Читать книгу Pralinen für zwischendurch - Clare Dowling - Страница 8
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ОглавлениеHenry arbeitete an diesem Tag zu Hause. Nun ja, er arbeitete fast immer zu Hause, seit er herausgefunden hatte, dass es unnötig war, mitten im Redaktionsgewimmel am Schreibtisch zu sitzen, wenn er den Geschmack einer Sauce hollandaise beschrieb. Heute war Freitag, und Freitag war sein Leserbrieftag. Der Verlag schickte ihm die Zuschriften immer in einem großen Umschlag, der diesmal ziemlich dick gewesen war, und nun arbeitete er sich langsam durch die Meinungen, Betrachtungen, Beleidigungen und Äußerungen rechtschaffener Entrüstung der britischen Öffentlichkeit. Zumindest des Teiles der britischen Öffentlichkeit, der seine Kolumne las. Er würde die fünf besten Briefe auswählen. Nicht um sie zu beantworten, um Himmels willen. Das tat er grundsätzlich nicht. Nein, er übergab sie am Montag Rhona, die sie abtippte, wonach sie in der folgenden Sonntagsausgabe neben seiner Kolumne abgedruckt wurden.
Henry hatte bereits ein paar Für-wen-halten-Sie-sich-eigentlich-Briefe herausgelegt, einen von einer Frau aus Herfordshire, deren dortigen Pub er vor zwei Wochen niedergeknüppelt hatte – und zwar mit gutem Grund –, und einen weiteren von einem alten Knaben, der die Ansicht vertrat, dass Henry keinerlei journalistische Begabung besitze. Damit traf er zwar den Nagel auf den Kopf, doch darauf kam es gar nicht an. Er war ein Typ, der ein bisschen Ahnung von Essen hatte und keine Scheu, seine Meinung kundzutun. Laut. Beleidigend, wenn möglich. Und mit einer kleinen Prise Gift zum Drüberstreuen plus einigen Kraftausdrücken zur Auflockerung. Das war eine ziemlich präzise Beschreibung von Henrys Job, und es war ein verdammt angenehmer Job. Letztes Jahr hatte er eine beträchtliche Gehaltserhöhung bekommen und einen neuen Zweijahresvertrag. Über seiner Kolumne prangte ein höchst schmeichelhaftes Foto von ihm, und sein Spesenkonto grenzte ans Märchenhafte. Und dann war da noch der Firmenwagen, zu dem er die Verlagsleitung überredet hatte. Von solchen Bedingungen hätte er als Autor von ernsthaften, politischen Beiträgen für den Guardian oder The Times nur träumen können!
Doch manchmal legte Henry an seinem Schreibtisch den Kopf auf die verschränkten Arme und fragte sich verzweifelt, wie in aller Welt er an einem solchen Ort hatte landen können. Und ob es einen Weg aus diesem Jammertal gab. Und wenn, ob sie ihn gehen lassen würden.
Das Telefon klingelte.
»Hi, Henry. Hier ist Adrienne.«
»Hallo, Adrienne.« Sie war seine Agentin.
»Sie waren sehr, sehr ungezogen«, schalt Adrienne ihn.
Henry fürchtete sich immer ein wenig vor ihr, doch sie schien es nicht zu merken. »War ich das?«, fragte er vorsichtig.
»Spielen Sie nicht den Ahnungslosen. Sie wissen ganz genau, dass Sie die Fahnen am Mittwoch in den Verlag zurückbringen sollten.«
»Oh. Wirklich?«
Adrienne ließ sich von seinem Gedächtnisverlust nicht beeindrucken. »Sie haben viel Geld für dieses Buch bekommen, Henry«, erinnerte sie ihn unnötigerweise. Adrienne war besonders stolz auf diesen Vertrag, da das Konzept ihre Idee gewesen war: Henry Hart. The Guide. Der Restaurantführer. In dem Buch beurteilte er einhundert britische Spitzenrestaurants, und Adrienne war überzeugt, dass er die anderen Restaurantführer hinter sich lassen würde, vielleicht sogar – sie senkte ehrfurchtsvoll die Stimme – Egon Ronay und den Michelin Guide.
An diesem Punkt hatte er sie ermahnt, auf den Teppich zurückzukommen, aber sie fand einen Verleger, der ihre Ansicht teilte, und sie brachte Henry dazu, einen Vertrag für zwei Bücher zu unterschreiben. Es war ihm allerdings nicht klar, was in dem zweiten Buch stehen und wie es heißen sollte. Henry Hart. Yet Another Guide. Noch ein Restaurantführer oder ein ähnlicher Quatsch.
»Ich werde anrufen und mich entschuldigen«, sagte er.
»Das habe ich bereits getan. Und ich habe ihnen versprochen, dass sie die Fahnen Montag früh auf dem Tisch haben. Stellen Sie sich vor: In der vergangenen Woche haben neun Restaurants angerufen und wollten wissen, ob sie erwähnt werden! Ist das nicht fantastisch? Sie zittern vor Aufregung – oder vor Angst. Der Verlag hat ihnen geantwortet, wenn sie es wissen wollen, sollen sie sich das Buch kaufen!« Sie lachte schallend. Manchmal dachte Henry, dass sie nicht ganz bei Trost war. »Oh, ich habe es im Urin, Henry: Dieses Buch wird ein Bestseller!«
»Na wunderbar. Hören Sie – es hat geklingelt.« Das war seine Standardausrede.
»Okay. Die Leute von Ich bin ein Star – holt mich hier raus haben übrigens noch mal angefragt. Sind Sie absolut sicher, dass Sie nicht ...«
»Ich bin absolut sicher«, antwortete Henry.
»Na dann ...« Adriennes Seufzer machte deutlich, dass sie ihn für verrückt hielt.
»Eine Frage noch«, sagte er. »Haben Sie auch Lyrik im Programm?«
Eine Sekunde lang herrschte Stille: »Lyrik?«
»Ja, Adrienne. Textzeilen, die sich manchmal, jedoch nicht immer, reimen.«
»Ich weiß, was Lyrik ist – aber wir vertreten keine Art von Literatur, Schätzchen, wie Sie wissen. Das Zeug ist einfach nicht an den Mann zu bringen. Und was die Lyrik angeht ...« Wieder herrschte kurze Stille, und dann wollte sie wissen: »Von welchem Typ Lyrik sprechen wir hier? Schmalz?«
»Nein«, sagte Henry, bemüht geduldig, »moderner Lyrik. Liebesgedichte.« Diesmal herrschte lange Stille. Dann sagte Henry: »Sie sind nicht von mir, sondern von einem Freund. Ich hatte ihm angeboten, mich für ihn zu erkundigen.«
»Ah!« Adrienne klang zutiefst erleichtert. »Richten Sie Ihrem Freund aus, er soll es vergessen, Schätzchen. Er vergeudet seine Zeit. Die Leute wollen keine Poesie mehr lesen. Er würde nicht einmal in einer Zeitschrift abgedruckt. Schreibt er auch Thriller?«
»Nein.«
»Einen guten Krimi könnte ich nämlich vielleicht verkaufen.«
»Er schreibt keine Romane. Nur Gedichte.«
»Kann ich am Montag mit den Fahnen rechnen?«
»Ja.« Er unterbrach die Verbindung. Verdammt. Jetzt war er gezwungen, sich den Rest des Tages und das ganze Wochenende mit den Fahnen zu beschäftigen, seine eigenen Kritiken zu lesen, nur in einer längeren Version, von denen die meisten mit dem Satz anfingen: »Also, dieses war wirklich grässlich ...«
»Hi, Mädchen«, sagte er zu dem Hund, der gerade hereinkam. Shirley kratzte sich seit gestern häufig. Er sollte sie auf Flöhe untersuchen. Am besten gleich.
Shirley bedachte ihn mit einem mitleidigen Blick, als er vor ihr in die Hocke ging und mit beiden Händen ihr struppiges Fell abzusuchen begann. Obwohl es kurz war, konnte er nichts finden, aber die Biester waren raffiniert: Sie versteckten sich, wenn Gefahr drohte. Vielleicht hätte der Tierarzt ja mehr Glück. »Wir müssen auch das Muttermal hinter deinem Ohr anschauen lassen«, sagte er zu ihr. »Die Dinger können unangenehm werden, wenn sie ihre Form verändern, weißt du?«
Shirley gab einen langen Seufzer von sich.
»Na schön, warten wir noch ein bisschen«, sagte er zu ihr. »Aber wir dürfen es nicht ewig vor uns herschieben.«
Er würde Kaffee machen und sich die Korrekturbögen vornehmen. Was seine Leser wohl denken würden, wenn sie ihn jetzt sehen könnten, den arroganten, schlagfertigen Henry Hart, den Schlächter von Notting Hill, der von seinem Hund bemitleidet in Socken durch seine Küche schlurfte und sich zwischen koffeinfreiem und normalem Kaffee zu entscheiden versuchte?
Außer dem Kuvert mit den Leserbriefen war auch noch normale Post gekommen, und als er sie vom Küchentisch räumen wollte, um die Fahnen darauf auszubreiten, fiel sein Blick auf einen Brief von einer Anwaltskanzlei.
Die Scheidungspapiere. Er wusste es sofort – vom Gewicht in seiner Hand. Er ließ sich auf einen Stuhl fallen. Lächerlicherweise fand er es kränkend, dass sie nicht mit bevorzugter Post geschickt worden waren. Er hatte seine Steuern bezahlt, er hatte letztes Jahr am Red Nose Day etwas gespendet, und trotzdem war er offenbar nicht den Preis für eine Briefmarke für die bevorzugt beförderte Post wert.
Shirley spürte seine Bestürzung offenbar, denn sie schaute aufmerksam herüber. Vielleicht spürte sie auch irgendwie, dass der Brief etwas mit Jackie zu tun hatte. Oh, die beiden mit ihrem Mädchengekicher und Spaß! Jackie hatte Shirley Hüte aufgesetzt! Hüte! Einem Hund! Und dann ging sie bei klirrender Kälte mit ihr in den Park! Henry ließ Shirley von November bis mindestens März nur minutenweise vor die Tür. Scheidung.
Er hatte gewusst, dass sie auf ihn zukam. Der seltsame, kurze Brief vor ein paar Wochen hatte sie angekündigt. Jackie hatte ihn zwar mit der Hand geschrieben, aber vielleicht war er ihr ja von ihrer Anwältin diktiert worden, dieser Velma Murphy. Er hatte so merkwürdig und kalt geklungen, so gar nicht nach Jackie. Aber vielleicht war er auch das Resultat ihres Nervenzusammenbruchs. Genau.
Das war ein kleines Hirngespinst, eine Idee, der Henry oft nachhing: dass Jackie ihn damals aufgrund einer unerklärlichen emotionalen Krise verließ, die sie aus heiterem Himmel überfallen hatte wie eine Grippe. Diese Erklärung war gar nicht so weit hergeholt, wenn man Jackies Charakter bedachte: immer unstet und unberechenbar, ständig Feuer und Flamme für irgendetwas und am nächsten Tag schon wieder das Interesse verlieren. So hatte sie sich auch seiner entledigt – als wäre er Milch, die über Nacht sauer geworden war. Sie war ein Mensch der Übertreibungen und Extreme mit einem mangelhaften Urteilsvermögen, der die falschen Entscheidungen traf (außer in seinem Fall, natürlich), und es wäre wirklich kein Wunder, wenn ihr Gehirn eines Tages »Es reicht!« geschrien und sich eine Auszeit genommen hätte. Sie hatte nur ihren roten Koffer gepackt, ihm einen Zettel hinterlassen, auf dem ein lapidares »Mach’s gut« stand, und den nächsten Flieger nach Irland genommen.
Wenn er so dachte, konnte er sie beinahe verstehen, konnte ihr beinahe verzeihen, dass sie ihn auf diese Weise verlassen hatte, so abrupt und schockierend. Sie war eben nicht zurechnungsfähig.
Aber so dachte Henry nur, wenn er wohlwollend gestimmt war, wenn er im Park an ein paar übermütigen Kleinkindern vorbeiging, vielleicht, oder eine Coca-Cola-Reklame sah und die Welt für einen Moment ein harmonischer Ort zu sein schien.
Wenn er nüchterner dachte, wie heute, dann sah er ihre Flucht genau als das, was sie war: ein ziemlich brutaler Beweis für das absolute Fehlen von Substanz. Eigentlich hätte er es von Anfang an kommen sehen müssen – wenn er nicht bis über beide Ohren verliebt und so geschmeichelt gewesen wäre von ihrer Bewunderung und Aufmerksamkeit. In seinem Alter hätte er wissen müssen, dass eine solche Intensität nicht von Dauer sein konnte, dass Begeisterung, die so schnell entfacht wird, ebenso schnell erlischt, und dass man, wenn man an der Oberfläche kratzt, sehr schnell feststellt, dass nicht viel darunter ist. Als sie genug hatte, als er ihren lächerlichen Vorstellungen von Liebe und Ehe nicht gerecht wurde, hatte sie ihr Ränzlein geschnürt und war weitergezogen. Einfach so. Hatte ihn und Shirley unbekümmert zurückgelassen, keine Verwendung mehr für sie gehabt.
»Ich liebe dich noch«, sagte er zu Shirley. »Vergiss das nie.«
Sein Anwalt hatte ihm erklärt, dass Jackie, da sie noch keine zwei Jahre getrennt lebten, als Scheidungsgrund »unzumutbares Benehmen« des Antraggegners vorbringen müsse. Genau gesagt hatte ihm das ein frischgebackener Anwalt namens Tom erklärt, denn Ian Knightly-Jones prozessierte gerade vor Gericht gegen Microsoft oder jemand in der Art. Dieser Tom hatte während des gesamten Gesprächs auf seinen Schreibtisch hinuntergeschaut und Henry zugeflüstert, dass die Gerichte verständnisvoll und ihre Maßstäbe nicht zu übertrieben seien und dass das »unzumutbare Benehmen« wahrscheinlich nichts allzu Persönliches sei.
»Vielleicht, dass mein Füße stinken?«, sagte Henry.
»Oh! Also, äh ...«
»Das war ein Witz.«
»Ah! Ich verstehe. Nun, wahrscheinlich wird es mehr als das sein. Ein Grund wäre zum Beispiel, dass Sie saufen wie eine Kuh.« Er versuchte seinerseits, witzig zu sein, und Henry konnte nicht widerstehen, ein todernstes Gesicht zu machen und den armen Kerl damit in Panik zu stürzen. »Ich ... ich ... das sollte nicht ...«
»Schon okay. Ich saufe nicht wie eine Kuh. Nur am Wochenende.«
»Mr Knightly-Jones sagte, ich solle Ihnen ausrichten, dass er nächste Woche wieder in der Kanzlei sei«, hatte Tom hastig das Thema gewechselt, »und dass Sie den Scheidungsantrag nicht lesen müssen, wenn Sie nicht wollen, sondern ihm das Kuvert ungeöffnet zuschicken können.«
Die Scheidungsklage nicht lesen? Sich die pikanten Details und Beispiele für sein »unzumutbares Benehmen« entgehen lassen? Das kam ja gar nicht infrage! Er freute sich regelrecht auf die Lektüre. Vielleicht würde er sich eine Packung Jaffa Cakes aufmachen und das Telefon ausstöpseln, um sich ungestört amüsieren zu können.
Henry riss das Kuvert auf und sagte zu Shirley: »Ich wette, sie hat meinen Fahrstil angeführt. Und dass ich nicht so gesellig war, wie sie es gern gehabt hätte. Was ganz unmöglich gewesen wäre, wenn wir ehrlich sind. Man konnte ihre Erwartungen einfach nicht erfüllen. Ich habe weiß Gott schon tagsüber im Verlag mit genügend Schwachköpfen zu tun – da muss ich mich doch nicht noch abends mit ihnen abgeben, oder? Und wie oft habe ich ihr zu erklären versucht – du bist meine Zeugin! –, dass ich hin und wieder auch arbeiten müsste, dass wir nicht beide den ganzen Tag nur shoppen könnten.«
Shirley stieß ein leises Winseln aus, das ihm sagte, dass sie seine Meinung nicht teilte.
»Ist ja gut.« Henry zog das Scheidungsgesuch aus dem Umschlag und faltete es auseinander. Es war ein kleiner Schock, ihren Namen auf dem Deckblatt getippt zu sehen. Jackie Ball. Antragstellerin. Und dann seinen Namen darunter. Es war besonders merkwürdig für ihn, weil er noch nie zuvor einen Scheidungsantrag in der Hand gehabt hatte. Irgendwie wollte es ihm nicht in den Kopf, dass Jackie ihm dieses unpersönliche, formelle Dokument schickte – ausgerechnet Jackie mit ihren Post-it-Notizen und bunten Papierfetzchen und mit Lippenstift gekritzelten Telefonnummern. Vielleicht fiele es ihm leichter, das Ding zu lesen, wenn er damit so sachlich umginge wie mit seinen Fahnen. Auf der ersten Seite klappte es, denn dort stand nur juristischer Kram, doch dann kamen die Scheidungsgründe.
Weigerung, eine partnerschaftliche Ehe zu führen.
Es folgte eine kurze Erläuterung dazu, nichts Dramatisches, nur bedeutungsloses Geschwafel. Zumindest nichts, was den Wunsch in ihm weckte, vor Wut zu brüllen oder das Mobiliar zu zertrümmern.
Weigerung, sich emotional in die Ehe einzubringen.
Wiederum folgte eine kurze Erläuterung, in der sie ihn eher als gedankenlos denn als regelrecht desinteressiert schilderte, als sei es etwas gewesen, das er schlicht vergessen hätte – wie den Rasen zu mähen. Was er tatsächlich ständig vergessen hatte. Erst als er langsam ausatmete, wurde ihm bewusst, dass er den Atem angehalten hatte.
Er beeilte sich umzublättern, um den Rest zu lesen, aber es gab keinen. Konnte das sein? Nur zwei Vorwürfe? Zugegeben, sie waren ernster Natur und konnten jeder Ehe den Todesstoß versetzen, doch er hatte einfach mehr erwartet. Vernichtungsschläge gegen seinen Charakter und dreiste Lügen! Sie erwähnte nicht einmal seine Launenhaftigkeit, die gegen Ende sogar nach seinen eigenen Maßstäben unerträgliche Formen angenommen hatte. War sie ihr vielleicht gar nicht aufgefallen? Vielleicht hatte sie sie damals auch einfach nicht mehr gekümmert.
Henry fühlte sich wie ein Ballon, aus dem man die Luft herausgelassen hatte. Er war sogar enttäuscht. Es sah Jackie einfach nicht ähnlich, sich derart zurückzuhalten. Und es kam ihm unpassend vor, eine so heftige Beziehung wie die zwischen ihnen mit einer so kurzen, kleinen, antiseptischen Liste zu beenden.
Jackie versuchte, sich für ein Hochzeitskleid zu entscheiden. Michelle hatte heute die Uni sausen lassen, um ihr zu helfen, was darin bestand, dass sie alle möglichen Modelle von den dicht behängten Ständern zerrte und kurz darauf zurückstopfte.
»Oh, mein Gott!«, schrie sie immer wieder aufs Neue. Sie zog das nächste Kleid heraus. Es war dank seiner üppigen Stofffülle so schwer, dass sie es sogar mit beiden Händen kaum hochhalten konnte.
Auch Emma war mitgekommen, allerdings sehr widerstrebend und nur, weil Jackie argumentiert hatte, dass sie das müsste, weil sie die erste Brautjungfer war, nachdem Mrs Ball ihr Veto gegen Michelle als Brautjungfer eingelegt hatte.
»Ich kann das nicht«, hatte Emma protestiert. »Nicht vor so vielen Leuten, die mich alle ansehen.«
»Sie werden nicht dich ansehen. Sie werden mich ansehen.«
»Warum brauchst du mich dann überhaupt?«
»Weil du meine Freundin bist, Emma. Es ist wie eine ... Auszeichnung!«
Aber Emma war kreidebleich geworden und hatte zu zittern angefangen, und so hatte Jackie sich gezwungen gesehen, ihre Cousine Chloe zu bitten, Brautjungfer Nummer zwei zu werden. Michelle hatte zu Recht darauf hingewiesen, dass Chloe das hübscheste Mädchen der ganzen Familie sei, wahrscheinlich des ganzen Landes, und dass Jackie so viel Grips hätte haben sollen, ihre Cousine Maureen zu bitten, die vierzehn und so breit wie hoch war. Doch Chloe hatte nicht mit sich reden lassen, als Jackie vorsichtig versuchte, sie auszubooten, und nun musste sie sich mit einer Brautjungfer abfinden, die ihr zweifellos die Show stehlen würde. Zu allem Unglück hatte Chloes Mutter Mrs Ball angerufen und etwas zu ihr gesagt – was, erfahr niemand –, dessentwegen Mrs Ball eine geschlagene Woche lang mit finsterer Miene herumlief.
Als wäre das alles noch nicht kompliziert genug, handelte Dan sich Ärger ein, als er nun gleichziehen musste und seinem Trauzeugen Big Connell seinen zweitältesten Bruder PJ zur Seite stellte. PJs Frau Fiona war eingeschnappt, weil Dan ihn erst als Zweiten gefragt hatte. Sie sagte, sie fühle sich gegenüber der anderen Fiona zurückgesetzt und wisse nicht, wie sie den Leuten im Club noch in die Augen sehen solle. Jackie entschuldigte sich tausendmal bei Dan, dass sie einen solchen Unfrieden in seiner Familie verursacht habe, doch er schien seltsam ungerührt ob Fionas Empörung und erklärte Jackie nachdrücklich, sie könne so viele Brautjungfern haben, wie sie wolle – er würde Mann für Mann gleichziehen und verfüge noch über eine ganze Horde von Cousins ersten Grades, falls ihm die Brüder ausgehen sollten.
All das weckte in Jackie den Wunsch, nach Tahiti durchzubrennen und mit nur zwei Kokosnüssen als Trauzeugen am Strand zu heiraten. Aber sie konnte jetzt keinen Rückzieher mehr machen, nicht jetzt, nachdem Dan weitere hundert Personen auf die Gästeliste gesetzt hatte, die sich damit auf vierhundert belief.
»Kennst du diese Leute überhaupt alle?«, fragte sie, denn sie hatte allmählich den Verdacht, dass er in seinem Organisationsrausch übers Ziel hinausschoss.
»Natürlich«, antwortete er. »Bill, Cliff und Bugsy waren zum Beispiel Schulkameraden von mir.« Später erfuhr sie von seiner Mutter, dass die Schule in Wahrheit der Kindergarten gewesen war, sie sich mit fünf Jahren zuletzt gesehen hatten und es ihn Wochen kostete, sie aufzutreiben. Seine Mutter schien ausgesprochen überrascht über die Dimensionen, die die Feierlichkeiten annahmen, was bemerkenswert war, da sie aufgrund ihrer Medikamente seit Jahren keinerlei Emotionen gezeigt hatte. Während eines ihrer gesprächigeren Besuche, von denen es nicht viele gab, enthüllte sie, dass er sie gelöchert habe, ihm die Adressen von Cousins dritten Grades in Australien zu geben, die er einladen wolle.
Er schien definitiv entschlossen zu sein, für Aufsehen zu sorgen. Jackie hatte angenommen, dass er die Hochzeit eher bescheiden gestalten wollte, doch davon konnte keine Rede sein. Gestern hatte er bis Mitternacht am Telefon gehangen und irgendwelche Verwandte bekniet, ihm die Nummer einer Acht-Mann-Band zu nennen, die bei all den großkotzigen Society-Hochzeiten spielte.
»Es macht doch nichts, wenn wir sie nicht kriegen«, hatte Jackie ihn zu beruhigen versucht.
»Es macht nichts? Willst du vielleicht, dass ein DJ bis vier Uhr früh Madonna spielt?«, erwiderte er gereizt.
Jackie mochte Madonna. Sie mochte auch DJs und hatte im Stillen auf einen gehofft. Doch jetzt war klar, dass sie keinen bekommen würde.
»Was ist mit den Kosten für das alles?«, hatte sie anzufragen gewagt.
»Mach dir deswegen keine Gedanken«, antwortete er und griff wieder zum Telefon. »Ach ja – wir fliegen mit einem Hubschrauber zu dem Hochzeitsempfang.«
Das bedeutete, dass sie auf einen langen Schleier verzichten müsste, denn sie wollte schließlich nicht riskieren, dass er sich bei einem plötzlichen Aufwind in den Rotoren verfing und sie geköpft würde.
Michelle durchstöberte noch immer die Kleiderständer. »Schau mal – ein Schäferinnenkleid. Wenn du ein paar Schafe auftreiben könntest ...«
»Willst du bloß Witze reißen oder mir auch helfen?«, fragte Jackie scharf.
Ihre Schwester war sichtlich überrascht. »He – er ist es nicht wert, dass du seinetwegen deinen Humor verlierst, Jackie.« Es war ihre erste negative Äußerung über Dan.
»Es hat nichts mit Dan zu tun«, verteidigte Jackie ihn. »Es ist nur ...« Sie rang sich ein Lächeln ab. »Je eher wir hier fertig sind, umso eher kommen wir in den Pub.«
»Das ist die richtige Einstellung«, lobte Michelle. Sie hatte schon auf dem Herweg zweimal versucht, Jackie und Emma in einen hineinzulotsen.
Wenigstens nahm Emma die Sache ein bisschen ernster. Sie hielt ein Kleid zu Jackies Begutachtung hoch. »Ich finde, das passt zu dir.«
Das Kleid war tief ausgeschnitten und aus fließendem Stoff mit einem Chiffoneffekt, der Jackie zauberhaft ätherisch wirken lassen würde, und der Elfenbeinton brächte ihre Haut optimal zur Geltung. Aber nein – es kam nicht infrage. Nicht für eine Hochzeit mit vierhundert Gästen und einem Sieben-Gänge-Menü und Cousins dritten Grades und boshaften Ehefrauen, die mit Adleraugen jeden Quadratzentimeter von ihr beäugten. Das fehlte noch, dass nach dem Aussteigen aus dem Hubschrauber dieser fließende Stoff hochgeweht würde und alle ihre Marks & Spencer-Unterwäsche sähen. Bei dem bloßen Gedanken brach ihr der Schweiß unter den Achseln aus.
Also schüttelte sie den Kopf und meinte: »Lasst uns doch mal in die Designerabteilung schauen.«
Michelle und Emma wechselten einen Blick. »Da kosten sie das Zehnfache – für nicht mal die halbe Menge Stoff«, wandte Emma ein.
»Riskieren wir trotzdem einen Blick.« Jackie ging voraus. Die Verkäuferin folgte in diskretem Abstand. Offenbar befürchtete sie, dass Jackie versuchen würde, das schönste Modell zu klauen.
In der Designerabteilung herrschte gedämpftes Licht und eine Atmosphäre, die beinahe an die einer Kirche erinnerte. Unwillkürlich verfielen sie in Flüsterton, und Michelle überprüfte ihre Schuhsohlen auf Hundekot, ehe sie die heiligen Hallen betrat. Eine Modepuppe in ihrer Nähe trug eine klassische, trägerlose Kreation, die sämtliche Fionas begeistern würde, doch Jackie hätte darin den ganzen Tag Angst, dass das Kleid irgendwann ins Rutschen geriete und ihre Brüste freilegte.
»Schau dir bloß die vielen Häkchen da hinten an! Stell dir vor, es ist deine Hochzeitsnacht, und sie werden eines nach dem anderen von Colin Firth geöffnet!«
»In diesem Fall doch wohl von Dan«, warf Emma ein.
Der käme mit seinen riesigen Händen nie im Leben damit zurecht. Er würde »Verdammt!« und »Verfluchter Mist!« schimpfen und alle Lampen anmachen müssen.
Jackie fragte sich, warum alles so kompliziert geworden war. Vielleicht war es das ja aber gar nicht. Vielleicht engagierte sie sich einfach nicht genug, obwohl sie es sich wirklich ernsthaft vorgenommen hatte. Und es war nicht Dans Schuld, dass er eine so große Familie hatte und so viele berufliche Kontakte und dass es so viele Leute gab, die er offensichtlich beeindrucken wollte. Er organisierte ein rauschendes Fest, und sie fühlte sich schon überfordert, ein läppisches Kleid für sich auszusuchen, was das Einzige war, was sie für diese Hochzeit tun musste!
»Ich probiere es an«, entschied sie. Sie könnte sich ja dieses unsichtbare Klebeband für ihren Busen besorgen und die Daumen drücken, dass es dem Sog der Propeller widerstünde. Wobei Daumendrücken nichts helfen würde, wenn es nicht hielte.
»Du musst dich nicht heute entscheiden, Jackie«, sagte Emma, als sie ihren Gesichtsausdruck sah.
»Doch, das muss ich! Ich habe viel zu lange gewartet – jetzt ist es zu spät, mir ein Kleid nähen zu lassen. Es würde zwölf Wochen brauchen, acht Wochen für Änderungen, drei Wochen, bis ich abgenommen hätte, zwei Wochen für weitere Änderungen ...« So schnell, dass sie es nicht stoppen konnte, entschlüpfte ihr: »Beim ersten Mal war es nicht so stressig.«
Ooooh. Schockiertes Schweigen. Entsetzte Blicke. Michelle und Emma wagten nicht zu atmen.
»Ich meinte das Kleid«, erklärte Jackie. »Mrs Brady machte es – weißt du noch, Michelle? Und das war kein solches Theater wie dieser Akt hier.«
Kollektives, leises Ausatmen.
»Das stimmt zwar«, sagte Michelle, »aber es war nicht so schick wie eines von diesen, Jackie.«
Sie erinnerte sich nur noch dunkel daran. Woran sie sich deutlich erinnerte, waren freudige Erregung und schiere Glückseligkeit. Aber es war albern, Vergleiche anzustellen. Immerhin war es schon ihre zweite Hochzeit. Da sprudelten die Gefühle eben nicht mehr derart über. Doch das wollte sie nicht zugeben.
»Vielleicht stört mich einfach das Weiß«, sagte sie stattdessen. »Vielleicht stört mich, als Jungfrau aufzutreten.«
»Als Jungfrau!« Michelle schnaubte. »Ich garantiere dir, dass du in diesem ganzen Laden keine einzige Jungfrau findest.«
Mehrere zukünftige Bräute schauten schuldbewusst herüber und ihre Mütter geschockt. Die Hand der Verkäuferin schwebte einsatzbereit über dem Panik-Knopf.
»Warum musst du immer so zynisch sein, Michelle?«, zischte Jackie.
Ihre Schwester ließ den Blick gelangweilt durch den Verkaufsraum wandern. »Ich glaube einfach nicht an diesen Glücklich-bis-an-ihr-seliges-Ende-Kram.«
»Und ich bin wohl der Grund dafür«, sagte Jackie spitz.
»Nein. Du hast deine Sache sogar gut gemacht. Du hast schon den zweiten Mann kennengelernt, mit dem du dir vorstellen kannst, dein Leben zu verbringen. Ich noch nicht mal einen, bei dem ich zum Frühstück bleiben wollte.«
»Wenn die Zeit reif ist, wirst du einen finden«, sagte Jackie, doch es klang platt und hohl in ihren Ohren.
»Aber woher werde ich wissen, dass er der Richtige ist?«
»Mich darfst du nicht fragen«, sagte Emma.
»Ich weiß natürlich, dass du Henry jetzt nicht mehr ausstehen kannst, aber nehmen wir Dan: Was hast du empfunden, als du ihn das erste Mal sahst? War es wie ein Donnerschlag?«
»Nein. Es war eher ...« Sie konnte unmöglich erzählen, dass sie beide verzweifelt versucht hatten, einander zu überzeugen, dass er nicht zu langweilig für sie wäre. Aber das war nur am ersten Tag gewesen. Seitdem war es ... großartig. Fantastisch! »Wenn es passiert, wirst du es wissen.« Sie beschloss, sich nicht weiter auf dieses Thema einzulassen.
Doch Michelle schaute düster drein. »Ich glaube definitiv nicht, dass ich mal so für einen Mann empfinden werde.«
»Natürlich wirst du das. Halt einfach die Augen offen.«
»Das tue ich ja, aber es ist inzwischen schwierig, einen Mann zu finden, mit dem ich noch nicht im Bett war«, jammerte Michelle.
»Wo hattest du die denn alle her?«, fragte Emma, um einen leichten Ton bemüht. »Gibt es einen bestimmten Ort, wo man Männer fürs Bett findet?«
An diesem Punkt trat die Verkäuferin mit festem Schritt auf sie zu. »Kann ich Ihnen vielleicht helfen?«
»Ja«, antwortete Michelle energisch. »Wir suchen etwas für eine zweite Hochzeit.«
»Aha«, sagte die Verkäuferin verständnisvoll. »Für Sie?«
»Machen Sie Witze?«
Daraufhin wandte die Verkäuferin sich an Emma. »Für Sie?«
»Ganz sicher nicht«, wehrte Emma sich mit Nachdruck.
»Für mich«, gestand Jackie widerstrebend. Wohlwollend richteten alle den Blick auf sie. Die Verkäuferin musterte sie schnell von oben bis unten, als nehme sie mit den Augen Maß.
»Haben Sie schon Tüll in Betracht gezogen?«, fragte sie.
»Nein«, antwortete Jackie ehrlich.
»Versuchen Sie, sich darin zu sehen.«
Jackie tat es. Sie sah sich mit einem bescheidenen Schleier den Mittelgang hinaufschreiten, wo ihr Zukünftiger in seinem Cutaway auf sie wartete. Alles klappte wunderbar, das Tüllkleid löste Ooohs und Aaaahs bei den Gästen aus, und sie genoss ihren Auftritt, obwohl der Stoff ein bisschen kratzte – bis sie auf halbem Weg erkannte, dass der Mann vorne am Altar nicht Dan war. Ihr Gehirn hatte ihn gegen Henry ausgetauscht.
Entsetzt stieß sie hervor: »Wissen Sie – ich glaube, ich verschiebe es auf einen anderen Tag.«
»Wenn Sie Tüll nicht mögen, können wir jederzeit auf Satin ausweichen ...«
»Nein. Danke. Ich muss gehen. Ehrlich.« Damit floh sie aus dem Geschäft.