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VIII.

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Die Familie Reschke war gegen drei Uhr ausgerückt. Um zwei hatte man schon angefangen, sich zu der Partie nach Halensee zu rüsten; Trude mußte Elli mit dem Brenneisen die Haare wellen, Mutter Reschke packte eine lederne Handtasche voll mit fettigem Streuselkuchen und belegten Butterstullen. Es war ein hübscher Anblick, als die beiden zierlich gekleideten Mädchen vor den Eltern herschritten. Herr Reschke sah sehr würdig aus, mit Zylinder und goldener Talmi-Uhrkette; ehrbar führte er seine Frau am Arm, die in einem veilchenblauen Kleide und spitzenbesetztem Cape stattlich genug einherrauschte. Vielleicht, daß sich draußen für Trude etwas fand!

Arthur hatte nicht mitgehen wollen, er grollte mit seinen Eltern. Als er allein war, machte er sichs bequem, indem er den Rock auszog und die Stiefel abschlenkerte, legte sich aufs Sofa in die gute Stube, ließ die Beine über die Seitenlehne hängen und rauchte eine Zigarette nach der anderen. In der Stille des Sonntags und der Dämmerung des Kellers kam ihm der Schlaf; da erhob er sich taumelnd und schlich in seine Kammer aufs Bett, da lag er noch bequemer.

Schon in der ganzen letzten Zeit war Arthur maulfaul gewesen, verdrossen war er am Morgen mit seinen Büchern unterm Arm in die Schule geschlichen, verdrossen kam er heim, mürrisch stocherte er im Essen.

„Was is denn los, Arthur?“ hatte die besorgte Mutter gefragt. „Daß de stille bist“, schrie sie im nächsten Moment die verschüchterte Grete an, „störe Arthur nich immer! Der hat seine Jedanken in’n Koppe, der will Doktor werden!“

Daß sie darauf so versessen waren! Arthur hatte nicht die geringste Lust zum Studieren. Nicht einmal zu den Schularbeiten! Statt die zu machen, lag er in seiner Kammer auf dem Bett und druselte, oder er saß da, die Beine weit von sich gestreckt, die Füße gegen einen Haufen Bücher gestemmt, und paffte und paffte.

Michaeli war er nicht versetzt worden, nun saß er nach den Ferien wieder mit Jungen in der Tertia zusammen, die über einen Kopf kleiner waren als er. Und diese Knirpse machten sich über ihn lustig! Er verlor ganz die Fassung. Wenn er aufgerufen wurde, wußte er meist nichts. Der Lehrer nahm den jungen Menschen, dem schon der Schnurrbart sproßte, eines Tages beiseite und gab ihm zu überlegen, ob es nicht besser für ihn wäre, etwas anderes zu ergreifen, als noch neben Kindern die Schulbank zu drücken.

Arthur wagte nicht, zu Hause etwas davon zu sagen; ihm fehlte der Mut. Er war schlapp geworden vom langen Hocken auf der Schulbank. So klemmte er nach wie vor seine langen Gliedmaßen hinter das niedrige Pult und träumte während der Lehrstunden mit offenen Augen. Bis in die Schule hinein verfolgte ihn der Duft des Kellers. Er roch den welkenden Kohl, das faulende Obst, er sah die lachenden Gesichter der Mägde, er hörte ihr Schwatzen, ihre Klatschgeschichten; das Rascheln ihrer Röcke empfand er wie eine körperliche Berührung. Die Mutter hatte es gern, wenn der junge Mann sich im Laden herumdrehte, sie trieb ihn ordentlich dazu. Nun kam er nicht mehr los davon.

Der Keller — der Keller! In dem wurzelte er. Seine an Kellerdunkel gewöhnten Augen blinzelten im hellen Licht der Schulstube. Was sollten ihm Lateinisch und Griechisch? — „Für fünf Pfennige Suppengrün!“ — „Zehn Pfund Kartoffeln!“ — „Wohin gehen wir Sonntag? Tanzen?!“ — „Na, was macht der Schatz?“ — Das war die Sprache, die er verstand. Die Mägde kokettierten mit ihm, und die Mutter blinzelte ihm aufmunternd zu — was sollen ihm Bücher?!

Vor ein paar Tagen nun hatte der Direktor an Vater Reschke geschrieben und ihn ersucht, seinen unbegabten Sohn vom Gymnasium zu nehmen.

Frau Reschke war außer sich, ihr Hochmut tief verletzt. Sie stürzte in die Kammer des Sohnes, wo dieser teilnahmslos in ein Buch stierte, ergriff das und schlug es ihm auf den Kopf. Die Blätter des zerflederten Bandes flatterten in alle Ecken.

„Du Faulpelz! Du Schlemihl! Du — du“, eine Flut von Schimpfworten entströmte ihrem Mund. „Haben wer dafor det ville Jeld ausjejeben, und uns jeschunden, daß de dir uff de faule Seite legst? Haste denn keen Prietzelchen Ehre in’n Leibe? Schämen sollste dir in deinen Hals rein. Sollste nich deinen Eltern, die allens for dir jeopfert haben, ’ne Stütze sein in’n Alter? Ne, mit de Müllfuhre losjondeln, weiter nischt! Aber ne, Männeken, det jibt’s nich — du jehst standepe nach Schule und lernst wat Ordentlichet!“

Er lachte ihr bitter ins Gesicht. „Was Ordentliches? Ich bin viel zu alt. Frag den Direktor! Sie lachen mich aus.“

„Quatsch! Vater wird dem Direktor mal den Standpunkt klarmachen. Du jehst!“

„Ich gehe nich.“

„Nanu?“ Frau Reschke sah ihren Sohn an, als spräche er irre.

Sie tippte ihm auf die Stirn. „Brustkrank — wat? Ick sage, du jehst!“

„Und ich will nich mehr“, schrie er mit dem plötzlichen Mut der Verzweiflung, „mach, was du willst! Ich — laufe eher fort!“

„Haha, versucht’t man! Ick sage dir, du kommst schnelle wieder bei Muttern. Soll dich schlecht schmecken, Steine bei’n Bau tragen oder Schnee schippen. Was willste denn? Du kannst ja nischt!“ Der Junge stöhnte auf und verbarg das Gesicht in den Händen.

„Ne, ne“, fuhr sie etwas sanfter fort, bückte sich und hob mit spitzen Fingern die umhergestreuten Blätter des Buches auf. „Det is ja allens Quatsch. Se sind in de Schule unjerecht jejen dir; aber laß der nur nich einschüchtern! Ick wer’s ihnen schon zeigen, was ’ne Harke is — du wirst doch Doktor. Un damit punktum.“

„Ich werd’ es nich — ich werd’ es nie — ich kanns gar nich werden!“

„Un warum denn nich, wenn ick fragen därf? Det wär ’ne neie Mode!“ Sie schlug entrüstet mit der Faust auf den Tisch. „Wenn Mutter sagt, du wirst det, denn wirste det ebent!“

„Ich kann nich.“

„Warum kannste nich — na?“

Er hob den Kopf aus den Händen und sah seine Mutter an, mit verschwollenen Augen. Sein Gesicht war aschfahl, seine Lippen zuckten. Er brachte kein Wort heraus. Aber es war ein langer, stumm beredter Blick.

„Na, wirds bald? Warum kannste nich?!“

Wild fuhren seine Augen im Kellerraum umher — vom Laden herüber tönte Lachen und Gekreisch der Mägde, Vater Reschke trieb seine handgreiflichen Geschäftsscherze mit ihnen; nebenan quiekte Elli eins ihrer Bravourstücke und trommelte den Takt dazu mit den Absätzen.

„Hörste’s?“ stieß er heraus. „Ich kann nich — der Keller — der Keller — hörste’s?“

„Na ja, wat denn?“ Sie sah ihn verständnislos an.

„Der Keller — siehstes denn nich ein, ich bin aus’n Keller! Ich paß nich fürs Studium. Laß mich was werden, was zu mir paßt!“

Sie schrie laut auf. „Wat, der Keller is wohl nich anständig? Hier is der’t nich fein jenug? Na, warte! Reschke! Reschke!“

Schon kam er gelaufen.

„Reschke!“ Sie stand und schnappte nach Luft und zeigte mit ausgestreckten Fingern auf ihren Sohn. „Et is ihm nich fein jenug, — der Keller — er — er schämt sich wejen seine Eltern!“

„Nanu wirds Tag! Schämen — du dich unsetwejen schämen?! Du verdammter Bengel!“

„Ich schäm mich eurer ja gar nicht“, schrie der Sohn. Er war aufgesprungen und stierte, den Kopf vorgeneigt, seine Eltern an. „Ich sag ja nur, ich paß nich zum Studieren, seht das doch ein!“

„Was, du willst uff unsen Keller schimpfen?“ Reschke packte Arthur vorn am Rock und schüttelte ihn hin und her. „Ich wer’ der lehren!“

„Wie steht man da?“ kreischte die Reschke. „Reine blamiert! Nich in de Schule jehn, nich Doktor werden? Reschke, morjen jehste zu ’n Direktor un machst dem den Standpunkt klar. Ne, uff de Stelle!“

„Ich kann nich mehr in Schule gehn! Ich will nich mehr in Schule gehn!“

„Maul jehalten!“ Der starke Vater, mit seinen Bauernfäusten, schüttelte den kraftlos aufgeschossenen Sohn, daß der schlotterte wie ein loses Bündel Kleider.

Frau Reschke bebte vor Wut. „Du sollst Jott danken, daß de Eltern hast, die der studieren lassen, du — du!“

„Ich kann nich studieren!“ Arthur riß sich vom Vater los und hielt sich wie betäubt den Kopf.

„Da haste eene!“ Die Mutter holte zornig aus und langte ihm eine Ohrfeige, daß seine blasse Wange dunkelrot erglühte.

Einen Moment hatte es den Anschein, als wollte der Sohn rebellisch werden, auf seiner Stirn schwoll die Ader, aber gleich darauf knickte seine aufgeschossene Gestalt schlapp zusammen und sank auf den nächsten Stuhl. Er fing an zu schluchzen.

„Siehste woll“, sagte Frau Reschke. Und dann zog sie ihren Mann mit sich fort. „Komm, laß man Arthur! Er is ja doch een juter Junge. Er wird sich schon besinnen.“

Herr Reschke war nicht „auf der Stelle“ zum Direktor gegangen, auch nicht den nächsten Tag und den übernächsten: es war im Geschäft viel los gewesen.

Und dann kam der Samstag, und den wollte man doch auch in aller Gemütsruhe genießen. Es war keine Rede mehr davon, mit dem Direktor zu sprechen, die ganze Szene mit Arthur schien vergessen, als wäre sie nie gewesen.

Aber Arthur hatte nicht vergessen. Als er jetzt in der Einsamkeit des Sonntagnachmittags auf seinem Bette lag und schlief, war seine Stirn schmerzlich verzogen. Er ächzte im Traum — der Lehrer rief ihn auf, er wußte nichts, rein gar nichts, die kleinen Knirpse rundum lachten — „Arthur! Arthur!“

Da schreckte er auf. Eine Mädchenstimme hatte gerufen, es pochte ans Fenster.

Schlaftrunken stolperte er nach der Tür.

Er war sehr enttäuscht, Mine zu finden; sie dagegen war froh, einen Menschen zu sehen und drückte warm seine Hand.

Sie folgte ihm ins Wohnzimmer. Noch brannte keine Lampe, im Dämmergrau sah sie nur seine weißen Hemdärmel schimmern, und er sah ihr Gesicht in unbestimmten verfeinerten Umrissen. Ganz traulich tickte der Regulator, und ein Mäuschen knabberte in irgendeinem Winkel.

Sie saßen jeder in eine Sofaecke gedrückt. Mit gedämpfter Stimme fing sie an zu sprechen. Er hatte sie nicht gefragt, aber es war ihr ein Bedürfnis, zu erzählen, ein wenig zu klagen, mit einer Weichheit, die ihr sonst fremd war. Er hörte ihr schläfrig zu; ihre bäuerliche Sprechweise hatte sich schon gebessert, wenigstens störte sie ihn heute nicht mehr so.

Mines Stimme zitterte, als sie erzählte, daß Bertha gegangen war, sich zu amüsieren, und sie allein gelassen hatte — ganz allein!

Allein! War er das nicht auch? Arthur ergriff Mines Hand. Sie rückten näher zusammen.

„Ein scheußliches Leben“, seufzte er gähnend.

„Ne, das is aber auch gar nich scheene von ihnen, daß se der so alleine gelassen haben“, sagte sie mühsam.

„Ach, das is mir janz wurscht! Aber, daß sie kein Einsehen haben! Ich soll durchaus noch in Schule hocken. Ich lerne doch nischt!“

„Ne, das glaube ich selber. Wo das nu mal nich drinne sitzt! Das is ackerat so, als sollt ein Hahn Eier legen — das kann er ooch nich.“

„Du bist gar nicht so dumm“, sagte er.

Sie lächelte erfreut.

„Ich gehe nicht mehr nach Schule“, murmelte er vor sich hin. Sein Gesicht, das sich bei ihrem drastischen Vergleich etwas aufgeheitert hatte, wurde wieder trübselig. „Mir is hundselend zumute!“

„Armer Arthur“, seufzte sie bedauernd.

Er ließ den Kopf an ihre Schultern sinken. „Mutter kann man vorstellen, was man will, sie versteht einen nich. Sie is zu ungebildet. Und Vater erst! — Du hättest neulich die beiden Ollen hören sollen! Eigentlich zum Radschlagen!“

Er schwieg. Sie schwieg auch; aber als sie ihn tief seufzen hörte, strich sie ihm übers Haar. Er lehnte wie ein hilfloses Kind an ihrer Schulter, ein wahrhaft mütterliches Gefühl stieg in ihr auf. Leise streichelte sie weiter.

„Ich kann nich mehr nach Schule gehn — ich kann nich studieren! Ich kann nich, ich kann nich“, klagte er.

„Ja, was willste denn?“ fragte sie.

„Das weiß ich nich“, stöhnte er. „Fühl mal!“ Er streckte seinen Arm aus. „Achtzehn Jahre — un gar nischt! Andre, die so alt sind wie ich, haben Muskeln wie Eisen.“

„Na, dann mußte Kellner werden, dazu brauchste keene Knochen wie’n Ochse.“

Er schauderte.

„Oder in ’nen Matrialladen, so wie drüben is! Das ist doch scheene, Kaffee abwiegen un Sirup un Reis!“

Er schüttelte verneinend den Kopf.

„Na, oder de gehst bein Schneider. Da kannste uff’n Tisch sitzen, da brauchste nich mal zu stehn. Bei uns zu Hause is einer mit ’nem Stelzfuß, der hat die Kundschaft von allen reichen Bauern. Dem geht’s mächtig gutt!“

„Ne, o ne!“

„Ja, denn weiß ich wahrhaftig nich“ sagte sie ratlos. „Was willste denn werden?“

„Nichts“, stieß er hervor, ließ den Kopf von ihrer Schulter gleiten und hart auf die Tischplatte fallen.

So lag er lange, ohne sich zu rühren. Sie wagte keinen Laut, zuletzt stupste sie ihn sacht mit dem Zeigefinger ins Genick. Er regte sich nicht.

„Du, Arthur!“

Er hob sein verstörtes Gesicht, doch als sie ängstlich fragte: „Was haste?“ fing er an zu lachen. Mit einem kühnen Schwung schlang er den Arm um ihre Taille.

„Du bist en famoses Mädchen, Mine! Ein riesiger Dusel, daß die Ollen weg sind! Nun kann man sich doch mal ordentlich aussprechen.“

Und sie sprachen sich aus. Mine hätte nie geglaubt, daß der Arthur, der dazumal in der Küche wie ein ungezogener Bengel war, so nett sein könnte. Ein richtiger junger Mann. Und wie er sich fein ausdrücken konnte. Sie fühlte seinen Schnurrbart ihre Wange kitzeln und saß still in stummer Bewunderung.

Und Arthur erholte sich förmlich an dieser Bewunderung; er fühlte sich als etwas, zwirbelte die Härchen auf der Oberlippe und machte ihr zuletzt den Vorschlag, ob sie nicht bald einmal abends zusammen spazierengehen wollten?

„Ja, wenn de mer abholst“, sagte sie treuherzig. „Oder soll ich dir abholen, wenn ich mal Zeit hab?“

„Ne, ne, man ja nicht! Daß die Mutter ja nischt merkt!“

„Is se mer denn noch so beese?“ fragte Mine kleinlaut. „Ich kann ja doch nich bei se kaufen, wenn mer der Herr wo andersch hinschickt!“

„Komm nicht her! Ich wer dir schon Nachricht zukommen lassen“, sagte Arthur rasch. „Es is ja auch viel schöner, wenn wir heimlich gehen, was?“ Er umschlang sie fester und näherte seinen gespitzten Mund dem ihren.

„Ne, ne, Arthur“, wehrte sie ab und gab ihm einen kleinen Puff, „du darfst nicht kind’sch sein!“

Er lachte und rückte ihr wieder näher.

Plötzlich schreckten sie auf — vorn an der Blaulackierten rappelte es wie mit Schlüsseln! Tritte im Laden!

Der Junge fuhr zurück. „Die Ollen! Rasch, mach, daß du fortkommst!“ In verlegener Hast drängte er sie zur Hintertür.

Zu spät! Schon stieß Frau Reschke die Glastür auf und leuchtete mit einem Wachszündhölzchen in die Stube.

„Wo is denn Arthur! Nanu“, rief sie erstaunt, „du sitzt noch in’n Stichdunkeln? Und da is ja —“

Das Wachszündhölzchen erlosch; in eisigem Schweigen strich Mutter Reschke ein neues an. „Na so was“, sagte sie dann, die Lampe ansteckend, und fixierte dabei das Mädchen scharf, das mit rotem Kopf ganz verwirrt dastand. „Wat verschafft uns denn de besondre Ehre? Sonst is der Weg doch nich uffzufinden!“

„’n Abend, Tante“, flüsterte Mine schüchtern.

Frau Reschke schien die ausgestreckte Hand nicht zu bemerken, aber Herr Reschke sagte gutmütig: „’n Abend, Mine! Na, läßte der ooch mal bei uns sehen? Was machen se denn zu Hause? Wie jehts denn in de neue Stellung?“

„Nich sehr scheene!“ Mine ließ den Kopf tief auf die Brust hängen. „Mer hat doch so gar keenen!“

„Heimweh?!“ Herr Reschke lachte.

„Nu ja“, sagte Frau Reschke spitz, „wenn man seine Verwandten so hintenansetzt! Ick. muß jestehn, so was is mich denn doch noch nicht vorgekommen — “

„Laß doch, Amalchen“, unterbrach sie ihr Mann, „de Mine is ja doch nu jekommen!“

„Nu wenn schon! An ’n Sonntag, wenn weiter nischt los is! Wenn wochentags der Jrünkram in de Kirchbachstraße so ville besser is, da kann se sonntags ooch dahin jehn. Ick verzichte!“

„Nu, Maleken“, sagte Herr Reschke besänftigend, und Arthur flüsterte leise hinter Mines Rücken: „Sag, daß du hier kaufen willst! Rasch!“ Gott im Himmel, wenn die Verwandten ihr auch die Tür verschlossen! Arthur war vielleicht auch böse!

„Ich mechte ja gerne hier kaufen“, stammelte sie, „aber er schickt mer doch wo andersch hin! Was soll ich machen! Ach Jesses!“

„Na, so dumm!“ Die Tante höhnte sie gründlich aus. „Un brauchste ’s ihm denn uff de Nase zu binden? Der Schnapspantscher, der Jeizkragen, der olle Kamuff! Dem kann det janz egal sein, wo de für seine paar lumpigen Sechser inholst! De tust, als ob de in de Kirchbach rin jingst, aber wenn er der nich sieht, drehste ebent um un kommst rüber. Fertig!“

Mine wollte erwidern, daß das doch eigentlich nicht recht wäre, aber Frau Reschkes drohender Blick schüchterte sie ein; auch trat ihr Arthur mahnend auf den Fuß. So sagte sie denn — widerstrebend nur glitt es über ihre Lippen —, daß sie es so machen würde.

„Bestimmt?“

„Bestimmt!“ sprach sie nach.

Die Tante lächelte süß. „Setz der doch noch en bißken, Mine! Reschke, jeh, hol man en paar Weiße rin. Uff, die Hitze! Mine wird Durscht haben. Trude, jeh, leuchte Vatern! Von die jroßen Pullen, hörste?! So setz der doch, mein Dochter!“ Sie nickte Mine zu und streckte ihr, als Vater Reschke und Trude im Laden verschwunden waren, die breite Hand über den Tisch entgegen.

„Ne, Mine, wat ick mir freue, dir zu sehn! Ordentlich bange war mich schonst nach der! Was, Arthur“, — sie blinzelte ihrem großen Jungen zu, der blaß und schlenkrig am Tisch lehnte — „det konnte der wohl passen, mit so’n hübschet Mächen hier alleene zu schmusen?! Warte, ick wer’ der!“ Sie lachte und gab ihm einen freundschaftlichen Rippenstoß.

Das wurde noch ein sehr vergnügter Abend. Mine wurde ganz eingewickelt in Freundlichkeit. Der Onkel schenkte ihr immer wieder in ihr Glas zu, es wurde gar nicht leer; die Tante gab ihr allerhand gute Ratschläge und versprach, ihr bald eine bessere Stellung zu besorgen, als die drüben beim ollen „Schnapspantscher“ war. Trude band ihr von dem Krawattentüchelchen, das sie sich ungeschickt umgeknüpft hatte, eine „schicke“ Schleife, und Arthur wechselte zuweilen einen Blick des Einverständnisses mit ihr, der ihr wohltat.

Mine war sehr vergnügt; plötzlich fiel ihr ein: wo war Grete? Draußen hörte man jetzt den Wind heulen und den Regen auf die Steinplatten des Hofes klatschen; der schöne Spätsommernachmittag hatte sich in einen bösen Herbstabend verwandelt. Wo blieb das Kind?

„Ach so, de Jrete“, sagte Vater Reschke auf ihre Frage; die andern nahmen gar keine Notiz davon.

Nach einer Weile fragte Mine noch einmal, sie konnte den Gedanken an das stumme Mädchen nicht los werden. „Wo is se denn hin, de Grete?“ Elli, die bis dahin in der Sofaecke gedruselt hatte, schnellte plötzlich auf. „Die Jrete? Bei de Hallelujamächens is se! Hihihi!“

„Schon wieder bei de Hallelujamächens?“ Vater Reschke grinste. „Die wird an’n Ende ooch noch ’ne Kiepen-Jule!“

Alle lachten.

„Laß ihr man“, meinte die Mutter, „da is se jut uffjehoben.“

„Du, Elli, sing mal das Stück — ach, du weißt schon“, rief Trude.

„Ja, singe mal, Ellichen“, redete die Mutter zu.

Die Kleine zierte sich. „Ne! Ich bin müde!“

„Ach was, singe doch!“

„Singe, Ellichen, singe!“

„Wenn de singst, schenke ich dir ooch en Jroschen“, versprach der Vater.

Elli, die bis dahin mit verdrossenem Gesicht still dagestanden, schleuderte jetzt plötzlich mit einer gelenkigen Bewegung die Beine in die Luft; fast hätte ihre Fußspitze die Nase des sich zu ihr beugenden Vaters getroffen. Ihre gestärkten weißen Röckchen raschelten, wild flatterte ihre blonde Mähne. Schrill setzte sie ein:

„Ich bin die Josephine von die Heilsarmee,

Durch mich bekam die Chose erst ihr Renommee!—“

Alle Mäuler zogen sich breit, mit außerordentlichem Vergnügen lauschte die Familie.

„Wenn ich ’nen Haufen Männer seh,

Denn schieß ich jleich drauf los;

Als Missioneuse bin ich ja

Auch im Bekehren jroß —“

Immer lebhafter das Beingeschlenker, immer schriller der Gesang. Die Zuhörer starben fast vor Lachen. Trude quiekte und wand sich, als ob sie gekitzelt würde; Herr Reschke schlug sich ein über das andere Mal aufs Knie: „Haha—hoho!“ Frau Reschke hielt sich die Seiten: „Hör uff, Ellichen, hör uff! Ick platze—Jotte doch, ick platze!“ Kein Aufhören. Wie eine trunkene Mänade raste das kleine Mädchen. Der Vater trampelte mit den Füßen den Takt, die Mutter ächzte nur noch und wiegte sich hin und her.

Immer kühner wurden die Sprünge, immer kecker die Bewegungen. Nicht mehr gesungen, ohne Atem geschrien, stoßweise nur, kam der Refrain noch heraus:

„Ich bin — die Josephine — von die Heilsarmee“ —

Schallende Bravorufe, stürmisches Händeklatschen, Töne höchsten Entzückens.

Da — draußen vom Hof her eine klägliche Stimme, kaum verständliches Rufen!

Trude quietschte hell auf: „Die Josephine von der Heilsarmee!“ Vor Lachen taumelnd, stolperte sie nach der Hintertür, um der Schwester zu öffnen. Sie hatten alle das Klopfen nicht gehört.

„Na, kommste endlich?“ rief die Mutter; sie konnte vor Lachen kaum ein Wort vorbringen. Die ganze Familie lachte, als Grete, geblendet vom Lampenschein, verblüfft von der unerklärlichen Fröhlichkeit, die sie empfing, starr dastand.

„Steh nich so dammelig“, schrie die Mutter. „Wie siehste aus? Quatschnaß!“ Und der Vater rief: „’ne jebadete Kiepen-Jule!“

Und alle lachten, lachten: „Haha-hoho-hehe-hihi!“

Einen hilfesuchenden Blick warf Grete umher; ihre schmalen Wangen bedeckten sich mit einer fliegenden Röte, ihre Lippen bewegten sich zitternd. Ein Freudenschein glitt über ihr Gesicht, als sie Mine entdeckte.

Diese zog das Kind an sich. „Warum kommste nich bei mer, Grete?“ flüsterte sie ihr ins Ohr. „Komm doch!“

Und Grete flüsterte wieder: „Se ließ mir ja nich, se paßte mir uff!“ Ein Zucken ging durch ihren dürftigen Körper; beide Arme um den Hals der Cousine schlingend, wisperte sie in leidenschaftlicher Umarmung: „Ich hab Ihn jesehen —! Er war da — jetzt — heute — mitten unter uns! Bei uns, bei mir! Im Saal!“

Mine fuhr zurück; betroffen starrte sie die kleine, vom Regen triefende Gestalt an. Ein entrückter Glanz war in Gretes Augen.

*

Die ganze Woche über dachte Bertha an ihren Sonntag; schade, daß der nur alle vierzehn Tage war. Das war ein Tropfen für ihren Durst; sie amüsierte sich immer famos.

Ganz versunken konnte sie mitunter am Herd stehen und in die Flammen starren; und dann ließ sie im Geist noch einmal alle Bilder des Sonntags an sich vorüberziehen: das Gewühl der Menschen, die bunten Kleider, die lachenden Gesichter. Sie hörte die Tanzmusik und das Scharren der Füße, die Schmeichelreden, die man ihr zugeraunt.

Sie war sehr beliebt, man riß sich um sie. Leicht wie eine Feder flog sie im Tanz dahin, ihre hübsche Gestalt wirbelte von einem Arm in den anderen wie ein Blumenblatt, das der Wind treibt. Im tollsten Jagen behielt sie immer ihre gleiche kühle Frische; kaum, daß sich die zarte Röte auf ihrem blonden Gesicht um eine Schattierung vertiefte. Kein feuchter, verwirrter Schimmer kam in das klare Blau ihrer Augen, wenn sie einer verstohlen auf den Fuß trat oder ihr ein heißes Wort ins Ohr flüsterte; sie sah ihn groß an, ohne mit der Wimper zu zucken. Sie lachte nur hell, eigentümlich glashell; das machte die Männer ganz toll.

An einem ehrlichen Bewerber fehlte es ihr auch nicht; der Bursche Peters hatte seinen Dickkopf rettungslos in sie verschossen. War er auch keines Marschbauern Sohn sein Vater war Halbhufner auf der Geest —, so hatte er doch ein kleines Häuschen zu erwarten, zwei Kühe und ein Dutzend Schafe. Und hartnäckig schilderte er ihr sein Wandrup auf der baumlosen Heide als das Schönste auf der Welt. Abends kam er von seinem Burschengelaß, das, fünf Treppen hoch, oben auf dem Boden neben der Waschküche lag, zu ihr in die Küche heruntergeschlichen; dann saß er auf der Eimerbank und schnitzelte verlegen an einem Stückchen Holz, während sie am Herd lehnte, die Arme über die Brust gekreuzt, die Füße in zierlichen Lederpantöffelchen weit vorgestreckt.

Um ihren Mund zuckte ein Lächeln — das sollte ihr fehlen, einen heiraten, der nichts hatte! Das sah man ja hier bei Hauptmanns, was nutzte es denn, daß sie sich gern hatten? Immer das Billigste, und die alten Hosen vom Herrn wurden für Kurtchen zurechtgemacht. Die gnädige Frau drehte jeden Groschen um, dabei wurde sie so nervös, ganz unausstehlich, und kam in die Küche gelaufen und sagte: „Das ist ja, als ob Sie einen Ochsen braten wollten“, wenn noch ein paar Kohlen im Herd glimmten. Auch wollte sie’s durchaus nicht leiden, daß Peters abends in der Küche saß, da wurde zuviel Petroleum verbrannt. Wenn Peters nicht da war, blieb die Küche dunkel, und Bertha stand unten in der dämmrigen Haustürnische oder schwatzte im Reschkeschen Keller. Dagegen hatte die Frau Hauptmann nichts, mochte es Mitternacht werden, wenn nur das Mädchen morgen in aller Frühe wieder auf den Beinen war.

Nun war es Winter, wenigstens dem Kalender nach, dem Wetter merkte man es nicht an. Kein Frost; Regen alle Tage. Der Reschkesche Keller glich einer dampfigen Höhle, in der man Gestalten auf- und niedertauchen sah wie höllische Wesen in einem brodelnden Hexenkessel.

Frau Reschke hatte abends nicht Sitzgelegenheiten genug für alle Besucher; auch Herren fanden sich ein, Bräutigame aus der Nachbarschaft, die ihre Bräute wenigstens einen trockenen Augenblick genießen wollten. Wenn Mutter Reschke besonders guter Laune war, öffnete sie einem wartenden Bräutigam ihr Privatzimmer und rief dem eiligst herbeistürmenden Mädchen wohlwollend zu: „Machen Se man, er is schon drinne! Da sind se janz unjestört!“

Nur Elli saß in der guten Stube. Aber die war ja noch ein Kind. Mine und Bertha trafen sich morgens oft im Keller. Frau Reschke hatte ihrer Nichte die Empfindlichkeit gegen Bertha ausgeredet. „Sei nich so tück’sch, Mine, eene Hand wäscht de andre. Un is se denn nich ein nettes Mächen?“

Das fand Mine auch und eine besondere Anhänglichkeit zog sie immer wieder zu jener hin; Bertha war ihr ein Stück Heimat, die ihr im Gewühl der Stadt, im Getriebe der Tage mehr und mehr zu entschwinden drohte. Die von daheim schrieben selten. Neulich hatte der Vater Malen einen Brief diktiert, da stand aber weiter nichts drin als: „Wir sind alle gesund“, und dann kam eine lange Litanei von Geschenken, die sie sich bei ihr zu Weihnachten bestellten. Kein Wort von dem, was Mine gerne hören wollte. Sie ärgerte sich, als sie langsam den Brief sinken ließ, den sie voller Freude hastig aufgerissen.

Sie beklagte sich bei Bertha. Diese lachte: „Sei nich so geizig!“

„Ne, ne, das is es nich bloß! Aber daß se so gar nich nach mer fragen!“

„Ä was! Schick ihnen was, un denn is ’s gutt. Ich hab Mutter ooch schon was geschickt; die is nu wie ’n Ohrwürmchen.“

Bertha hatte recht, sie stand mit ihrer Mutter jetzt auf sehr gutem Fuß, auf besserem, als es je zu Hause der Fall gewesen. Frau Fidler ging im ganzen Dorfe herum und zeigte das Tuch, das ihr die Tochter aus Berlin geschickt hatte; sie machte sich recht groß damit.

Bertha hatte das Tuch, ein seidenes, buntgestreiftes, bei Rosalie Grummach billig erstanden. Sie kaufte mit Vorliebe in dem düsteren Trödellädchen; da gab’s viel abgelegte Damengarderobe. Mit funkelnden Augen durchstöberte sie den ganzen Kram; Mutter und Tochter Grummach, zwei lichtscheue, großnasige Geschöpfe mit einem unendlichen Wust verfilzter krauser Haare, schleppten bereitwillig und anpreisend herbei. Bertha war eine gute Kundin; wenn ihr Sinn nach etwas stand, dann mußte sie’s auch haben. Sie ließ was draufgehn. Kein Wunder, daß die beiden Grummach’s, die wie Eulen aus dem Versteck der alten Kleider hervorlugten, auf sie losschossen, sowie sie vorüberging. Mit einem fröhlichen Gelächter probierte sie dieses und jenes an und drehte sich vor dem Spiegel, den ihr die Tochter diensteifrig vorhielt, während die Mutter sich in Schmeichelreden und Beteuerungen enormer Billigkeit erschöpfte. Der ganze Lohn ging manchmal drauf; mitunter schon etwas vom nächsten im voraus.

Bertha borgte sich öfter eine Kleinigkeit von Mine; die gab zwar mit einem gewissen Zögern, aber abzuschlagen wagte sie’s der Freundin doch nicht. Sie konnte sich nur nicht enthalten zu knurren: „Du hast doch siebzig Taler, fünfundzwanzig mehr wie ich — ich weiß nich, wo de’s läßt!“

„Ich ooch nich!“ Und Bertha lachte. Das Geld zerrann ihr unter den Fingern wie gar nichts. Daß sie sich ab und zu mal ein Törtchen kaufte, einen Berliner Pfannkuchen oder einen Windbeutel mit Schlagsahne, dafür konnte sie nichts, das mußte sie; das Essen bei Hauptmanns war nicht reichlich.

Beim Kaufmann drüben gab’s jetzt statt Seife eine Tafel Schokolade zu, die war jedesmal in einer Minute aufgeknabbert, und doch knurrte ihr der Magen. Siebzig Taler — damit war eben nicht auszukommen! Sie mußte mehr haben.

Frau Reschke riet ihr, nur noch das Weihnachtsgeschenk abzuwarten und dann am ersten Januar zu kündigen. „Passen Se man uff, zehn Dienste um eenen!“

Als der Termin näherrückte, war es Bertha doch nicht ganz wohl zumute. Sie versäumte jetzt nicht, sich jedesmal ganz außer Atem zu stellen, wenn sie die vier Treppen heraufkam; mochte die Gnädige denken, das viele Treppensteigen sei ihr zu schwer. Nun war der Weihnachtskarpfen im Haus. Das war eine Seltenheit, denn sonst gab es nur billigen Seefisch. Zitternd vor Aufregung umstanden die Kinder den Küchentisch. Ein Fisch, ein lebendiger Fisch! Da lag er, ein mächtiges Tier, dessen Schuppen goldig glänzten und das kräftig mit dem Schwanze schlug.

„Hat er Moos auf dem Kopf?“ fragte Kurt.

„Da hat er Moos“, sagte Bertha lachend und hieb dem Fisch mit der hölzernen Rührkeule eins auf den Kopf.

„Verstehen Sie denn auch damit umzugehen?“ fragte die Hauptmännin, einen Augenblick in die Küche guckend.

„Natürlich, gnäd’ge Frau!“ Bertha hatte keine Ahnung, aber so etwas gesteht man doch nicht ein. Sie machte sich daran, den Fisch zu schuppen; „lebendig schuppen“ hatte sie mal gehört, „dann geht’s besser“.

Der Karpfen lag ganz still, wie betäubt; das Messer blitzte, die Schuppen flogen — aber jetzt krümmte er sich zusammen wie im Krampf — jetzt schnellte er jäh in die Höhe. Hoch im Bogen sprang er vom Küchenbrett auf die Diele und glitt zappelnd dort umher.

Die Kinder schrien laut auf vor Schreck. Bertha packte ihn und warf ihn wieder aufs Brett; auch ihr war ängstlich zumute, aber sie unterdrückte das. Mit einem Lachen machte sie sich Mut. Nun rasch! Was? Einem noch die Schürze schmutzig machen?

Unruhig schlug der Fisch. Sie hieß den Knaben mit einem Tuch den glatten Schwanz festhalten. Sie wetzte das Messer scharf. Schuppe nach Schuppe. Die großen, seelenlosen Augen des Geschöpfes starrten, sein Maul tat sich auf — stumm, stumm! Blut floß, hell sickerte es unter den Schuppen vor. Den kleinen Kurt grauste es, er ließ den Schwanz fahren — da — ein Schrei der Kinder, ein Schrei Berthas — mitten ins Gesicht war der Fisch ihr geschnellt. Sie ließ das Messer fallen, ihr Lachen erstarb — au, das tat weh!

„Biest!“ Er glitschte ihr unter den Händen durch; nun rutschte er wieder auf die Diele, sie rutschte kreischend hinterher — hierhin, dorthin, da, dort — gradeaus, seitwärts — jetzt hatte sie ihn — jetzt war er unter dem Stuhl, unter dem Tisch. Die Kinder drängten sich auf einen Haufen, das kleinste fing an zu weinen.

„Willste wohl?!“ Die Schürze wurde ihr total schmutzig, jetzt achtete sie nicht mehr darauf. Ihre Hände griffen unruhig umher, eine Aufregung bemächtigte sich ihrer, eine sonderbare Gereiztheit, ein Zorn gegen das Vieh, das ihr so viel Wirtschaft machte. Eine Blutwelle stieg ihr heiß zu Kopf, ihre Lippen zuckten.

„Hab ich dich!“ Jetzt hatte sie ihn. Fest wie mit Eisenklammern packte sie ihn. Weit sperrte er das Maul auf — da — sah er nicht grimmig aus, schnappte er nicht nach ihrem Finger?

„Was, noch beißen?“ Ihre Zähne knirschten, ein Funkeln glomm in ihren Augen auf. „Dir wer ich lehren!“ Sie drückte den Zappelnden nieder, sie kniete auf ihm: „Biest! Biest!“ Zornig schrie sie, ihr Mund verzerrte sich.

Mit Gezeter stoben die Kinder aus der Küche. Als die Hauptmännin auf das Geschrei herbeieilte, fand sie Bertha mit hochrotem Kopf über den Fisch gebeugt, einen seltsamen Zug in dem noch lachenden Gesicht.

Das blutige Messer lag auf der Diele, mit beiden Händen riß sie dem in letzten Zuckungen sich bewegenden Tier das Eingeweide heraus. „Er wehrt sich noch — ha!“

„Diese Personen sind alle unglaublich roh“, sagte Frau von Saldern ganz entsetzt zu ihrem Mann.

Und doch, wer konnte sagen, daß Bertha roh war? Sie ließ sich gern rühren. Jede Woche kaufte sie für zwanzig Pfennige ein Heft vom Kolporteur, der die Hintertreppe heraufgeschlichen kam, mitunter auch zwei Hefte. Sie konnte gar nicht genug lesen von der betrogenen Unschuld armer Mädchen, von den reichen Verführern, von den geheimnisvollen Schandtaten der großen Stadt.

Nachts lag sie in ihrer kalten Kammer — die verklammten Hände hielten das Heft kaum und las. Die Kerze, die sie dem Kronleuchter im Salon entnommen, flackerte in dem feinen Zugwind, der durch die Ritzen des schlecht schließenden Fensterchens drang, und warf lange seltsame Schatten auf die weißgetünchte Wand. Sie las und las. Ein feuchter Moderhauch strich durch die nie geheizte Kammer, fröstelnd zog sie das Tuch, das sie über ihre Nachtjacke geknüpft, fester um sich. Mitternacht; es wurde eins, auch noch später. Endlich löschte sie das Licht, schüttelte sich in wollüstigem Grausen und zog die Decke bis zum Kinn. Liebes- und Mordgeschichten nahm sie mit hinüber in ihren Traum.

Am ersten Januar kündigte Bertha. Sie tat es sehr bescheiden, mit einem gewissen Bedauern in Ton und Haltung, es sei ihr sehr unangenehm, aber sie fühle es deutlich, die vier Treppen griffen ihr die Brust an.

Die Hauptmännin war wie vom Donner gerührt, sprachlos sah sie in das frische, rosige Mädchengesicht, dessen Augen, blank vor Gesundheit, in die Welt strahlten.

„Un denn, gnäd’ge Frau —“ Bertha hielt es für gut, offen zu sein, vielleicht ließ sich die Madam schrauben. Wenn sich grade jetzt kein besonders glänzender Dienst fand, würde sie am Ende mit Zulage noch bleiben und auf Besseres warten. „Ich brauche zuviel Schuh auf den Treppen. Wa-s ich zerreiße — ne, ich kann’s nich aufbringen! Mit siebzig Taler — unmöglich!“

„Es ist das Äußerste, wir können nicht mehr geben“, sagte die junge Frau tonlos. Sie schien traurig; lange stand sie am Fenster der Wohnstube, die Hände um den Fenstergriff gelegt, und starrte umflorten Auges auf die winterlich düstere, regenfeuchte Straße hinab, dann wieder hinauf zum nebelverhangenen, düsteren Himmel. Ließ sie denn nicht fünf gerade sein, kontrollierte kein Mädchen, drückte nicht nur eins, nein, beide Augen zu! Und behielt doch keinen Dienstboten! Das Geld, das Geld! Ja, wer achtzig, neunzig, hundert Taler geben konnte, der hatte tüchtige und anhängliche Leute!

Sie sah so bekümmert aus, daß Bertha, als sie hereinkam, um den Tisch zu decken, in einer ihrer plötzlichen Anwandlungen von Herz sagte: „Gnäd’ge Frau, ich wüßte wohl’n Mädchen für gnäd’ge Frau!“

„So?“ Etwas belebt drehte sich Frau von Saldern um.

„Meine Freundin will sich gern verändern.“ Bertha hatte erst gestern von Mine drei Mark geborgt und überlegte nun rasch, wie wenig diese nach den drei Mark fragen würde, wenn sie ihr fort aus der Destille half. Und verpflichtete sie sich nicht zugleich der Frau Hauptmann, wenn sie ihr ein neues Mädchen verschaffte? Die würde es ihr beim Zeugnisschreiben danken. So lobte sie denn die Freundin auf alle Tonarten: Ehrlich, fleißig, bescheiden, gewandt und so weiter.

„Wo dient sie denn jetzt?“

„In ’nen Restorang!“ Und dann nach kleiner Pause: „Drüben, Kirchbachstraße, an der Ecke.“

„Was, in der Destillation — ?“

Frau von Salderns Gesicht wurde lang.

„Mein Gott, ich kann doch nicht ein Mädchen aus solchen Umgebungen nehmen!“

„Seien Sie ganz beruhigt, gnäd’ge Frau“, versicherte Bertha, „ein hochanständiges Mädchen, sie is mit mir aus einem Ort. Sie hat eben Pech gehabt. Sie paßt ganz für gnädige Frau, groß, stark — gnäd’ge Frau haben sie ja mal gesehen, unten im Keller bei Reschkes.“

„Ja, ja, ich erinnere mich. Aber so wenig repräsentabel!“ Die junge Frau seufzte. „Wenn die die Tür aufmacht, sieht das ja nach gar nichts aus!“

Nach was aussehen soll sie auch noch? schwebte es Bertha auf der Zunge; aber sie unterdrückte die Bemerkung und sah mit einem kleinen, wohlgefälligen Lächeln an der eigenen Gestalt herunter. „Ach, wenn die erst im hochherrschaftlichen Hause is — gnäd’ge Frau werden sehen — denn macht sie sich bald ’raus!“

So entschloß sich Frau von Saldern, Mine zu mieten. Man kam auf fünfundfünfzig Taler überein, was ihr für dies wenig ansprechende Dienstmädchen reichlich genug schien.

Mine war glückselig. In der Freude ihres Herzens umarmte sie Bertha immer wieder. Das würde sie der nie vergessen! Es beeinträchtigte ihre Seligkeit keinen Augenblick, daß der Destillateur ihr ins Zeugnis schrieb: „Träge, langsam, spricht immer gegen, sonst ehrlich.“ —

Bertha steckte jetzt mehr denn je im Reschkeschen Keller. Dienste hatten sich ihr genug geboten, aber die Reschke hatte ihr energisch davon abgeredet; die waren in entfernten Straßen, und Mädchen, die viel bei ihr kauften, gab Frau Reschke nicht gern weit weg. Endlich, kurz vor dem Ersten, fand sich etwas. Frau Reschke las es in der „Vossischen“, die sie sich für fünf Pfennige die Stunde drüben vom Kaufmann holen ließ.

„Für herrschaftlichen Haushalt, Potsdamer Straße 72, wird zu sofort gewandtes Hausmädchen gesucht, gegen hohen Lohn.“

Das „gegen hohen Lohn“ war fett gedruckt. Sofort schickte die Reschke Elli zu Bertha hinauf. Diese ließ alles im Stich, die Küche halb aufgeräumt, das Geschirr vom Mittag unabgewaschen, die Kinder allein — Hauptmanns waren ausgegangen — stürzte in ihre Kammer und wählte da lange. Wie sollte sie sich kleiden? Wenn sie nur gewußt hätte, wie’s die Leute Potsdamer Straße 72 liebten! Endlich entschloß sie sich für ein einfaches Waschkleid. Es fror sie zwar, als sie in dem dünnen Fähnchen über die Straße lief, aber das Bewußtsein, wie doppelt rosig ihr Gesicht über dem Weißblau der Taille leuchtete, half ihr darüber hinweg.

Ganz geblendet kam sie von ihrem Ausgang zurück, den Mietstaler in der Tasche. Man hatte sie in einen Salon eingelassen, in dem die gnädige Frau in seidnem, spitzenbesetztem Negligé auf dem Ruhebett lag und in einem Buch las.

Prachtvolle Gardinen verhüllten die Fenster, der Fuß versank in einem dicken Teppich; Bilder in breiten Goldrahmen hingen an den Wänden, aus dem Kronleuchter sprossen gläserne Blumen hervor. Überall kostbare Nippes und Ständer und Möbel in Überfülle. Bertha atmete tief auf: so war es bei Hauptmanns nicht! Da stand alles so vereinzelt; im Salon Sofa, Tisch, Sessel, Pianino und ein rundes Marmortischchen mit Lampe — das war alles. Der Teppich reichte nicht einmal durch die ganze Stube. Hier wagte sie vor Bewunderung kaum die Füße zu setzen; aber ihr Bild, das ihr aus dem geschliffenen Spiegelglas überm Kamin entgegenlächelte, machte ihr Mut.

Frau Pahlke war die Witwe eines reichen Mannes und schwärmte für Kunst. Und durch die Kunst für die Schönheit. Sie engagierte nie häßliche Dienstboten. Berthas anmutige Erscheinung nahm sie sofort ein; diese hübsche Person mußte sich immer in rosa kleiden, mit weißem Häubchen und geschickter Tändelschürze. Nach wenig Fragen war Bertha engagiert, kaum hatte sie noch nötig, das treffliche Zeugnis vorzulegen, das ihr der Hauptmann auf Wunsch seiner Frau schon ausgestellt. Nach der Zusicherung von achtzig Talern und fünf Talern Zulage nach dem ersten Vierteljahr empfahl sie sich.

Auf dem teppichbelegten Korridor mit den vielen Türen, die ihre neugierigen Blicke zu durchbohren suchten, begegnete ihr ein junger, eleganter Mann und musterte sie im Vorbeistreifen.

„Der junge Herr“, flüsterte das Mädchen, das sie herausließ, mit vielsagender Miene.

Bertha stürzte sofort in den Reschkeschen Keller, ihr Glück zu verkünden. Dort hatte der Abendsturm noch nicht begonnen; so fand Frau Reschke Zeit zu angemessenen Ratschlägen für die neue Stellung. Sie saßen zu zweit auf der umgestülpten Tonne, Rücken gegen Rücken gelehnt.

Die Junge blickte nach der Treppe, über die wenigstens ein schwacher Strom Luft sich von oben herunter stahl, und lauschte lächelnd. Die Alte guckte zurück in ihr Kellerloch, das finster gähnte, und schwatzte unaufhörlich mit heiserer, eindringlicher Stimme.

Die Petroleumhängelampe, die qualmig und verstaubt unterm niedren Gewölbe schaukelte, warf trübgelbe, schmutzige Schatten auf beide Gesichter.

Das tägliche Brot

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