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III.

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Die Reschkesche Wohnung bestand außer dem Laden und dem großen Zimmer hinter der Glastür, wo das Piano stand und das durch einen Kattunvorhang verdeckte Bett des Ehepaares, aus einer Kammer und einer winzigen Küche. Rechts vom guten Zimmer war noch ein fensterloser niedriger Raum, in dem Kartoffeln und Scheuersand aufgeschüttet lagen und ein paar große Hunde herumlungerten. Mit ihnen fuhr Reschke zum Markte.

Schon des Morgens um drei konnte man ihn auf dem Hof herumschlorren und den Hunden pfeifen hören. Von dem Karren, der im feuchten Hofwinkel stand, zerrte er die Plane herunter und jagte Flick und Flock, die ihn mit eingekniffenem Schwanz umschlichen, mit einem Strickende vor die Deichsel. Herr Reschke spannte an. Sein Ideal war, einmal einen ausgedienten Militärgaul zu besitzen und mit diesem, wenn der Sonntag die Reihe der täglichen Marktfuhren unterbrach, am Nachmittag seine Familie in den Grunewald zu kutschieren. Aber bis jetzt hatte es immer noch nicht zur Equipage gelangt. Arthur sollte studieren, und das kostete viel Geld. So setzte er sich auf den Karren und fuhr einstweilen noch mit den Hunden zur Zentral-Markthalle; die hochbeinigen mageren Bestien jagten durch die noch nächtlich stillen Straßen, als hätten sie den Teufel im Leibe. Wenns not tat, war er um vier schon an Ort und Stelle. Dann ging das Feilschen los, das Bieten und Überbieten bei den Auktionen, das Durchdrücken und Durchpuffen zwischen all den kleinen Handelsleuten, welche sich um die noch vom Bahntransport verpackten Körbe drängten. Kam Vater Reschke aber mit der hochbeladenen Karre, die die Hunde jetzt mühsam durch die lebendiger werdenden Straßen zogen, nach Hause, dann legte er sich wieder in das von der stattlichen Korpulenz seiner Ehehälfte noch angenehm durchwärmte Bett und schlief bis Mittag. Mochte die verborgene Klingel noch so oft bösartig gellen, er schnarchte tief.

Die Kammer, deren niedriges Fensterchen unterm Niveau des Hofes lag und vor deren ewig verstaubten Scheiben der Zugwind allen Kehricht zusammenblies, war dem ältesten Sohne eingeräumt. Ängstlich wachten Vater und Mutter darüber, daß Arthur nicht gestört wurde, wenn er dort bei seinen Büchern saß. Sie hatten sich’s nun einmal in den Kopf gesetzt, der Älteste sollte studieren. Man wußte dann doch, wenn man einen „Herrn Doktor“ seinen Sohn nannte, wofür man sich geschunden hatte. „Er ist sehr helle“, sagte Reschke; seine Frau hatte ihm das eingeredet, auch verfehlte dieser nie, hinzuzusetzen: „Außerordentlich bejabt! Der wird was!“ Amalie Reschke betrachtete ihren Arthur als ein teures Vermächtnis jenes „Herrn Doktor“, der, als sie und ihre Mutter möbliert vermieteten, bei ihnen gewohnt hatte. „Beinah wär ich Frau Doktor geworden“, erzählte sie noch mit Stolz, „wenn er nich an die Jalloppierende jestorben wäre!“ Gerührt wischte sie sich eine Träne aus dem Auge. Ja, sie trug ihren „Herrn Doktor“ noch in gutem Andenken, wenngleich sie damals, in seinen letzten Krankheitswochen, schon angefangen hatte, mit Herrn Reschke „zu gehen“. Reschke war zu jener Zeit Hausdiener in einem Materialwarengeschäft; von seinen Ersparnissen und den mehreren hundert Mark, die der Herr Doktor hinterlassen, gründeten sie einen Grünkram.

In der winzigen Küche schlief die älteste Tochter, Trude, die bei Wertheim Verkäuferin war. Siebzehn Jahre war sie, und obgleich sie im Küchentisch schlief, der nachts zu einem Bett auseinandergeklappt wurde, und obgleich sie sich unter der Wasserleitung waschen mußte, sah sie aus wie eine kleine Dame. Zierlich saßen ihr die billigen Lackschuhe und der buntgewebte Strumpf, den sie gern zeigte, wenn sie, ihr Kleid hebend, auf die Pferdebahn sprang. Sie hielt etwas auf sich. Da sie’s weit zum Geschäft hatte, gestatteten ihr die Eltern für den Winter ein Pferdebahnabonnement; aber sie löste es nur für kurze Zeit, dann lief sie lieber heimlich sich außer Atem und schaffte von dem so erübrigten Geld ein Jackett an, ganz nach der neuesten Mode, von geringem Stoff, mörderisch dünn, aber „schick bis aufs Tüffelchen“. Sie war ganz verliebt in ihr Jackett, es machte so voll in der Brust, so schlank in der Taille; an keinem Schaufenster konnte sie vorübergehen, ohne sich darin zu bespiegeln. Die lange Federboa flatterte ihr bis auf die schmalen Hüften, in ihren durchsichtig zarten Ohrläppchen einer Bleichsüchtigen glitzerten ein paar Glasdiamanten, die kleine Stumpfnase mit den beweglichen Flügeln guckte in die Luft, hinter den blassen, etwas zu vollen Lippen blinkten die weißen Zähne mit krankhaft perlartigem Schmelz. Morgens stand sie eine gute halbe Stunde früher als nötig auf, obgleich sie wer weiß was drum gegeben hätte, noch neben der Schwester Grete im Küchentisch weiter zu schlafen. Sie war immer müde; aber es half nichts, das Haarbrennen dauerte lange. Da lag sie, zähneklappernd im kurzen, roten Wollunterröckchen, auf den Knien vor dem kleinen Stehspiegel, den sie auf den Herdrand plaziert. Zwanzig-, dreißigmal mußte sie die Brennschere in den Zylinder der Küchenlampe stecken, bis alle Wellen des reichen Haares kunstgerecht saßen und an den Seiten mächtig aufgebauscht, den kleinen Kopf unnatürlich verdickten.

Die zwölfjährige Grete war ein armes Wurm, dessen Sprache man kaum verstand. Ihrem Wolfsrachen hätte wohl beizeiten durch eine Operation, durch einen „Verschluß der Gaumenspalte“, wie der Arzt gesagt hatte, abgeholfen werden können; aber Reschkes waren nicht für so was, das kostete zu viel Geld, geringsten Falles Zeit. Vielleicht, daß die Geschichte von selber wieder in Ordnung kam. So blieb Grete die lächerliche Figur für die Geschwister; da sie infolge ihres Fehlers auch nur langsam schlucken konnte, aßen sie ihr das Beste vor der Nase weg. Sie hatte sich nach und nach das Sprechen fast abgewöhnt; als sie verständiger geworden, genierte sie sich. Stumm und scheu drückte sich das blasse, kränkelnde Mädchen an den Wänden entlang; im Laden durfte sie sich nicht sehen lassen, da jagte die Mutter sie gleich hinaus.

Mit der kleinen Elli machten Reschkes desto lieber Staat. Das war „ne findige Kröte“, wie Vater Reschke schmunzelnd sagte; mit ihren sieben Jahren klüger als manch andere, die doppelt so alt war. Die ganze Kundschaft amüsierte sich über sie. Mit ihrer spitzigen Kinderstimme sang sie die beliebtesten Couplets; hatte sie nur einmal eins gehört, gleich hatte sie’s weg. Sie schlief als Nesthäkchen bei den Eltern, in der guten Stube auf dem Sofa.

Es hatte einige Schwierigkeiten gemacht, Mine und Bertha für die Nacht unterzubringen; denn auch letztere dazubehalten, war Frau Reschke willens, zwanzig Pfennige Schlafgeld pro Person und dreißig pro Person fürs Essen. Mine war wie vom Donner gerührt — bezahlen?! Da brauchte man doch nicht zu Verwandten zu gehen und obendrein noch Eier mitzubringen! Sie wollte vor lauter Bestürzung grob werden, aber Bertha trat ihr verstohlen auf den Fuß und sah sie aus den blauen Kinderaugen so mahnend an, daß sie nichts sagte. Nachher flüsterte ihr Bertha zu: „Halt’s Maul! Meenste, ich wer’ mer nachher noch lang mit de Reschken aufhalten? Aber jetzt müssen wer still halten, bis se uns en gutten Platz ausgemacht hat.“ Und Mine sah das ein.

Bertha war den Abend von anhaltender Fröhlichkeit, von großer Anstelligkeit gewesen, half hier, half da und hatte die Augen überall. Als sie, nach Schluß der blaulackierten Türen, Mutter Reschke noch den Laden aufräumen half, war diese ganz begeistert. „Nee, so’n Mächen! Ne, so was! Sie machen Ihr Jlück, det ’s jewiß!“

Auch Reschke blickte schmunzelnd auf, als seine Frau mit Bertha in der Wohnstube erschien. Da war es sehr langweilig zugegangen. Arthur, die Ellbogen aufgestemmt, den Kopf zwischen beide Hände gestützt, stierte in ein Buch; Trude war noch nicht aus dem Geschäft zurück; Elli saß am Pianino und klimperte eine Tonleiter, die ihr das Klavierfräulein aufgegeben; Grete hockte stumm im dunkelsten Winkel. Vater Reschke gähnte, die Augen wollten ihm zufallen; die große Weiße, die er „bei’s Bücherführen“ zu leeren pflegte, war längst ausgekippt. Neidisch spitzte er die Ohren, wenn draußen im Laden Berthas helles Gekicher sich mit dem fetten Lachen seiner Frau mischte. Die Mine war doch gar zu traurig; die saß steif auf dem Stuhl, verzog keine Miene, sprach nicht, hatte die Hände in den Schoß gelegt und rührte sich nicht. Es paßte ihr alles nicht. Im stillen hatte sie doch erwartet, die Verwandten würden den Besuch, der von so ewig weit herkam, ein bißchen mehr „aufnehmen“. Da war’s bei ihnen zu Hause doch besser; wenn sie auch nicht soviel Geld hatten, einen Kuchen von Weckteig, mit Belag von Pflaumenmus oder Quarkkäse, gab’s bei jeder besonderen Festlichkeit. Sie würgte an einer großen Enttäuschung.

Und die Enttäuschung hielt an, als sie sich zu Bertha in das Küchentischbett legte, neben welches die stumme Grete sich einen Strohsack schleppte. Trude, die um elf dreimal an die blaulackierte Tür getrommelt hatte — das war ihr Zeichen — schlief mit Elli auf dem Sofa in der guten Stube.

Mine konnte nicht schlafen, eine ungeheure modrige Schwüle nahm ihr den Atem; sie streifte sich das Bett vom Halse und legte die Arme obenauf. Es wurde doch nicht besser. Im Dunkeln lag sie mit brennenden Augen und glaubte Tropfen von den Wänden, die bei Lampenschein so seltsam glitzerten, niederfallen zu hören.

Ein schauerliches Rasseln ließ sie zusammenfahren; sie tastete nach dem warmen Körper Berthas und flüsterte erschrocken: „Hörste?!“ Die schlief ruhig weiter.

Das prasselte und schnaufte und ächzte! Ein abergläubisches Entsetzen packte die Wachende, sie setzte sich aufrecht im Bett und lauschte — nun wußte sie’s, die stumme Grete schnarchte.

„Biste stille“, schrie sie in unterdrücktem Ton und klopfte an die als Seitenwand aufgeklappte Platte des Küchentisches. Das Rasseln verstummte, und ein leises Knistern des Strohsackes verriet, das die Kleine erwacht war.

Eine schwere Mattigkeit überkam Mine, die Glieder waren ihr wie gelähmt; klebriger Schweiß rann ihr in der dicken, von vielen Lungen verbrauchten Luft am Gesicht nieder, ihr ganzer Körper war übergossen davon. Für kurze Augenblicke umnebelten sich ihre Gedanken — sie glaubte, daheim im Golmützer Forst ins Moor geraten zu sein, zäh und schlammig hing sich’s ihr an die Füße und zog sie tiefer und tiefer; ein scheußlich stinkender Moderduft stieg auf. Sie wollte den Arm heben, sich ans rettende Schilf klammern, — der Arm ließ sich nicht heben, starr, wie tot lag er auf der Decke.

Jetzt wachte sie wieder; und jetzt, gerade, als sie aufschreien wollte: „Diebe!“ fiel ein heller Schein über ihr Bett, und unter ihren blinzelnden Lidern vor sah sie den Onkel, notdürftig bekleidet, torkelnd vor Müdigkeit, auf den Herd zutappen. Er nahm das braune Kaffeetöpfchen aus der noch warmen Asche und tappte wieder hinaus.

Also es war Morgen! Das gab ihr eine Art von Beruhigung; endlich fielen ihr die Augen zu. Sie schlief fest, aber sie träumte Entsetzliches, mattete sich ab in einem vergeblichen Kampf, rang nach Luft, in einem erstikkenden Brodem. Ein kalter Finger, der sie unter der Nase kitzelte, erweckte sie. Sie schlug mit den Armen um sich und wußte nicht, wo sie war.

Die winzige Küche war voll von Menschen. Arthur stand an der Wasserleitung und ließ Wasser in seinen Krug plätschern; Elli sprang im Hemdchen um ihn herum und trieb allerlei Faxen. Vor dem Spiegelscherben kniete Trude, im kurzen Röckchen, und brannte sich den ganzen Kopf voll Locken, während Bertha, in einer ihrer Nachtjacken mit Häkelspitze, dabei stand und aufmerksam zuschaute.

„So müssen Sie sich auch die Haare machen“, riet Trude, „das is schick“.

„Wer’ schon“, sagte Bertha, „später! Jetzt kleid mer das“ — sie strich sich mit beiden Händen über ihr glattes Köpfchen — „noch ganz gutt!“ Sie hatte recht, sie sah bildhübsch aus mit dem glattgesträhnten, weichen Blondhaar, das ein dichtes Flechtennest über dem gar nicht verbrannten, milchweißen Nacken bildete.

Arthurs Krug lief über, das Wasser plätscherte auf den Boden, er hatte nicht acht darauf, seine Augen richteten sich starr auf das hübsche Mädchen und verschlangen dessen Gestalt.

„Du Schlemihl“, schrie Trude, „Gib doch Achtung, das Wasser spritzt mer ja auf die Frisur!“

„Na, wenn schon!“ Nun drehte er den Leitungshahn so weit wie möglich auf, daß das Wasser nach allen Seiten sprühte.

Elli kreischte laut vor Vergnügen; wie eine Balletteuse ihr Hemdchen mit spitzen Fingern fassend, schwenkte sie die Beine und piepte in höchster Höhe: „Ach Schaffnehr, lieber Schaffnehr, was haben Sie jetan?!“ Das war ihr Leib- und Magenstück; im Wintergarten, wohin ihre Eltern sie am ersten Osterfeiertag-Abend mitgenommen, hatte sie’s gehört.

Die anderen lachten, nur Mine nicht, sie war ärgerlich, daß sie verschlafen hatte, und wollte gern aufstehen.

„Langschläfern, man fix“, rief Trude und wollte ihr das Deckbett wegziehen. Mit einem Schrei riß Mine es wieder über sich und warf einen ängstlichen Blick nach Arthur hin.

Dieser fing den Blick auf. „Man los! ich wer’ euch nischt abkucken!“ Er stellte sich breitbeinig hin.

„Er soll rausgehen“, jammerte Mine.

Trude schrie vor Lachen.

„Ach Schaffnehr, lieber Schaffnehr“, kreischte Elli.

Die Wasserleitung plätscherte, oben übers Pflaster rasselten Milch- und Gemüsewagen, an der Fensterluke trappten Arbeiterstiefel vorüber; es war ein Höllenlärm.

„Ruhe“, rief Bertha in alles Getöse hinein. Lachend faßte sie Arthur an den Schultern und schob ihn, ehe er sich’s versah, zur Küche hinaus. Als er ihr einen raschen Kuß aufdrücken wollte, wich sie geschickt aus, entschlüpfte ihm, schlug die Tür vor der Nase zu und drehte den Schlüssel um.

Nach ein paar Minuten drückte jemand von außen auf die Klinke.

„Wer ist da?“

„Nanu“, schallt die Stimme der Reschke, „was soll denn det heißen? Injeschlossen?! Det is nich Mode hier, bei uns kann allens jesehen werden; zu verberjen haben wir Jott sei Dank nischt!“ Sie war schlechter Laune, Reschke war eben wiedergekommen und hatte empörend teuer eingekauft. Den Weißkrautkopf zehn Pfennige im Engros, und die Metze Pflaumen drei Mark! Wenn man berechnete, was einem davon alles verdarb, wie sollte man da etwas verdienen?! Sie rüttelte ganz gefährlich an der Tür.

Bertha schloß rasch auf.

Frau Reschke war noch in Morgentoilette, die aus Unterrock und Nachtjacke bestand. Der starke Busen hing ihr bis auf den mächtigen Leib; in niedergetretenen Filzschuhen schlotterte sie zum Herd. „Wenn ick so lange in de Klappe liejen wollte!“ brummte sie mit einem grimmigen Blick auf Mine, die eben im Begriff war, ihre Strümpfe anzuziehen. „Macht man, daß ihr hier raus kommt! Jeh, Elli, mein Herzblatt, jeh, lege dir noch en bißken bei Papan! Ne, wenn ick det jeahnt hätte, so’n Jeruder!“

Stürmisch rasselte sie mit den Herdringen, durchstocherte die Asche nach ein paar Funken und setzte einen großen Blechtopf mit Wasser auf.

„Mine, wenn de deine Tojilette beendet hast, jeh man bei Onkeln durch — aber leise — rechts in den Keller! Hol den Waschzuber her, er steht mank de Kartoffeln. Ik wer dir de weißen Kleidchens von Ellin einweichen, un Trudes Stickerei-Unterrock, un Arthurs Sporthemd, un Strümpfe und Taschentücher, un sonst noch en paar Kleenigkeiten. Zu’n Sonntag muß allens parat sein. Nanu, wat stehste wie eene von de Puppenbrücke? Immer dalli! Du wirst der wundern, wenn de in Stellung kommst.“

Mine stand in der Tat starr wie aus Stein gehauen; war das dieselbe Frau, die gestern so schmunzelnd hinterm Ladentisch gestanden, mit so einschmeichelnder Stimme gefragt hatte: „Was soll’s denn sein?“

„Ich wer’ gehn, Frau Reschke“, sagte Bertha gefällig und schlüpfte aus der Küche.

Im guten Zimmer überraschte sie Elli, die, während ihr Vater hinter der Gardine schnarchte, Rock und Hose, die überm Stuhl hingen, visitierte, ob nicht irgendein Groschen oder Fünfpfennigstück sich in den Taschen verkrümelt hatte. Als sie Bertha gewahrte, lächelte sie pfiffig. „Der wacht nich uff!“ Und dann setzte sie altklug hinzu: „Heute überhaupt! Er hat ja einen jekippt!“ —

Während Mine am Vormittag in der dunklen, stickigen, vom Brodem der kochenden Lauge noch stickiger gewordenen Küche sich die Hände an der vergrauten Wäsche der gesamten Familie durchrieb, bediente Bertha mit im Laden. Frau Reschke hatte wieder ihre Geschäftsmiene aufgesetzt — hell, freundlich, eitel Wohlgefallen.

„Was soll’s denn sein, Fräulein Thereschen“, rief sie und schlug dann entzückt die Hände zusammen. „Was haben Sie for ’ne neue Frisur, bildschön! Ne, jroßartig, einfach jroßartig!“

Eine hagere, ältliche Person mit einer Hakennase hatte den Laden betreten. Sie trug den Haarknoten spitz vom Hinterkopf abgedreht und eine Menge abgeschnittener und gebrannter Haare über der Stirn hochgekämmt.

„Wie Sie det kleid’t! Reizend! Wie eene von sechzehn!“

Die Person lächelte geschmeichelt und forderte ein Pfund Salz und für’n Sechser Petersilie. Die Reschke schwatzte in einem fort, während sie das Salz abwog und ein großes in Wasser stehendes Bukett Petersilie zerteilte.

„Ja, mit de Petersilie is nischt zu verdienen, reene jar nischt; woanders lassen se nich untern Jroschen ab. Un frisch, janz frisch, heute morgen stand sie noch inn Jarten. Ick kann mer nech zufrieden jeben, wie Ihnen die Frisur steht — was soll’s denn noch sein? Pflaumen oder Weißkohl? Der is heute spottbillig, mein Mann hat besonders vorteilhaft injekauft. Fufzehn un zwanzig Pfennig — na, wie is’t damit?“

„Danke“, sagte die Köchin, „heut wollen se von den neuen rheinischen Sauerkohl mit Sozieschen essen.“

„Jotte doch, so’n schweret Essen! Det’s aber nischt vor Ihren schwachen Magen, Fräulein Thereschen!“

„Na, dann geben Se mer man ’nen Kohl!“ Die Magd nahm einen nach langem Wählen und wog ihn in der Hand. „Was kost der?“

„Fünfundzwanzig.“

„Nanu?“

„Ja, der is auch besonders dick. Der reene Klotz.“

„Fufzehn!“

„Fufzehn —?! Ne, mein Dochter, der kost uns selber mehr als fufzehn.“

Das Mädchen verzog die Lippen. „Das reden Se jemand anders vor! Ne, denn gehe ich zum Kaufmann drüben, das Pfund vom neuen Sauerkohl kost nur zehn Pfennige.“

„Se werden doch nich? I, Spaß! Det wäre! Se werden mer doch de Kundschaft nicht vertragen, Fräulein Thereschen? Ick sehe Ihnen sowieso oft bei’n Kaufmann drüben. Bei Jott, so wahr ick lebe, ick verdiene nischt dran, keenen Pfennig; aber, weil Sie’t sind — da!“ Mit einem Seufzer ließ sie den Kohlkopf in den Korb des Mädchens rollen. „Se sollen nich sagen, daß de Reschken unkulant jegen Ihnen is, wenn se ooch nicht so’n Klimbim von sich her macht, wie der Kaufmann drüben.“

Sie drehte das Mädchen hin und her. „Ne, die Frisur kleid’t Sie! Himmlisch! Wie ’ne Dame! Wie ’ne feine Dame, direkt aus ’s Modeschurnal!“

„Wie ’ne olle Nachteule“, brummte sie hinter der Davoneilenden nach. „Fufzehn! Nur fufzehn Pfennige! De Herrschaft rechnet se doch natürlich zwanzig an. Det klapperdürre Jestelle! Die hab ick auf’n Strich.“

Kaum erschien jedoch eine neue Käuferin auf der Kellertreppe, veränderte sich ihre Miene zauberschnell. Das war wieder der süße Ton: „Was soll ’s denn sein?“

Bertha amüsierte sich köstlich.

Die Stunden von acht, halbneun bis gegen zwölf waren die belebtesten, da flog’s im Laden aus und ein, wie in einem Taubenschlag. Die eine holte Kartoffeln, die zweite Gemüse, die dritte Petroleum, die vierte Heringe, die fünfte Obst. Jede fühlte die Birnen an, ob sie weich waren! Alle kosteten von den Pflaumen, die in einem hohen Korb am Kellereingang standen.

Vor der bleichsüchtigen Marie von Rentiers war kein Obst sicher; selbst in die grasgrünen Äpfel biß sie. In die zwei großen Glaskrausen auf dem Ladentisch — die eine enthielt Kaffeebohnen, die andere Erbsen — langte sie auch hinein. Aber man mußte ein Auge zudrücken, Rentiers kauften immer vom Besten; im Frühjahr den ersten Spargel, im Herbst die ersten Weintrauben.

„Nanu, Mariechen“, fragte Frau Reschke leutselig, „haben Se schon von die Pflaumen jekostet? Fein, was? Nehmen Se sich doch! Sagen Se Ihrer Madam: jroßartige Einmachepflaumen. Hier, kosten Se doch mal die Weintrauben! Was Extras for ihren Herrn Rentier! Se husten ja? Ne, da muß ick Ihnen doch jleich en paar von die neuen Hustenbonbons verehren; schmecken delekat, was? Nur dreiste ringefaßt; wenn se nur helfen! Vergessen Se ’t ooch man nich, Ihre Herrschaft zu sagen von de Einmachepflaumen un den Wein!“

Sie legte dem Mädchen noch eine Handvoll Bonbons in den Korb. Berthas Augen funkelten, mit einer sehnsüchtigen Gier sah sie zu, wie Mariechen einen Bonbon nach dem andern hinter die blassen Lippen schob und wohlgefällig daran lutschend, noch ein wenig mit Frau Reschke schwatzte. Berthas Zunge leckte auch — sie konnte das Zusehen kaum mehr aushalten; Süßes aß sie für ihr Leben gern, schon als Kind hatte sie stundenlang beim Krämer des Ortes vor der Tür gelungert, um so, durch die Beharrlichkeit freundlich begehrter Blicke, dem gutmütigen Manne ein Zuckerstückchen abzubetteln.

Andere Erscheinungen kamen. Die schöne Auguste, so stolz, so ehrbar, daß sie förmlich einschüchternd wirkte. Mit einer ruhigen Würde besorgte sie ihre Einkäufe; in ihrem frisch gestärkten rosa Kleid, dem weißen Häubchen und der blendenden Latzschürze sah sie aus wie das Bild der Reinlichkeit und Reinheit. Sie kaufte eine Menge und ließ alles in ein Büchelchen eintragen; Berthas scharfe Blicke entdeckten, daß Frau Reschke alles um fünf oder zehn Pfennige teurer dort anschrieb, als der Preis war. Und Auguste guckte ihr dabei über die Schulter und diktierte auch ab und zu.

Als die Auguste gegangen war, pries Frau Reschke sie aus allen Tonarten. Das war noch ein solides Mädchen! Die hatte sie aber in ihre jetzige Stellung gebracht, zu jung verheirateten Leuten, die in ihrem schönen neuen Haushalt ganz verliebt in ihre hübsche, ehrbare Auguste waren. Dann erschien die Mathilde von Hauptmanns. Ihr rundliches Gesicht, das in der Jugend gewiß sehr hübsch gewesen, trug einen unendlich gutmütigen und einen zugleich zerstreuten Ausdruck. Sie hatte Tränen in den Augen, als sie davon sprach, am ersten Oktober den Dienst verlassen zu müssen, in dem sie nun fast zwei Jahre gewesen. „Ich bin dem jnä’jen Frauchen ja so gut“, schwatzte sie mit ihrer angenehmen, etwas verschleierten Stimme, „ich wär ja auch nich jezogen, wenn ich mer nich verheiraten tät.“

„Ick jratuliere“, rief die Reschke herüber, die gerade ein paar andere Kundinnen bediente, und zwinkerte diesen zu. „Na, is’t denn jetzt so weit?“

„Noch nich“, sagte Mathilde geheimnisvoll.

Die jungen Dinger, die mit ihren Marktkörben herumstanden, stießen einander heimlich an.

„Ich habe de Nacht um zwölwe mein Punktierbuch jefragt, das sagt ja nu: ‚ja, ja, baldije Hochzeit‘. Und wie ich vorige Woch’ Sonntag zum Abendmahl jeh — mit mein Schwarzseidnes, wo denn schon parat war zur Hochzeit, denn treff ich wen, de Schustersche, wo obenan bei mein Schwager wohnt, und die hat mer denn erzählt, daß de Schwaster krank liegt — an Influenzia. Na, und das stimmt ja woll mit mein Buchchen — de Schwaster stirbt, und bald is wieder Hochzeit!“

„Na, is se denn schon tot?“ rief keck eine der Mägde.

Mathilde verzog keine Miene. „Nei, noch nich“, sagte ihre angenehme Stimme. „Ich frag aber immer de Schustersche, bei mein Schwaster komme ich ja nich ins Haus. Und bei’s Abendmahl in de Kirch hab ich unser liebes Harrjottche so recht von Harzen jebeten — wenn zuerst ne Frauensperson vor’s Altar tritt, denn bleibt se leben; kommt zuerst ’ne Mannsperson, denn stirbt se. Na, und denn kam ja woll zuerst ’ne Mannsperson.“

Die Mädchen kicherten; sie kannten die fixe Idee der alten Mathilde, die immer noch auf den Mann, der sie einstmals, um ihrer jüngeren Schwester willen, hatte sitzen lassen, wartete.

Sie lachten ganz ungeniert, als Mathilde in ihrer Herzensfreude sie alle zur Hochzeit einlud.

„Na, was sagt denn nu die Hauptmannsche?“ fragte die Reschke. „Die wird scheene drinne sitzen, die kriegt so leicht keene. Schmalhans Küchenmeister. Un denn die unjezogenen Bälje.“

„Ach Jottchen!“ Mathilde schnäuzte sich krampfhaft. „Mathildche, sagte se zu mich, ich seh Ihnen man unjern scheiden. Jnä Frauchen, sagte ich, ich tret ja in den heiljen Ehestand. Ach so, sagt se, na denn is was anders, denn wünsch ich Ihnen viel Jelück! Aber man sah es ihr an, wie es se leid tat. Na und denn rief se de Kinderches, und dann sagte se: Kinderches, sagt se, de Mathilde will wegjehn. Ach und de Kinderches kamen in de Küch und hingen sich an mein Rock und denn baten se: bleib doch bei uns, Mathildchen! Ach Jottchen, das Herz im Leib tat mer weh. Aber nei, sag ich, das Buchchen hat jesprochen.“

„Da feiern wir also bald fidele Hochzeit“, rief die Reschke ganz ernsthaft. „Ick halte Ihnen beim Wort.“

Die Mädchen prusteten vor Lachen.

Mathilde merkte nichts von der allgemeinen Heiterkeit; ohne den zerstreuten Gesichtsausdruck zu verlieren, erhandelte sie ein billiges Gemüse und stieg dann, verträumten Blicks, die Kellertreppe empor.

Ein übermütiges Gelächter schallte hinter ihr drein.

„Da schlag einer lang hin“, krähte eine blasse Weißblonde, die recht mitgenommen aussah. Es war die Minna von Doktor Ehrlich, einem Junggesellen, bei dem sie gut kochte und während der Sprechstunden die Tür öffnete. Die übrige Zeit, die der Doktor auf der Praxis zubrachte, ging sie spazieren. Vergangenes Frühjahr war sie in der Göbenstraße aufgetaucht — man munkelte, direkt aus der Charité — sehr elend und herabgekommen; nun ging sie in Lackschuhen und trug sich kokett. „Wie ’ne Dame“, sagten die andern neidisch.

Minna konnte sich über die „Dämlichkeit“ dieser Person gar nicht beruhigen.

„Was wollen Se, Fräuleinchen —“ Frau Reschke zuckte mitleidig und geringschätzig die Achseln — „jede is nich so helle wie Sie. Aus Ostpreußen — lieber Jott! Hätte die sonst zwei Jahre beim Hauptmann jedient! Aber da fällt mir ein, det wäre am Ende was for meine Nichte!“

Als sich eben jetzt, oben am Ausgang der Kellertreppe, zwei Beine in Drillichhosen vorüber bewegten, rannte sie, so rasch es ihre Korpulenz erlaubte, die Stufen in die Höhe. „Sie, Peters, pst, Sie!“

Der Bursche von Hauptmanns, der langsam, ein Paar zu reparierende Stiefel seines Herrn unterm Arm, an der Hauswand entlangstrich, drehte sofort um. Er ahnte wieder eine kleine Weiße oder einen Faustkäse.

„Peters, uff’n Wort!“ Frau Reschke zog ihn in den Keller und redete da in einer Ecke eifrig auf ihn ein.

„Die da?“ sagte er und wies mit dem Daumen über die Schulter nach Bertha. „Smucke Deern!“

„Die is keen Fressen for euch! Aber meine Nichte is ooch een sehr nettes Mächen.“

„Erst sehn“, grinste der Bursche pfiffig. „Wir köpen ken Katt in de Sack.“

„Sehn is nich“, sagte die Reschke ärgerlich. „Wenn ick sage, se is wat for euch, denn es se ebent wat.“

„So, denken Se vielleicht, Mutter Reschke, daß Se mir wieder mit so’ne olle Postühr tosammen schmeeren? Nicht mal Mehlbeutel konnt se kochen! Und en Söten“ — er wischte sich den Mund — „pfui Deiwel!“

„Lassen Se die Dummheiten, Peters! Hier!“ sie drückte ihm heimlich einen Faustkäse in die Hand und steckte ihm die Taschen voll Pflaumen. „Ick weeß ja, was Sie for en Blick for allens haben, ick wer’ Ihnen doch nischt Schlechtes zuschustern. Sagen Se man Ihre Gnädige — Se müssen det so janz a propus einfließen lassen —, det hier en Mächen wäre, det fermost for ihr paßt: stark, fleißig, sauber und sehr bescheiden. Se jiebt ja so ville druff, wat Sie sagen. Na, wie Sie bei Hauptmanns estimiert sind, det weiß ja die janze Straße. Et soll Ihr Schade nich sein!“

Währenddessen läutete die verborgene Klingel in einem fort; ihre Stimme war heiser, wie gebrochen von Überanstrengung, und doch versagte sie nicht, sie schnappte nur zuweilen ab mit einem grellen Mißton, um dann wieder desto lauter, desto eindringlicher zu schrillen.

„Jotte doch, der Radau“, stöhnte die Reschke und hielt sich die Ohren zu. Es ging auf zwölf, und sie war ganz erschöpft, abgemattet vom unaufhörlichen Schwatzen, Zureden, Handeln, Schmeicheln und Klatschen. Mit einem lauten „Uff!“ ließ sie sich auf eine umgestülpte Tonne fallen; war das wieder einmal ein Vormittag gewesen. Den Mund mußte man sich fusselig reden wegen ’nes Stengels Petersilie und ’ner Handvoll Kartoffeln. Sie beklagte sich bitter über den „hungerleidrigen“ Grünkram, bei dem man kaum das trockene Brot verdiente, und verglich ihn neidisch mit dem Laden des Materialwarenhändlers schräg gegenüber.

Das tägliche Brot

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