die Kreaturen so versessen auf sie waren – es gab schließlich noch andere Schutzhäuser im Niemandsland, die sie terrorisieren konnten. Handelte es sich vielleicht um eine Strafe des Inquisitors? Eine Strafe, die sie Nacht für Nacht daran erinnern sollte, was sie erwartete, wenn sie dumm genug waren, das Schutzhaus zu verlassen?

»Willst du das wirklich machen?«, murmelte sie, als ein besonders schauriges Heulen die Dämmerung zerriss. »Willst du dich wirklich dem dort …«, sie deutete auf das Fenster, »aussetzen? Schau doch mal raus!«

Jack ließ sich Zeit mit seiner Antwort, dann sagte er seufzend: »Ich will nicht von dir weg. Aber ich kann hier auch nicht länger bleiben. Ich kann einfach nicht.«

»Und wann?«, fragte sie.

Noch ein Seufzer, gefolgt von einem Schulterzucken. »Morgen?«

»Morgen?«, krächzte sie.

»Wenn nicht morgen, wann dann?«

Susanna warf ihm einen raschen Seitenblick zu. »Seit wann bist du so philosophisch?«

Jacks Mundwinkel verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln, aber er sagte nichts. Das Zischen und Fauchen draußen ging in ein leises, unablässiges Grollen über, als immer mehr Dämonen sich über dem Schutzhaus sammelten.

»Feuer machen?«, fragte Jack. Ohne ihre Antwort abzuwarten, stand er auf und ging zum Fenster. Dann widmeten sie sich ihrem nächtlichen Ritual. Susanna kauerte am Ofen und fachte mithilfe ihrer Seelenfahrerkräfte – die sie zum Glück nicht verloren hatte – ein Feuer in dem kleinen Holzstapel an, während Jack die Vorhänge schloss, damit die schemenhaft am Fenster vorbeihuschenden Dämonen sie nicht sehen konnten. Als sie fertig waren, kehrten sie zum Sofa zurück, und wie immer streckte Jack sich an der Rückenlehne aus, während sie ihren üblichen Platz vor ihm einnahm. Dann schlang er seine Arme um sie und sie schlossen die Augen.

Die ersten paar Male war ihnen dieses Arrangement ziemlich unangenehm gewesen, aber wenn sie sich hinlegen wollten, gab es keine Alternative, außer dem kalten Fliesenboden. Anfangs hatten sie kaum zu atmen gewagt und sorgfältig darauf geachtet, einander nicht zu berühren, bis Jack schließlich genug von dem Spiel hatte und knurrend seine Arme um sie legte. »Ich beiße nicht, okay?« Damit war alle Befangenheit zwischen ihnen verflogen und sie schliefen jetzt immer so. Obwohl sie eigentlich keinen Schlaf brauchten – Jack war tot und Susanna eine Seelenfahrerin –, aber auf diese Weise konnten sie ihrem Dasein im Schutzhaus eine gewisse Struktur verleihen. Den gewohnten Tag-und-Nacht-Rhythmus einhalten.

Außerdem war es mittlerweile die einzige Art, wie Susanna sich entspannen konnte. Dabei war sie doch die Seelenfahrerin und nicht Jack – aber in seinen Armen fühlte sie sich stärker, sicherer. Sie wusste selbst nicht, was sie davon halten sollte.

Wenn das Feuer langsam herunterbrannte und der Raum dunkler wurde, konnten sie einen Hauch von Ungestörtheit, von Alleinsein genießen, indem sie sich einredeten, dass der andere schlief.

Und seltsamerweise träumte sie seit ihrer Rückkehr ins Niemandsland, aus welchen Gründen auch immer. War es eine absurde Wendung ihres Schicksals oder eine grausame Strafe des Inquisitors? Na ja, Träumen war vielleicht nicht der richtige Ausdruck dafür, aber wie sollte sie es sonst nennen? Sie schlief nicht, wurde jedoch von Erinnerungen überrollt, die sie im Dunkeln bedrängten, und schaute dann hilflos weg, bis diese quälenden Visionen verflogen waren und sie wieder in die relative Sicherheit des Schutzhauses zurückkehrte.

»Willst du reden?«, fragte Jack leise an ihrem Ohr.

Sie schüttelte den Kopf, in dem Wissen, dass er die Bewegung wahrnehmen würde, auch wenn er sie im schwachen Feuerschein nicht sehen konnte.

»Das hilft nicht«, sagte sie.

Jack drückte sie mitfühlend an sich. Keine Chance, ihre Träume vor ihm zu verbergen; sie schreckte ja meist zitternd und schluchzend daraus hoch.

»Vielleicht träumst du heute Nacht gar nicht«, tröstete er sie.

»Vielleicht«, murmelte sie skeptisch. Das Gespräch mit Jack, seine Entschlossenheit wirkten noch lange in ihr nach, während die Dämonen draußen sie in den Schlaf sangen. Und natürlich würde sie träumen. Die Frage war nur, welche ihrer Erinnerungen sie diesmal aus Jacks Armen reißen und in eine Hölle aus Schmerz und Angst schleudern würde.

Langsam stieß sie die Luft durch ihre geschlossenen Lippen aus, ließ die Augen zufallen und versuchte, sich zu entspannen.

Der Wind heulte, kämpfte mit den Dämonen und füllte ihre Ohren. Sie war verwirrt, orientierungslos.

Aber sie wusste genau, wo sie war. Und wann diese Szene sich abgespielt hatte.

Wie auch nicht? In ihren »Träumen« war sie schon oft hier gewesen. Es war der Moment, als der Inquisitor sie zurückgeschickt hatte. Zurück in die rote Hölle des Niemandslands.

Jack schrie seinen Text heraus. »Was ist das?« Wieder drangen seine Worte kaum über das Fauchen, Zischen und Pfeifen hinweg, aber sie kannte den Text inzwischen auswendig.

»Das Niemandsland!«

»Warum sieht es dann so anders aus?«

Sie bot ihre ganze Suggestionskraft auf, um das alles zu stoppen, den Traum anzuhalten. So wie sie es schon hundertmal versucht hatte. Aber es funktionierte nicht.

Das wahre Niemandsland erwartete sie, versengte ihr die Augen mit tausend unterschiedlichen Rottönen. Die Hitze würgte sie in der Kehle, der Sand, der vom Wind aufgewirbelt wurde, zerstach ihr die Haut wie tausend spitze Nadeln. Riesige Felstrümmer brachen aus dem Boden hervor, bildeten zackige Gipfel.

Ein Labyrinth aus Schatten dehnte sich aus. Zahllose neue Verstecke, in denen Dämonen lauerten, um sie aus dem Hinterhalt zu überfallen.

Aber das verschaffte ihr zumindest eine kurze Atempause. Susanna wusste inzwischen, wo sie sich versteckten. Wann der Angriff kommen würde. Nur hatte sie leider noch immer keine Möglichkeit gefunden, das alles zu verhindern. Die Erinnerung würde unweigerlich vor ihren Augen ablaufen, so wie immer.

Ein Blick zu Jack und heftige Schuldgefühle brodelten in ihr hoch. Dem Pfad zu folgen, den der Inquisitor ihnen vorgegeben hatte, war ein Ding der Unmöglichkeit. Unter diesen Umständen konnten sie das Niemandsland niemals heil durchqueren.

Es war ein Todesurteil.

»Jack«, sagte sie flehend und drehte sich zu der Seele um, die sie so weit von ihrem Weg abgebracht hatte. Die Worte lagen ihr auf der Zunge, drängten verzweifelt heraus, aber noch nie waren sie ihr so von Herzen gekommen wie diesmal. »Es tut mir leid. Es tut mir so schrecklich leid.«

»Was machen wir jetzt?«, brüllte Jack.

Sie drehte sich zum Schutzhaus um. Als sie es zum ersten Mal im Wirbeln und Kreischen der Dämonen entdeckt hatte, waren ihr die Knie weich geworden vor Dankbarkeit. Der Inquisitor hatte also doch noch einen Rest von Gnade walten lassen, denn dort stand es, keine hundert Meter von der Stelle entfernt, an der sie kauerte und schutzlos dem Angriff der Dämonen preisgegeben war. Die Tür stand bereits offen, als wartete das Haus auf sie.

»Jack!« Mit einem zitternden Finger zeigte sie darauf. »Schau mal!«

Sie wandte den Kopf und lächelte ihm zu, wollte diesen winzigen Hoffnungsschimmer mit ihm teilen – musste jedoch ihre flüchtige Unachtsamkeit teuer bezahlen. Ein Dämon landete auf ihrem Arm, umklammerte ihn mit seinen Krallen wie ein Falke, der auf den Handschuh seines Herrn zurückkehrt. Nur dass Susanna keinen Handschuh trug und statt der schlanken, schönen Gestalt eines Raubvogels ein grässlicher, zuckender Klumpen schwärzester Finsternis an ihrem Arm hing und auf sie einhackte. Gierig zerrte er an ihrem Fleisch und fletschte seine messerscharfen Zähne.

»Hilfe! Mach ihn weg!« Sie warf sich herum, schlug um sich und drehte Jack die rechte Seite zu, damit er die Kreatur leichter packen konnte. Als Jack sich immer noch nicht rührte, zerrte sie selbst an dem Ding. Warum half er ihr nicht? Flehend schaute sie ihn an und da sah sie es. Er konnte sich nicht entscheiden.

Sollte er ihr helfen oder nicht? Sollte er einfach zulassen, dass die Dämonen sie schnappten?

Zugegeben, sie hatte es verdient, nach allem, was sie ihm angetan hatte.

Jacks widerstreitende Gefühle flackerten über sein Gesicht; er war so leicht zu lesen, als hätte er laut gesprochen. Susanna war nicht länger starr vor Entsetzen. Ihr blieb keine Zeit, Jack noch weiter anzuflehen – und es hätte auch nichts genutzt, denn so verlief diese Erinnerung nicht. Ein zweiter Dämon nutzte ihre Abgelenktheit, krallte sich in ihr Haar, verbiss sich in ihren Nacken und schlitzte ihr die Kopfhaut auf. Der Schmerz schoss ihr durch den Schädel und sie schrie laut auf.

Dann brannte plötzlich ihr Schenkel wie Feuer und ein weiterer Dämon fegte an ihr vorbei, um die nächste Attacke zu fliegen. Sie schloss die Augen, ignorierte für einen Moment den Dämon, der auf ihren Kopf einhackte, und den anderen, der wie ein Blutegel an ihrem Arm hing. Du stirbst nicht, rief sie sich in Erinnerung. Sie können dich nicht töten. Es tut nur weh.

Im selben Moment warf sich etwas viel Größeres auf sie und sie stürzte beinahe zu Boden. Als sie die Augen aufriss, war Jack da, der mit grimmiger Miene seine kräftigen Finger um ihren freien Arm schlang.

»Ich kann sie nicht anfassen!«, rief er verzweifelt, aber seine Stimme ging im Zischen und Kreischen der Monster unter. »Wir müssen wegrennen!«

Wie sollten sie wegrennen, solange die beiden Monster an ihr klebten und andere an ihren Beinen zerrten? Aber Jack zog sie bereits wild entschlossen mit sich, ohne die Dämonen zu beachten, die sich auf ihn stürzten, sodass ihr keine Wahl blieb. Schritt für Schritt, Meter für Meter kämpfte er sich voran, mit seiner Seelenfahrerin im Schlepptau, die er mehr trug als zog, bis endlich das Schutzhaus, ein einstöckiger Steinbau, vor ihnen aufragte. Ihre Zuflucht, ihre Oase in der Wüste des Niemandslands.

Mit Jacks Hilfe schaffte Susanna es, sich von den beiden Kreaturen loszureißen, die tiefe, blutige Wunden in ihrem Fleisch hinterließen. Dann stürzte sie mit ihm durch die Tür.

Stille. Gesegnete Ruhe. Einen langen Augenblick lagen sie keuchend auf dem kalten, harten Steinboden. Susanna starrte noch eine Sekunde zur Tür, um sich wie üblich zu überzeugen, dass die Barriere standhielt, dann erst ließ sie den Kopf zurückfallen, schloss die Augen und erlaubte sich ein Schluchzen.

Aber nur ganz kurz.

Sie spürte, wie Jack von ihr zurückwich und sich aufrichtete.

»Du blutest«, bemerkte er.

Richtig. Sie spürte die Wunde an ihrem Schenkel und ihr rechter Unterarm brannte und pochte, als hätte ihn eine Dogge zerfleischt – was im Grunde nicht weit von der Wahrheit entfernt war. Die Schnitte in ihrer Kopfhaut waren nicht weiter schlimm, das wusste sie, aber Kopfwunden bluteten immer besonders stark.

»Ich weiß«, seufzte sie. »Aber das macht nichts. Heilt alles wieder. Wir haben es geschafft und das ist die Hauptsache.« Mühsam zwängte sie ihre Augen auf, blinzelte ein paar Blutstropfen weg, die ihr vom Scheitel herunterrannen. Ohne sich weiter darum zu kümmern, wandte sie sich Jack zu, der fast schon beschützend über ihr kauerte. »Danke«, krächzte sie. Ihr Mund war trocken vor Angst und die glühende Luft des wahren Niemandslands verbrannte ihr die Kehle. »Danke, dass du mir geholfen hast.«

Jack reagierte nicht darauf. Schaute nur weg und zuckte mit den Schultern. Die Dämonen, die vor der offenen Tür herumschwärmten, nahmen seine ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. »Was machen wir jetzt?«

Sie folgte seinem Blick. Es waren mindestens hundert, ein Schwarm, der nur darauf wartete, sie zu zerfetzen und Jack nach unten zu ziehen, damit er einer der Ihren wurde.

Sie hatte keine Antwort auf seine Frage.

»Susanna!« Jacks Stimme drang leise, aber beschwörend an ihr Ohr. »Susanna!« Er schüttelte sie leicht und sie zuckte zusammen, hob ihren Kopf und blickte sich mit trüben Augen um.

»Was ist?«, fragte sie benommen. »Was ist los?«

Die Hütte war stockfinster, das Feuer erloschen. Alles Licht, das sonst vielleicht vom Nachthimmel nach drinnen gesickert wäre, wurde von dem Dämonenschwarm verschluckt, der wie immer sein Bestes gab, um ihnen die langen Stunden der Dunkelheit zur Hölle zu machen.

»Du hast gezittert«, sagte Jack, einen besorgten Unterton in der Stimme. »Hattest du wieder einen Albtraum?«

»Wie oft soll ich dir noch sagen, dass ich nicht schlafe«, erwiderte sie mechanisch.

Jack schnaubte leise, seine starken Arme waren noch immer schützend um sie geschlungen und sie genoss die tröstliche Wärme. »Nenn es, wie du willst«, sagte er. »Du hast geträumt.«

Das konnte sie nicht abstreiten, denn die Wunden, die ihr an diesem Tag zugefügt worden waren, brannten noch immer wie ein Phantomschmerz unter ihrer Haut.

»War’s schlimm?«, murmelte Jack.

»Es war … es war der Tag, an dem wir hierhergekommen sind.« Mehr brauchte sie nicht zu sagen. Die ersten schrecklichen Momente, als der Inquisitor sie kurzerhand im wahren Niemandsland abgesetzt hatte, mussten in Jacks Erinnerung noch viel lebendiger sein als in ihrer. Im Gegensatz zu ihm hatte Susanna zumindest eine vage Vorstellung davon, wo sie waren und was mit ihnen geschah.

Jack schwieg lange.

»Davon hast du schon lange nicht mehr geträumt.«

Das stimmte. Anfangs war sie Nacht für Nacht von dieser Erinnerung heimgesucht worden – was umso schrecklicher war, als sie keine Ahnung hatte, was diese Visionen bedeuteten. Als Seelenfahrerin schlief und träumte sie nicht, aber inzwischen hatte sie sich wohl oder übel damit abgefunden, dass ihre Erinnerungen sie einholten – auch wenn es dadurch nicht leichter wurde. Doch Jack hatte recht, es war tatsächlich lange her, seit diese Horrorvision sie zum ersten Mal erschreckt hatte.

Man musste kein Genie sein, um zu begreifen, warum.

»Also, wegen morgen …«, riss Jack sie aus ihren Gedanken.

»Ja?«, sagte sie.

»Ich meine, du kennst die Gegend hier besser als ich. Wie ist es hier denn so?«

Susanna atmete tief durch die Nase ein und ließ die Luft langsam wieder entweichen.

»Ich reise sonst nicht durch das wahre Niemandsland«, antwortete sie. »Das ist nicht unser Job. Wir holen eine Seele ab und führen sie durch ihr eigenes Niemandsland, dann werden wir sofort zur nächsten weitergeleitet.«

»Du hast also keine Ahnung?«, stieß Jack mit harter, enttäuschter Stimme hervor. Sie hatten viel zusammen durchgemacht; doch trotz der Freundschaft, die ganz allmählich, in kleinen, schmerzhaften Schritten zwischen ihnen entstanden war, schaffte Jack es nicht, seine dicht unter der Oberfläche lauernde Aggressivität in den Griff zu bekommen, sobald es einmal nicht nach seinem Willen ging. Entweder er fluchte und brüllte, warf irgendwelche Sachen herum oder er reagierte kalt und hart. Manchmal auch grausam.

Susanna wusste natürlich, warum – er hatte Angst, war frustriert –, was es aber nicht leichter für sie machte.

»So ist es auch nicht«, antwortete sie geduldig. »Ich habe zumindest eine gewisse Vorstellung. Ich konnte schon immer das wahre Niemandsland sehen. Ich musste lediglich den Schleier wegreißen und einen Blick darauf werfen. Aber ich habe das nur gemacht, wenn ich in einem Schutzhaus war – sonst wäre es viel zu gefährlich gewesen.«

Jack grummelte vor sich hin, also fuhr sie fort: »Wahrscheinlich ist es, als würde man nachts durch das Niemandsland reisen. Dämonen fürchten das Sonnenlicht und bleiben normalerweise im Schatten, was ihre Chancen, tagsüber anzugreifen, erheblich einschränkt. Es sei denn, eine Seele lässt sich so sehr von ihrer Verzweiflung überwältigen, dass der Himmel stockfinster wird und die Kreaturen sich hervorwagen können.«

Jack schwieg und dachte darüber nach. Als sie sich herumwälzte, um einen Krampf in ihrem Rücken zu lösen, spürte sie seine Anspannung. Er hatte Angst, was er natürlich nicht zugeben konnte. Dabei spielte es gar keine Rolle – Susanna hatte auch Angst.

»Bist du mal nachts durch das Niemandsland gereist?«, fragte er endlich.

»Oh, schon oft.«

»Und?«, hakte er nach.

»Es ist … also … es ist schlimm.« Wozu ihn anlügen? Das war zwecklos. »Wenn kein Schutzhaus in der Nähe ist, hat die Seele praktisch keine Chance. Es sind einfach zu viele Dämonen unterwegs. Du bist machtlos gegen sie und ich schaffe es nicht, alle auf einmal abzuwehren.« Sie hielt einen Augenblick inne. »Als ich damals Michael hinübergebracht habe …«

»Michael?«

»Eine meiner Seelen. Die letzte vor dir. Also jedenfalls, auf meiner Reise mit Michael ist mir was Merkwürdiges an den Dämonen aufgefallen.«

»Und was?« Jack stieß sie gegen die Schulter, um sie zum Weitersprechen zu bewegen.

»Sie … also, es klingt bescheuert, aber es kam mir so vor, als ob sie sich zusammengetan hätten. Ja, wirklich – als würden sie ein Team bilden, um mich auf den Boden zu reißen. Normalerweise greifen sie einzeln an, völlig planlos. Aber bei Michael war es, als hätten sie sich untereinander verständigt, wie sie ihn am besten packen konnten.«

»Und was ist daran so merkwürdig?«

»Dämonen denken nicht«, stieß sie hervor. »Das sind hirnlose, wilde Kreaturen. In ihnen ist nichts mehr von den Seelen, die sie mal waren.«

»Sicher?«, fragte Jack.

»Ja«, antwortete sie. »Hundertprozentig. Deshalb kann ich es mir nicht erklären.«

»Also …« Jack nahm seine Arme von ihrer Seite und sie stellte sich vor, wie er nach oben griff und wütend ein paar Haarbüschel packte, um daran zu zerren. Das machte er oft. »Du sagst also, es ist unmöglich.«

Sie nickte. Es war noch dunkel, aber da sich auch seine Augen mittlerweile daran gewöhnt haben mussten, konnte er es wahrscheinlich sehen.

»Es muss doch eine Möglichkeit geben«, beharrte er. »Dylan hat es auch geschafft – ganz allein.«

Susanna zog den Kopf ein, fühlte sich jetzt selbst in die Ecke gedrängt. Klang da ein vorwurfsvoller Ton in Jacks Stimme mit oder bildete sie sich das nur ein? Von Dylan und Tristan redeten sie nur selten – wozu auch? Dennoch war der Gedanke an sie immer da, schwebte förmlich in der Luft zwischen ihnen. Schließlich waren die beiden der Grund dafür, dass sie jetzt in der Patsche saßen.

Nein, das war ungerecht. Tristan und Dylan waren der Grund dafür, dass sie diesen ganzen Schlamassel angezettelt hatte.

Und leider waren sie nicht dazu gekommen, Dylan zu fragen, wie genau sie es geschafft hatte, auf eigene Faust das wahre Niemandsland zu durchqueren.

»Na ja, ich bin nicht Dylan«, sagte sie leise.

»Nein, bist du nicht«, schoss Jack zurück und sie sank noch etwas mehr in sich zusammen. Es gab keine Möglichkeit, ihm auf dem winzigen Sofa auszuweichen, der Wahrheit seiner Worte zu entkommen. Erst recht nicht, solange er sie an sich drückte. »Du bist die Seelenfahrerin«, erinnerte er sie. »Du hast jede Menge Tricks auf Lager, von denen ich nur träumen kann.«

Susanna blinzelte verblüfft.

»War das … war das etwa ein Kompliment?«

»Gewöhn dich lieber nicht dran«, stieß Jack finster hervor und sie verkniff sich ein Grinsen. »Also, was ich sagen wollte«, fuhr er fort und drückte sie erneut, »du kannst das schaffen.«

»Du meinst, wir können es schaffen?«

»Hoffentlich, ja.«

Eine ganze Weile sagten sie nichts mehr, lagen einfach nur da und ruhten sich aus. Warteten. Irgendwann stand Jack auf, kletterte unbeholfen über sie hinweg, um die Vorhänge zu öffnen.

»Ich will den Sonnenaufgang sehen«, verkündete er, bevor er sich wieder neben sie legte.

Endlich, so schleichend, dass sie es zunächst kaum wahrnahmen, lichtete sich der Himmel und die Dämonen wurden sichtbar. Schlangenähnliche, sich windende Gebilde aus purer Schwärze vor einem Himmel, der sich zuerst erdig braun färbte, dann flammend orange wie der glühende Sonnenball, der sich am Horizont hochschob.

Der Lärm draußen verebbte allmählich, als die meisten – aber nicht alle – dieser unablässig kreisenden Kreaturen sich davonmachten, um andere Opfer zu jagen. Die Luft war vorläufig rein – sicherer wurde es jetzt nicht mehr.

Susanna richtete sich auf und schwang ihre Beine vom Sofa herunter. Jack kam neben ihr hoch, dann stand er auf und streckte sich. Er ging nicht zur Tür wie sonst immer, um seinen Kopf hinauszustrecken, soweit es gefahrlos möglich war, und die restlichen Dämonen zu verhöhnen. Stattdessen stellte er sich vor die kleinere Fensteröffnung, aber so, dass er außer Sicht der Dämonen blieb, die noch immer hin und wieder gegen die Wände und das Dach krachten, als hätten sie Angst, sie könnten sonst in Vergessenheit geraten.

»Bist du bereit?«, fragte er.

Nein, wahrhaftig nicht. Aber das spielte keine Rolle, denn bereit würde sie nie sein. In Wahrheit wäre es besser gewesen, die Reise sofort anzutreten. Damals, als sie die Verantwortung für Jack getragen und voller Schuldgefühle ihm gegenüber gewesen war, auch wenn er es ihr natürlich nicht leicht gemacht hatte, mit seiner mürrischen und unberechenbaren Art. Jetzt war er ihr Freund. Nein, mehr als das. Sie kannte ihn besser als jedes andere Wesen, das ihr jemals begegnet war, einschließlich Tristan. Jack zählte für sie und sie wusste, dass das auf Gegenseitigkeit beruhte.

Ihn zu verlieren, war ein schrecklicher Gedanke.

Ein dicker Kloß bildete sich in ihrer Kehle und sie kämpfte mit den Tränen.

»Alles okay?«, fragte Jack, als er ihr Gesicht sah. »Hast du Angst?«

»Nein.« Sie schüttelte den Kopf und lachte, was aber eher wie ein Schluchzen klang. »Also … ja. Ich …« Sie trat einen Schritt vor und fasste nach Jacks Hand. »Bleib immer dicht bei mir, okay? Ich will dich nicht verlieren.«

Jack nickte. Ausnahmsweise keine pampige Antwort. Stattdessen drückte er leicht ihre Finger.

»Und wenn wir da draußen sind«, fügte sie hinzu, als sie daran dachte, wie oft sie im Niemandsland vom Sonnenuntergang überrascht worden war, wie oft sie eine Seele in letzter Sekunde vom Abgrund zurückgerissen hatte, »darfst du die Dämonen nicht ansehen. Tu einfach so, als ob sie nicht da wären. Du kannst nicht gegen sie kämpfen, also versuch es erst gar nicht. Konzentrier dich lieber auf mich, auf den Weg, dem wir folgen, oder auf deine Füße, wenn es sein muss.«

»Okay, ich behandle sie wie Luft … oder wie meinen Stiefvater«, gab Jack trocken zurück. »Kein Problem. Darin hab ich jede Menge Übung.«

Susanna lachte. Jacks schwarzer Humor sorgte dafür, dass sich die Spannung in ihren Schultern löste, und wirkte wahre Wunder gegen ihre weichen Knie, die beinahe unter ihr wegsackten. Auf dem Weg zur Tür, mit Jack im Schlepptau, der wie ein Schatten hinter ihr blieb, seine Hand noch immer in ihrer, wurde sie wieder ernst. Sie hielt kurz inne, ihre freie Hand auf der Türklinke, ohne ihn anzusehen.

»Ich bring dich hier raus, Jack«, flüsterte sie. »Das schwöre ich.«

Dann stieß sie die Tür auf.

Ferryman – Die Verstoßenen (Bd. 3)

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