Читать книгу Das tägliche Brot - Clara Viebig - Страница 8
VI.
ОглавлениеNun diente Mine schon die zweite Woche in der Destillation. So nahe es war, sie hatte noch nicht einmal Zeit gefunden, zu den Verwandten hinüber zu gehen; sie hatte auch keine Lust dazu. Ihr Herr schickte sie in einen andern Grünkram auf der Kirchbachstraße, dessen Besitzer ein guter Kunde von ihm war.
Eines Abends klopfte es leise an die Hintertür der Küche. Als Mine öffnete erstaunte sie sehr, Elli draußen zu finden. Vorsichtig spähend schlüpfte die Kleine herein.
„Is der Olle nich da?“
„Wer? Der Herr?“
„Er soll mir nich sehen, der olle Schnapspantscher! Mutter schickt mir, du sollst bei uns kaufen kommen!“
„Ich kann nich“, sagte Mine, „ich muß doch gehen, wohin der Herr mer schickt.“
„Jawoll!“ Elli lachte pfiffig. „Na, ich hab’s dich bestellt von Muttern. Komm man ja morgen, sonst kriegste Mordskrach.“
Schon war sie wieder fort; Mine lief ihr nach und schrie hinter ihr drein: „Was macht denn de Grete?“
Elli drehte sich noch einmal flüchtig um und zuckte die Achseln: „Was jeht mir das an? Ich weiß nich!“
Mine ärgerte sich über das freche Ding; sie hatte eine förmliche Sehnsucht nach der stummen Grete, viel mehr als nach Bertha. Die hatte sie mehrmals, als sie den Laden fegte, drüben auf der anderen Straßenseite vorübertänzeln sehen, das jüngste Kind von Hauptmanns an der Hand. Sie schien sehr vergnügt und drehte den Kopf hin und her; nur nach der Destillation sandte sie keinen Blick.
Nun hoffte Mine auf den Sonntag; da hatte sie Ausgang und wollte die Freundin aufsuchen, vielleicht, daß sie miteinander einen schönen Spaziergang machten. Sie freute sich darauf und konnte die Nacht vom Sonnabend auf Sonntag vor Aufregung kaum ein Auge schließen.
Sie warf sich ruhelos in dem eisernen Klappbett, dessen Drahtnetz zerrissen war und ihr bei jeder Bewegung mit den spitzen Enden durchs Unterbett in den Rücken stach. Es war ein schmales Lager, auch nicht für ihre Länge berechnet, sie mußte krumm liegen und die Füße hoch ziehen.
Die ersten Nächte hatte sie aber doch wie tot geschlafen, die jetzige Tätigkeit, in ihrer Ungewohntheit, strengte sie mehr an als die schwerste Arbeit auf dem Felde. Eine Art Verzweiflung überkam sie, wenn sie daran dachte, daß sie’s nie lernen würde, die Biergläser so zu füllen, daß sie noch nicht voll waren, und doch eine Riesenhaube Schaum oben überquoll. Auch war sie nicht flink genug dabei, vergossene Bierneigen aufzuwischen; die Gläser, die sie hinterm Schanktisch spülte, glitten ihr viel zu langsam durch die Hände, und ihr Gesicht war lang wie drei Tage Regenwetter, wenn sie, mit verschlafenen Augen blinzelnd, im Tabaksdunst bis Mitternacht auf ihrem Posten ausharren mußte.
Zuweilen fingen die Gäste an, mit ihr zu schäkern; besonders im Anfang hatten sie’s versucht, aber sie sah so verständnislos drein bei allen Redensarten, daß sie ihre Versuche bald aufgaben, und der Herr etwas von „dämlicher Person“ murmelte. Mit einem geradezu steinernen Gesicht wusch sie ihre Gläser ab und trampelte dabei hin und her.
Nur einer war da, ein Kutscher mit einem hohen Hut — „Weißlackierter“ titulierten ihn die übrigen —, der kümmerte sich immer noch um sie. Der war nett. Trat er abends ein, lustig pfeifend, den weißen Zylinder ein wenig auf die Seite gerückt, galt sein erster Gruß ihr. Wenn sie den Gruß schüchtern erwiderte, ohne einen Aufblick, so lauerte sie doch schon immer darauf; er war das erste Freundliche, was ihr seit dem Morgen widerfuhr. Und der Weißlackierte hatte eine so gute Stimme, und — als sie ihn einmal anzusehen wagte, entdeckte sie’s — auch so einen guten, wahrhaft treuen Blick.
An den Taxameter dachte sie, als sie sich schlaflos von einer Seite auf die andere wälzte und horchte, ob sie aus dem Chaos von Tönen, das von der Vorderwohnung bis hier hinten nach ihrem Hängeboden drang, nicht seine Stimme herausfinden konnte. Das war ein furchtbarer Lärm, so toll war’s noch nie gewesen! Da ging ein gut Teil des heute ausgezahlten Lohnes drauf!
Fröstelnd zog Mine die Decke höher. Nein, sie möchte keine von den Frauen sein, die da vorhin gegen Mitternacht kamen und ihre Männer abholen wollten! Ausgelacht waren sie worden, mit langen Nasen mußten sie abziehen; die eine, deren Mann so schimpfte, war noch lange draußen vorbeigestrichen und hatte mit bangen Augen durch die Scheiben der Tür gespäht. Nein, so würde der Weißlackierte nie sein!
Mit diesem beruhigenden Gedanken drückte sie die Augen fest zu, aber der Schlaf kam nicht. Das Gewirr der Stimmen, das sich jetzt in ein dumpfes Murmeln abschwächte, dann zu einem wütenden Geschrei steigerte, schreckte sie immer wieder auf. Jetzt eine Lachsalve, und jetzt — zitternd richtete sie sich halb in die Höhe — das war ein Schrei gewesen, ein Schrei, so gellend und quiekend wie der eines Schweines, das der Metzger absticht. Schlugen sie einen tot?
Mit weit aufgerissenen Augen lauschte sie.
Vorne ein mächtiges Gepolter, ein Tischerücken, ein Stühleumwerfen, ein Durcheinandergetrappel von Füßen, ein Rasseln und Klirren, ein Schlürfen und Schleifen. Die prügelten sich! Jetzt Schimpfen und Fluchen, jetzt lautes Gezeter und jetzt rauhe Schreie!
Krampfhaft die Decke unterm Kinn zusammenhaltend, saß das Mädchen aufrecht.
Solch ein Getöse machten die zu Hause ja nicht einmal beim Jahrmarkt oder sie hatte das wenigstens nur von weitem die Dorfstraße herunter schallen gehört, und die war ihr wohlvertraut, jedes Haus, und von den Männern, die im Wirtshaus lärmten, kannte sie jeden einzelnen Namen. Aber hier — hier war alles so unheimlich fremd! Waren das Mörder, die da miteinander rangen?
In Todesangst schlugen ihr die Zähne aufeinander. Wenn sie hierher kamen?!
Da wurde die Tür aufgerissen, die nach dem engen Flur zur Küche führte. Sie kamen schon! Ein gellender Angstschrei wollte sich ihrer Kehle entringen; sie unterdrückte ihn zu einem gepreßten Ächzen. Die Decke über den Kopf ziehend, kroch sie ganz in sich zusammen.
So lag sie, in kaltem Schweiß gebadet, bis zum Morgen. Beim ersten Strahl der Morgensonne kletterte sie vom Hängeboden herunter, der Kopf war ihr wüst, die Glieder schwer. Vorsichtig, mit angehaltenem Atem, schlich sie den Flur entlang; ihr Herz klopfte wild — was würde sie finden?
Die Tür nach der Wirtsstube stand sperrangelweit offen. Bierseidel waren bis in den Flur gekollert, Scherben lagen wie gesät. Und da — kaum wagte sie hinzusehen — da lag auch ihr Herr, querüber auf der beschmutzten Diele, die Arme von sich gestreckt, die verglasten Augen halb geöffnet und — schnarchte.
Mit einem Gefühl plötzlicher Erleichterung stieg Mine über ihn weg — nur betrunken!
Sie ließ ihn ruhig liegen und machte sich an ihre Arbeit. Sie öffnete die Ladentür und merkte nun erst, beim Hineinwehen der frischen Frühluft, wie verpestet hier innen die Atmosphäre war. Lange stand sie, auf ihren Besen gelehnt, in der offenen Tür und schaute die morgenstille, sonntäglich leere Straße hinab.
Noch lagen die Großstädter in den Betten, aber die daheim, die rüsteten sich schon zum allsonntäglichen Kirchgang. Da wurde geseift und pomadisiert, und der Vater rasierte sich, einmal in acht Tagen, die schwärzlich grauen Bartstoppeln. Da drängten sich die Schwestern vor dem kleinen Spiegel und stritten um den Platz und probierten die bunteste Schleife; Max schmierte noch einmal so viel Wichse auf seine Stiefel und zwirbelte die Härchen auf seiner Oberlippe, um den Mädchen zu imponieren!
Mine stieß einen Seufzer aus. Nicht einmal zur Kirche konnte sie hier gehen!
Als sie die häßlichen Flecke der Dielen weggescheuert hatte, machte es ihr ein schwermütiges Vergnügen, den Sand in Kräuseln zu streuen; das war das einzige, was sie an den Sonntag zu Hause erinnerte.
Draußen erwachte allmählich der Großstadtsonntag. Fenster öffneten sich, Türen klappten. Ein Bollewagen kam klingelnd vorbeigerasselt. Bleiche Arbeiterfrauen schlichen aus den Toren der Mietskasernen der Kirchbachstraße, unter dem Tuch die schäbige Einkaufstasche tragend. Verschlafene Mägde, denen die noch ungebrannten Haare wirr in die Stirn hingen, huschten über die Göbenstraße; die Stube der Plätterin in Nummer vier wurde gestürmt. Heute wurde gutes Ausgehwetter, da wollte man noch einmal Staat machen in hellen Blusen und weißen Unterröcken.
Nach und nach sammelten sich Kindertrüppchen auf dem Trottoir vor den Kellerwohnungen. Kleine Mädchen in Filzpantinen, die dünnen Haare in viele Zöpfchen geflochten, liefen zum Bäcker nach frischen Schrippen. Ein halbwüchsiger Bursche nutzte die sonntägliche Morgenstille der Straßen zum Erlernen des Radfahrens aus, ungeschickt lenkte er sein Rad und wackelte unsicher hin und her. Knaben mit rotgeriebenen, wie poliert glänzenden Gesichtern, ganz wie erwachsene Lungerer die Hände in die Hosentaschen haltend, umstanden einen Laternenpfahl und berieten einen Streifzug übers Tempelhofer Feld. Spielende Hunde jagten, vergnügt kläffend, in lustigen Sprüngen über die wagenleere Straße; an einem Fenster schmetterte ein Kanarienvogel, dessen Lied sonst im Lärm des Alltags erstarb.
Alles hell, alles freudenreich. Die ganze Straße in Erwartung des Sonntags. Und da — jetzt reckte Mine den Hals noch länger — da zockelte langsam eine Droschke die Straße hinunter ihrem Stand an der Potsdamer Straßenecke zu, ein weißlackierter Hutglänzte im Sonnenschein, ein gutmütiges, heute etwas verkatertes Gesicht lachte sie an. Sie wurde rot bis hinter die Ohren und zog den Mund breit. — Da fuhr „Er“ hin — da drehte er sich noch einmal um und knallte mit der Peitsche.
Verwirrt wandte sie sich in die Stube zurück.
Inzwischen war der Schlafende, vom kühlen Morgenhauch empfindlich umweht, aufgewacht. Die schmerzenden Glieder dehnend, schimpfte er laut auf das verdammte Geschäft, das ihn zum Animier-Trinker nötigte. In sein Schimpfen mischte sich das Geläut von Glocken, das, vom Wind getragen, sonor und feierlich, wie aus nächster Nähe, erklang.
Gereizt fuhr er die Magd an und verlangte Kaffee. Sie antwortete grob. Was, vor dem sollte sie auch noch Respekt haben?!
Als er brummend sein Bett aufgesucht hatte, sah sie, verstimmt und trübselig, sonntäglich geputzte Leute vorüberwallen. Sie fühlte sich ganz müde und zerschlagen und auch sehr verlassen.
Aber ihre Miene hellte sich auf, als um elf, halb zwölf eine Droschke vorrollte — der Weißlackierte ließ Pferd und Wagen draußen warten und betrat schweren Schrittes die Stehbierhalle.
„’ne Märzweiße mit Luft — Mordsdurst!“ An den Schenktisch tretend, blieb er stehen und sah zu, wie sie, in ungeschickter Hast, das Bier ins Glas laufen ließ, es schäumte über und bildete rasch einen Tümpel um den Fuß des breiten Glases. Mit verlegenem Lachen wischte Mine die Nässe fort. Den Pfefferminz konnte sie lange nicht finden, obgleich die Flasche dicht vor ihr stand.
„Na, Kleene“, sagte er mit gutmütigem Lachen, „mit die Fixigkeit ist’ noch nich weit her, was? In die Zeit fahre ick ja bis nach’n Spandauer Bock. Ah“ — er wischte sich nach dem ersten langen Zug die Schnurrbartspitzen — „nich zu verachten! Besonders nach so’ne Nacht, nich? War en verfluchter Radau, was? Sie konnten wohl gar nich schlafen, Fräulein?“
„Ne“, sagte sie, ohne den scheu gesenkten Blick zu heben.
„Det jloobe ick woll. Se müssen sich erst jar nich hinlejen, Fräulein, hübsch bei uns bleiben. Ick jarantiere Ihnen, da haben Sie mehr Fez, als wenn Sie so mutterwind alleene in de Klappe kriechen. I, Sie sind doch so’n hübsches Mächen — immer ’n bißken munter, Karlinekin!“
Sie sah ihn dankbar an. Ihre Blicke begegneten sich — da schoß ihr das Blut heiß und rot bis in die Schläfen.
Er zwirbelte den Schnurrbart, stemmte den Ellbogen auf den Schenktisch und schmunzelte sie an. „Na, jefällt et Ihnen denn hier in Berlin?“
Sie schüttelte verneinend den Kopf und sah traurig drein.
„Warten Sie man erst ab“, tröstete er, „det kommt noch! Wenn ick Ihnen erst in die Equepasche abhole! Mit Sie losjondle nach’n richtigen Klimbim, nach Treptow, nach’n Eierhäuschen. Na, wollen wer mal?“
Eigentlich hatte er nur Spaß gemacht, aber da er sah, wie sie blaß und rot wurde und vor innerem Entzücken kaum den Mund zusammenbringen konnte, hielt er ihr die Hand hin. „M. w., was?“
Sie schlug ohne viel Besinnen ein.
Da lehnte er sich ganz über den Schenktisch und schlang den Arm um ihre kräftigen Hüften. Donnerwetter, war das ’ne Stramme! „Noch zu haben, Fräulein?“
„Lassen Se mer!“ Sie stieß ihn zwar zurück, aber der Ton ihrer Stimme verriet verschämte Freude. Ihr schwindelte. Was würde Bertha sagen?! Und was die Reschke?! Ordentlich Respekt würden sie vor ihr kriegen — so ein hübscher Mensch!
In einer glücklichen Erregung blieb sie zurück, als er, nachdem er noch eine Weiße „mit Luft“ getrunken, vergnügt pfeifend, mit einem zärtlichen Nicker das Lokal verließ. Verträumten Auges und lächelnden Mundes stand sie hinterm Schenktisch und sah anscheinend interessiert der einsamen Herbstfliege zu, die matt und taumelig an der Scheibe der Glastür auf und nieder irrte. Aber ihre Gedanken waren bei dem rotblonden Schnurrbart und den vergißmeinnichtblauen Augen des Weißlackierten. Eine glückliche Perspektive eröffnete sich ihr.
Das Rippespeer und das Kartoffelmus, die sie heute auf den Tisch brachte, waren noch schlechter zubereitet als das Essen der vorigen Tage, — und das wollte viel heißen.