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IX.

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Bei Reschkes im Keller war ein Lärm, ein Geschimpfe, ein Skandal, daß die Mägde vorn im Laden, da niemand zu bedienen kam, neugierig die Ohren spitzten und sich vorsichtig der Glastür näher stahlen, um ja nichts zu verlieren von dem, was drinnen in der Wohnstube vor sich ging. Sie hätten nicht nötig gehabt, auf den Zehen zu schleichen, denn die drinnen dachten nicht an Lauscher, die sahen und hörten nicht.

Frau Reschke mit glühendem, aufgequollenem Gesicht, in dem die Augen fast verschwanden, fuchtelte aufgeregt mit allen zehn Fingern in der Luft.

„Wo warste?“ schrie sie den Sohn an, der blaß, mit eingeknickten Knien dastand und keinen Laut über die Lippen brachte. Und dann noch einmal: „Wo warste?“ Sie packte ihn vorn am Rock und schüttelte ihn, daß die Bücher, die er noch unter dem Arm gepreßt hielt, mit dumpfem Klatschen auf den Boden fielen.

„Wo warste?“ schrie auch Herr Reschke. „Da — da — siehste!“ Er schwenkte dem Sohn einen Brief dicht vor den Augen hin und her. „Es kommt allens an den Tag. Ich wer’ der lehren, hinter de Schule jehn, vafluchter Bengel! Wo haste der denn rumjetrieben? Und wo is det Schuljeld? Sie schrieben, ick soll noch Schuljeld von’s letzte Monat bezahlen. Jawoll, is ja längst bezahlt — wo — wo hastet jelassen? Du — du — !“

„Det Schuljeld“, kreischte die Mutter, „hab ich’s dich nich jejeben an Ersten früh aus de Ladenkasse? Die Marie von Rentiers war noch jrade da und holte von die feinen Bärblang.“

„Det Schuljeld! Antwort!“

Keine Antwort. Den Kopf tief gesenkt, stierte Arthur vor sich nieder. Frau Reschke stemmte die Arme in die Seiten. „Nanu, wird’s bald? Wo haste’t gelassen?“

Kein Laut.

„Hau ihm, Reschke! Zähl ihm eens uff! Willste nu wohl reden?! Man los, sonst wer ick der helfen!“

Scheu duckte sich Arthur unter der geschwungenen Faust des Vaters.

„Los — oder — !“

Jetzt langte der Junge in die Tasche, mit zitternden Fingern brachte er Geld hervor; wie Stoßvögel schossen die Alten darauf los.

Frau Reschke zählte laut: „Eins, zwei, drei, vier — zwei Mark zuwenig. Wo haste die jelassen? Antwort!“ Sie stampfte mit den Füßen.

„Antwort!“ brüllte Reschke.

„Du Lügner, du Betrüger, du Dieb!“

„Jiebste die zwei Mark her?“ Der Vater stürzte sich auf den Sohn und schlug in blinder Wut drauflos. Der schon erwachsene Mensch wehrte sich nicht, er hielt nur die Hände schützend vors Gesicht. Hageldicht sausten die Schläge, von wilden Schimpfreden begleitet.

„Wo haste det Jeld? Det Jeld!“ Auch die Mutter machte Miene, über den Sohn herzufallen. Aber ihre erhobenen Arme blieben wie in die Luft gebannt. Mit einem Ruck hatte sich Arthur freigemacht; mit dem Trotz, den die höchste verzweifelte Todesangst gibt, sah er sie an. Er schrie ihr ins Gesicht: „Det Jeld — ?! Versoffen!“

Das war ein Toben, ein Fluchen, daß Elli, die bis dahin mit altkluger Miene dabei gestanden, sich auf die Sofalehne in Sicherheit brachte und Grete sich zitternd in den dunkelsten Winkel des Kartoffelkellers verkroch. Dort lag sie bei den Hunden und hielt sich die Ohren zu, während schwere Tränen aus ihren Augen tropften.

Arthur war hinter die Schule gegangen. Die Bücher unterm Arm war er morgens fortgeeilt, die Bücher unterm Arm mittags wiedergekommen. Erst hatte er immer gefürchtet, entdeckt zu werden, jeden Augenblick glaubte er im Gewühl der Straße einen Lehrer oder einen Mitschüler auftauchen zu sehen. Da rannte er denn hinaus vor die Stadt auf die öden Felder, trieb sich fröstelnd umher im trüben Novembergrau; bis zum Grunewald irrte er und lungerte im Tiergarten auf den verlassenen Bänken. Aber ein Grauen kam ihn an, wenn sein Fuß im gefallenen Laub raschelte; in der Einsamkeit überschauerten ihn seltsame Gedanken. Schlechtes Wetter, ein Ödesein im Magen und Herz trieb ihn in die Straßen, zu den Menschen zurück. So schleuderte er denn übers Trottoir, lehnte an den Messingstangen der Schaufenster und verschlang mit großen, hungrigen Augen das Getriebe der Großstadt. In entlegenen Kneipen, zwischen Bummlern und Tagedieben, wärmte er sich auf, schlief, die Ellbogen aufgestützt, mit offenen Augen und hörte doch jedes Wort der Unterhaltung.

So hatte er’s getrieben, bis ein Brief des Schuldirektors, der nach dem stillschweigend weggebliebenen Schüler Erkundigungen einzog, die Entdeckung brachte.

Zwischen Herrn und Frau Reschke grollte ein böses Wetter. Er warf ihr „ihren“ Arthur vor, und sie, trotz ihrer Wut, nahm nun doch die Partei des Sohnes. Hatte sie nicht bare siebenhundert Mark in die Ehe gebracht? Das war sie dem Doktor doch wohl schuldig, daß der Arthur mit Rücksicht behandelt wurde.

Ein Wort gab das andere. Der Laden war Allgemeingut und die Küche stockdunkel, so zankte man im Zimmer, wo Elli am Klavier saß und klimperte, und Arthur, den sie endgültig von der Schule geschafft, müßig umherstand und an den Nägeln kaute.

Dumpfe Gewitterluft brütete im Keller.

Nur Trude war vergnügt. Sie ging jetzt schicker gekleidet denn je; alle Augenblicke hatte sie einen neuen Schlips, einen Sportgürtel, einen Spitzenschleier, einen Kamm, um das immer mächtiger gewellte Haar hoch aufzubauschen.

Immer später kam sie nach Hause. Früher, wenn sich der Geschäftsschluß verzögert oder sie sich mit ihren Kameradinnen nach der heißen, von unzähligen Gasflammen verbrauchten Luft einen Schlendergang in abendlich frischer Luft gegönnt, kam sie ängstlich heim und klopfte schüchtern an die Blaulackierte; jetzt trommelte sie ganz energisch und legte sich, als sei ihr Spätkommen etwas ganz Selbstverständliches, ohne weitere Entschuldigung ruhig zu Bett.

Und merkwürdig, Mutter Reschke, die früher immer gleich etwas Unziemliches gewittert hatte, drückte jetzt beide Augen zu. Die Tochter war gar zu fidel jetzt, blühte auf wie eine Rose — die mußte einen „Extra’n“ auf dem Kieker haben!

Im Geschäft hatte Trude „ihn“ kennengelernt. Da war er mit seiner Mutter, einer eleganten Dame, die kostbare Einkäufe machte, hingekommen. Trudes Blicke waren denen des jungen Mannes nicht ausgewichen, als er sie, über den Ladentisch hinweg, fixierte. Sie bewegte sich doppelt gewandt, trippelte gefällig hin und her, hob, als sie die Kästen aus den Fächern an der Wand zog, die Arme höher als nötig, um die schlanke Biegsamkeit ihrer jungen Gestalt zu zeigen. Die rote Bluse mit dem kleinen schwarzen Herrenschlips kleidete sie allerliebst.

Die Augen des jungen Mannes blitzten. Jetzt räusperte er sich — sie blickte flüchtig auf. Er lächelte — sie bückte sich über den Spitzenkasten, ihre Finger wühlten darin, es dauerte recht lange, bis sie das Gewünschte fand.

Am Abend, als sie das Geschäft verließ, Arm in Arm mit einer Kollegin, promenierte er draußen vorbei. Leicht grüßend faßte er an seinen Hut. Sie drehte sich nach ihm um. Bis Café Josty ging er hinter ihnen drein, er blieb ihnen immer dicht auf den Fersen. Am nächsten Abend trat Trude Reschke allein aus der Tür des Geschäftes. — Darin war Trude zu „ulkig“, wie Herr Pahlke es nannte, sie nahm von ihrem Fritz nur Kleinigkeiten an. „Wozu?“ sagte sie mit einem Ausdruck, der ihr niedliches Allerweltsgesicht bedeutender erscheinen ließ. „Ich bin dir auch so gut!“

Ja, sie war ihm so gut. Welche Seligkeit, sich abends mit ihm unter dunklen Bäumen entlangzudrücken. Zum erstenmal in ihrem Leben wurde sie von innen heraus warm. Wenn er sie küßte, stand sie verlegen und zitternd, als sei sie nicht im Keller aufgewachsen. Jeden Morgen eilte sie an seinem Haus vorbei, ihr zärtlicher Blick streifte die stattliche Fensterreihe — er schlief noch! Und sie spitzte den Mund und hauchte einen Kuß in die Luft, ihr Herz klopfte, und ein ungebändigter Jubel kam über sie — der reizende Mensch! Und sie vergegenwärtigte sich seine Stimme, seinen Mund, sein Schnurrbärtchen, seine ganze elegante Gestalt. Hundertmal sah sie tagsüber nach der Uhr — war es denn noch nicht bald Abend? Eine verträumte Weichheit kam über Trude Reschke. Grete empfand das dankbar, sie wurde nicht mehr im Küchentischbett gepufft. Und dafür tat sie der älteren Schwester gern etwas zuliebe; Trude konnte sich fest darauf verlassen, wenn sie noch so spät an die Blaulackierte trommelte, wie der Wind war die Kleine da und öffnete ihr.

Geduldig saß Grete im Laden auf der umgestülpten Tonne. Ringsum tiefe Dunkelheit, feuchte Kälte, die bis ins innerste Mark kroch. Ein Modergeruch stieg auf, aus den Körben mit Rüben und Kohl, aus den übereinander geschütteten Kartoffeln ein fauliger, trauriger Duft nach welkendem Grün, nach sterbendem Leben.

Leise, wie zögerndes Tropfen kam’s von den Wänden; in den schwarzen Ecken ein Knacken und Knistern und Rieseln und Rascheln. Nebenan ertönte rauhes, sägendes Schnarchen; dazwischen Winseln wie das eines jungen Hündchens — das war Elli, die wimmerte im Schlaf.

Das einsame Mädchen schauderte und faltete die Händefest im Schoß. Seine Glieder waren erstarrt; sein Kopf schwer wie Blei. Mit überwachten Augen starrte es in die schwarze Nacht. Immer weiter, sehnender die Blicke — teilte sich nicht die Finsternis, öffnete sich nicht das Gewölbe?

Blauer Himmel glänzte nieder und tat sich auf, und mitten darin Jesus Christus im Glorienschein.

— — — „Siehe, ich bin dein Freund! Ich bin dein Bruder! Für dich bin ich gekommen, für dich bin ich gestorben, für dich, für dich! Komm zu mir, heut, jetzt, in diesem Augenblick — rette deine Seele!“

Mit einem Schrei sank die Verlassene in die Knie und streckte die Hände aus, unsägliches Verlangen im Blick, zitternde Hingabe in jedem Glied.

„Steht mein Name dort schon

Vor dem goldenen Thron?“

„Halleluja — Jesus — Halleluja!“

„In dem Buche des Lebens,

Steht mein Name dort schon?!“

Keine Antwort. Verschwunden die Vision. Der Keller ein gähnendes Grab. Huh, so kalt, so leer, so einsam! Stärker wurde der Modergeruch, gespenstischer raunten die Stimmen der Nacht.

Weinend lallte Grete Unverstandenes in unverständlicher Sprache. Eine unbeschreibliche Aufregung hatte sich ihrer bemächtigt, ein unerklärliches Gefühl hatte sie ergriffen — war es Jubel, war es Schmerz! Krampfhaft falteten sich ihre Hände. Dahin! Dahin, wo das Perlentor winkt, wo „Er“ steht, der Freund und Bruder! Zu seinen Füßen ausruh’n, sein Gewand berühren: Rette, rette mich!

Viertelstunde auf Viertelstunde, halbe Stunde auf halbe Stunde schlich dahin; Grete empfand nicht mehr das langsame Rücken der Zeit.

Mitternacht war längst vorbei, als Trude klopfte; geschickt überhüpfte sie die Stufe, darunter die verborgene Klingel anschlug.

Sie hatte sich im nächtlichen Café, wo „er“ sie mit Schokolade und Kuchen gefüttert, arg verspätet. Nun wehten ihre Locken zerzaust. Ihr heißer, erregter Puls klopfte an die dünnen, eiskalten Hände der Schwester; ihren raschelnden Röcken entströmte ein schwerer Duft nach Zigarrenrauch.

Ohne Wort leitete die Jüngere die Ältere sorgsam durch die undurchdringliche Finsternis.

Und immer regelmäßiger klopfte Trude so spät an die elterliche Tür, und immer gleich geduldig öffnete Grete.

So ging der Winter hin. —

Arthur wurde seines Lebens daheim nicht froh. Da war es in der Schule doch besser gewesen; er empfand zuweilen eine Art Sehnsucht dahin. Da hatte man doch stillsitzen und übers Buch weg in die Luft stieren können. Jetzt hieß es ewig: Arthur hier, Arthur da! Ohne bestimmte Tätigkeit war er Hans in allen Ecken. Die Mutter postierte ihn mit Vorliebe in den Laden. Da mußte er zwischen den Körben stehen und Kartoffeln abwiegen und Gemüse anpreisen, vor allem aber die Mägde poussieren. Vater Reschke verstand das zwar recht gut, aber so ein junger Kerl, das ist doch was and’res! Haare, die sich an den Schläfen voll krausen, und ein keimendes Schnurrbärtchen sind anziehender. Mutter Reschke warf ihrem Arthur ermunternde Blicke zu, und wenn er nicht forsch genug war, bekam er Schelte. „So’n dummer Junge, der würde es nie zu was bringen, der hatte gar keinen Pli fürs Geschäft.“

Verdrossen hörte er sich’s an, alle Tage verdrossener. Schon das Aufsteh’n war schrecklich. In stockdunkler Nacht klopfte ihn der Vater heraus, er mußte ihn zur Zentralmarkthalle begleiten. Der Hinweg ging noch, da war’s noch sehr früh; aber mit scheu gesenktem Blick, abwechselnd blaß und rot werdend, kam er heim. Wenn ihm nur keiner der früheren Mitschüler begegnete! Nervös fuhr er zusammen, sowie ein Tritt dicht neben ihm erscholl — unnötige Sorge, die würden ihn neben der Hundekarre gar nicht kennen! Mit einem Gefühl unsäglicher Bitterkeit sah er an den stattlichen Häuserfronten in die Höhe —, er wohnte im Keller. Zuweilen besuchte er Mine, denn wenn sie in den Keller kam, konnten sie doch nur Blicke des Einverständnisses wechseln. Bei ihr fand er wenigstens Mitgefühl. In die Küche zu Hauptmanns durfte er nicht kommen, so schlich er denn in der Dämmerung die Hintertreppe hinauf, wie ein Dieb, und klopfte verstohlen an die Tür, auf der, über dem Haken zum Kleiderausklopfen, eine Visitenkarte angenagelt war: „von Saldern, Hauptmann“.

Dann kam Mine zu ihm heraus. Hinter der angelehnten Tür auf dem zugigen Treppenabsatz flüsterten sie miteinander. Mit einem Ohr lauschte Mine immer in die Wohnung zurück; tönte drinnen eine Klingel, stürzte sie hastig hinein: „Arthur, wart! Ich komm’ gleich wieder!“

Und er blieb draußen stehen und wartete.

Im Zugwind flackerte die im Hinterhaus nur spärlich brennende Gasflamme, deren Licht mehr verhüllte als zeigte. Stolperte irgendein unsicherer Tritt die Treppe herauf, so drückte er sich scheu in eine Ecke; er wollte nicht gesehen sein, wie ein Bettler hinter der Küchentür stehend. Im stillen schimpfte er auf die Herrschaft, die Mine so lange zurückhielt. Und wenn Mine dann wiederkam, schimpfte er auch laut auf die da drinnen, auf Vater, Mutter, auf die ganze Welt.

Sie hörte ihm zu, mit einem bekümmerten Gesicht. „Ja, das is nu mal so, da mußte der drein finden. De einen haben’s besser, de andren schlechter; aber wenn mer’s recht betracht, das Zuckerlecken is’s nirgendswo. Zum Beispiel, meine Madam — das is auch schwer mit die Kinder; und aussehn soll’s immer nach was; Ende der Woch’ kriegt nur unser Herr Fleisch.“

„Was geht mich deine Madam an?! Mögen sie essen, was sie wollen. Aber ich halt’s nich mehr aus! Wenn das so weiter geht, ich halt’s nich aus!“

„Ach, Arthur“, sagte sie ganz traurig, nahm seine Hand und behielt sie in der ihren, „sei doch nich so! Versuch’s nur noch mal! Was willste denn machen? Es ist doch nich so schlimm, un —“

Sie sprach nicht weiter, jemand kam die Treppe herauf. Wie ein ertapptes Liebespaar fuhren sie auseinander; sie schlüpfte in ihre Küche zurück, und er schlich leise die vielen Stufen hinunter.

Zu Hause mußte er gleich an die Rolle; früher war Peters so galant gewesen, den Mädchen zu drehen, aber der war nun weg von Hauptmanns in die Front zurückgekommen, und der neue Bursch war „noch viel dämlicher“, wie Frau Reschke sagte. Körbe, hochbepackt mit Wäsche, harrten; Arthur wurden die Arme lahm. Die Rolle quietschte und knarrte unaufhörlich. Mit letzter Kraft drehte Arthur, Schweiß perlte ihm herunter. Seine blassen Wangen röteten sich. Jede angestrengte Bewegung schleuderte ihm die Haarlocken ins Gesicht; Frau Reschkes mütterliche Eitelkeit litt nicht, daß er sich die schneiden ließ. —

Elli stimmte an:

„Das ist der Arthur,

mit seiner Haartour,

mit seiner Tolle,

mit seiner Wolle“ —

Und der Chor der Mägde fiel jubelnd ein:

„Der schöne Mann,

der alles kann!“

Da packte ihn plötzlich eine wilde Lustigkeit, er ließ die Kurbel fahren, mitten hinein setzte er in den Knäuel der aufkreischenden Weiber. Zwischen den Körben hindurch jagte er sie. Vater Reschke war auch mit vom Spaß, er verstellte den Fliehenden mit ausgebreiteten Armen den Weg, während Mutter Reschke, hinterm Ladentisch, schmunzelnd auf ihren flotten Jungen sah.

Das Gewölbe hallte wider vom ausgelassenen Gekreisch, rot und erhitzt verließen die Mägde den Reschkeschen Keller. Rot und erhitzt suchte Arthur sein Bett auf, das Blut floß ihm erregt durch die Adern. Am anderen Morgen schmerzte sein Kopf, eine schwere Mattigkeit lähmte seine Glieder.

Gegen das Frühjahr wurde er krank.

„Blutarmut“, sagte der Arzt und sprach von Nachwehen der Englischen Krankheit, die der Patient als Kind gehabt. „Gesunde, nicht zu anstrengende Bewegung in frischer Luft.“

Ja, wo sollte man die finden?

Die Mutter weinte vor Besorgnis. Sie litt nicht mehr, daß ihr Arthur den Alten zur Halle begleitete. „Det haste nur dervon“, schrie sie ihren Mann an. „In aller Herrjottsfriehe — immer raus — der arme Junge!“ Und sie packte ihren Arthur bis an die Nase ein, kochte ihm jeden Morgen Mehlsuppe — die hatte sie dem „Herrn Doktor“ auch gekocht — und ließ ihn bis zehn, elf im Bette liegen.

Da lag nun Arthur und dehnte und rekelte sich; an Schlafen war längst nicht mehr zu denken, das Geschwätz und Gebimmel des Ladens ging seit Stunden. Wenn er endlich aufgestanden war, schlorrte er in Pantoffeln, die Hände in den Hosentaschen, in die Stube, von da in den Laden und wieder zurück in die Stube; ging auch in die Küche, rümpfte die Nase über den Töpfen und warf sich dann zuletzt aufs Sofa. Er gähnte. Oder er schäkerte mit Elli, amüsierte sich erst über ihr altkluges Geschwätz, neckte sie dann, zwickte sie, zupfte sie an den Haaren, bis ihr Lachen in Weinen überging und sie ihn ins Gesicht kratzte. Der Tag war endlos, bleiern schlichen die Stunden. „Viel in frischer Luft sein“, hatte der Doktor verordnet — aber wozu? Arthur hatte nicht Lust, den Tiergarten abzulaufen und einzig und allein zu beobachten, wie die Knospen schwollen und platzten, während drüben in den Zelten Militärmusik spielte und Bierseidel klapperten. War das ein Vergnügen, im Viktoriapark über Hunderte von Kindern zu stolpern? Oder in der Hasenheide und im Grunewald mit trockenem Mund an den Biergärten vorüberzulaufen?! Ohne Geld kein Vergnügen; und Geld hatte er keins, der Vater rückte nichts heraus, und die paar Groschen, die ihm die Mutter manchmal zusteckte, waren für gar nichts.

So blieb er lieber ganz in der Göbenstraße. Stundenlang lehnte er an der Blaulackierten, auf der obersten Stufe der Kellertreppe, und ließ sich von dem bißchen Sonne bescheinen, das über die hohen Häuserfirste bis hier herunterdrang.

Nur das unverschämt lustige Schirpen der Sperlinge, das Lärmen spielender Kinder und die grünrötlichen Rhabarberstengel, die zum Verkauf auslagen, kündeten ihm den Frühling.

Das tägliche Brot

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