Читать книгу Fantastische Fragmente - Claudi Feldhaus - Страница 11
ОглавлениеSoranas Vermächtnis
Mirianda eilt die Stufen in den Garten hinab. Beachtet weder die Rosen und wilden Orchideen noch den Sommerflieder. Ihr Blick fixiert die schwarz gekleidete Frau, die mit geschlossenen Augen vor dem herb nach Rosmarin und Salbei duftenden Kräuterbeet steht. Schwer atmend, mit vom Laufen geröteten Wangen, stoppt sie vor der Alten. »Willkommen!«, grüßt sie atemlos.
Die Heilerin öffnet die Augen. Mustert Mirianda mit durchdringendem Blick. Eine Energie silbrig, kalt und gleißend, bohrt sich in sie hinein. Tastet ihren Körper Faser für Faser ab. Verbindet sich mit der tief in Miriandas Seele schlummernden Kraft. Die feinen Härchen auf ihrer Haut stellen sich auf wie kleine Fühler. Wie aus weiter Ferne hört sie eine Melodie, fremd und doch vertraut. Ein längst in ihr wohnendes Wissen regt sich wie ein schlafendes Tier, kurz vor dem Erwachen. Ein tiefes Grollen steigt aus Miriandas Körper empor, löst sich auf in einem heftigen Rülpser. Beschämt senkt sie den Blick. Die Magie des Augenblicks verpufft. Die Betagte lacht leise. Mirianda stimmt befreit in das Lachen ein. »Herzlich Willkommen!«, wiederholt Mirianda ihre Begrüßung und reicht der Alten die Hand.
»Sei gegrüßt, Tochter der Sorana! Ich bin die Heilerin Saragunde, die Letzte vom Geschlecht der Merowinger, Vertraute deiner Mutter und Überbringerin ihrer Botschaft.« Mit diesen Worten deutet sie eine Verbeugung an, öffnet für einen Moment ihren Umhang. Ihr vom Leben gezeichnetes Gesicht leuchtet heller als tausend Kerzen und ihre gestrenge Miene wird weich. Erstaunt folgt Miriandas Blick dem ausgestreckten Arm der Heilerin, der gen Himmel weist. Ein kleines Loch in der Wolkendecke reißt auf. Ein Stück belebendes Blau wird sichtbar. Eine Farbe von einer Klarheit, wie sie das in der ewigen Dämmerung aufgewachsene Mädchen nie zuvor sah. Die Wolken ziehen schnell darüber, verschließen, was sich für einen kostbaren Augenblick zeigte. Mirianda steht da, mit geöffnetem Mund und starrt zum Himmel hinauf. Ein leises Krächzen lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder zurück. Eine Krähe hockt auf der Schulter Saragundes, putzt mit spitzem Schnabel ihr glänzendes Gefieder.
Die Heilerin schließt ihren Umhang. »Gesegnet seiest du Mirianda, für jetzt und auf immer!« Mit diesen Worten fließt ein schimmerndes Nebellicht aus ihrem Mund, legt sich wie ein zartes Band um die Frauen.
Mirianda hört sich selbst antworten: »Gesegnet seiest du Saragunde, für jetzt und auf immer!«
Der silbrige Schleier wird mit jedem Atemzug durchlässiger. Legt sich wie ein lebendiger Stoff über ihre Haut und dringt in ihre Poren ein, löst sich in ihr auf. Voller Freude, leicht und im Wesen mit Saragunde verbunden atmet sie befreit auf.
Sie folgen dem von Frühlingssternen gesäumten Weg, bis zum mit Blumengirlanden festlich geschmückten Gartenpavillon. In der Ferne türmen sich dunkle Wolken, begleitet von einem dumpfen Grollen. Ein Schwarm der schwarz Gefiederten kreist über ihnen am Himmel. Die Vögel schlagen aufgeregt mit den Flügeln, krächzen in wildem Crescendo. Die Krähe auf Saragundes Schulter tippelt erregt hin und her. Die Heilerin greift sich das Tier, murmelt ein paar unverständliche Worte, küsst es auf den Schnabel. »Flieg mein Liebster. Flieg. Die Zeit ist nah!« Sie öffnet die Hände. Der Gefiederte schwebt noch einen Augenblick über ihren Köpfen, entfernt sich und verschwindet im Schwarm seiner lärmenden Artgenossen.
Die beiden Frauen setzen sich im Pavillon einander gegenüber auf die mit weichen Kissen bezogenen Hochstühle. Saragunde nickt Mirianda aufmunternd zu. Diese rutscht auf ihrem Stuhl nach vorn. »Bitte, erzähl mir von Sorana. Wie war meine Mutter? Habt ihr euch gut gekannt? Hat sie sich auf mich gefreut? War sie wirklich die Schönste aller Frauen, so wie Halamor es behauptet? Hast du…«
Mit einer abwehrenden Handbewegung stoppt Saragunde Miriandas Redeschwall. Sie gießt sich aus der Tonkaraffe ein wenig Wasser in den Glaskelch, nimmt einen Schluck. Richtet sich auf und atmet dreimal tief ein und aus. »Ich werde berichten, was ich zu berichten habe. Du aber darfst mich nicht unterbrechen. Ich spüre, ich habe nicht mehr viel Zeit. Die Ahnen kreisen über unseren Köpfen, auch sie spüren es. Was ich dir zu sagen habe, wird deine Welt, dein Leben verändern. Ich habe es deiner Mutter auf dem Sterbebett versprochen. Ich muss dir alles erzählen, damit ich in Ruhe sterben kann. Wirst du mich reden lassen, ohne mich zu unterbrechen?«, fragt sie und sucht Miriandas Blick.
Deren Wangen sind gerötet, ununterbrochen knetet sie ihre Hände. Sie schluckt heftig, nickt zustimmend.
»Du tust gut daran«, seufzt Saragunde. »Ich verspreche dir, so lange ein Hauch Leben in mir ist, werde ich dir berichten.« Noch einmal schickt sie einen Blick gen Himmel. Beobachtet die über ihnen krakeelenden Tiere. Schüttelt den Kopf, lacht auf, versinkt für einen Augenblick in das Zwiegespräch mit den Gefiederten. Die Krähen durchbrechen ihren Kreis und verteilen sich auf den Zweigen der umstehenden Bäume. Saragunde lächelt zufrieden. Sie wendet sich Mirianda zu und erzählt.
Lange vor deiner Geburt bat Amarun, der einstige König Wardistans, den Zauberer Halamor, ihm zu helfen. Obwohl der König aufgrund vergangener Kriege die Magie so sehr fürchtete, dass er sein Land der Kirche und der heiligen Inquisition unterstellte, sah er nirgendwo einen anderen Ausweg. Weil alle Gebete zu Gott ihm und seinen Untertanen nicht halfen, blieb die Schwarze Kunst Halamors seine letzte Hoffnung. Seit Monden hatte die Erde keinen Regen gesehen. Die Flüsse trockneten aus, das Land verdorrte und das gemeine Volk litt unter der Dürre. König Amarun bot dem Zauberer, zur Abgeltung seiner Dienste, unbegrenzten Zutritt zur Bibliothek der geheimen Bücher. Die meisten der nicht Magiebegabten jener Zeit fürchteten deren Macht. Die Menschen unterschieden nicht mehr zwischen heller und dunkler Magie und so sperrten sie jedes Zauberbuch weg, dessen sie habhaft wurden. Dieses gesammelte, uralte Wissen lagerte bewacht und gesichert in den Katakomben unterhalb des Königsschlosses.
Halamor entstammte einer Nebenlinie des Herrschergeblüts. Von Kindesbeinen an lebte der arme Anverwandte am Hof des Königs.
Amarun nahm ihn auf, gewährte ihm dieselbe Bildung, die er seinem Sohn zukommen ließ. Trotz des Wissens, dass in den Adern des Zöglings eine machtvolle Magie heranwuchs, vertraute er ihm und stellte er ihn unter seinen persönlichen Schutz.
Doch der Junge dankte es ihm nicht. Er neidete dem Königssohn die Königswürde. Trachtete insgeheim nach dem, was ihm qua Geburt nicht zustand. In seinen frühen Jahren schon beschloss Halamor, der Mächtigste aller irdischen Zauberer zu werden. Er verbarg diesen Wunsch lange tief in sich. Er war sich gewiss, seine Zeit würde kommen. Die Bitte des Amaruns war für ihn wie ein Fingerzeig Gottes. Halamor versprach, dem verzweifelten Herrscher zu helfen. Weil seine Magie für so eine große Aufgabe nicht ausgeprägt sei, erbat er sofortigen Zugang zur Bibliothek der geheimen Bücher. Der König, in seiner Not und im Vertrauen auf Halamors Ergebenheit, gewährte ihm diesen Wunsch unter der Bedingung, dass der am Königshof weilende Großinquisitor Haradan, jeden von Halamors Schritten begleite. Der junge Zauberer willigte ein.
Mithilfe eines Denkzaubers lernte er schnell. Er las die Seite eines Buches nur flüchtig und schon war das Wissen in seinem Kopf gespeichert.
In den langen Tagen und Nächten, die sie in den Katakomben mit dem Studium der Bücher verbrachten, erkannten der Halamor und der Haradan ihre Seelenverwandtschaft. Der Inquisitor, ein von Neid zerfressener Priester, über keinerlei Magie verfügend, verschrieb sich der Ausrottung alles Magischen und sicherte sich dafür den Segen von Papst und König. Das Streben nach irdischer Macht bildete den teuflischen Nährboden ihres Bündnisses.
Nur wenige Wochen später vollführten die beiden in Anwesenheit von König Amaruns und dessen Gefolge das Ritual der Wetterwende. Seiner jugendlichen Aufregung geschuldet verwechselte der Zauberer die Kräuter für das Verbrennungsopfer. Es gelang ihm, an jenem Tag den Regen herbeizurufen, die Wolkendecke über Wardistan blieb bis heute verschlossen. Den Dauerregen besänftigte Halamor, die ewige Dämmerung wurde im Lauf der Jahre zum Wahrzeichen seiner Macht. Amarun zeigte sich anfangs dankbar. Er schenkte dem Jungen Ländereien und dauerhaft unbegrenzten Zugang zu den Büchern. Mit der Zeit aber, aufgrund des fehlenden Sonnenlichts, kamen ihm Zweifel an der Redlichkeit Halamors. Lange gelang es Haradan, die Vorbehalte des Königs zu besänftigen.
Im fünften Jahr der Dämmerung bezichtigte Amarun den Zauberer frevelhafter Absichten. In einem Anflug höchster Wut und mit dem Ausbrechen dunkelster Magie tötete der Zögling König Amarun und all seine Anverwandten. Der Beauftragte des Papstes, Inquisitor Haradan, krönte kurze Zeit später den Zauberer Halamor zum rechtmäßigen Herrscher. Doch das Land war wegen der langen Dürre und des fehlenden Sonnenlichts verarmt. Nichts wuchs auf den einst üppigen Feldern. Alle Vorräte waren verbraucht. Aus den Menschen ließen sich keine Schätze pressen. So rüstete König Halamor seine Truppen und brachte, weit über die Grenzen von Wardistan hinaus, Angst und Schrecken in die Welt. Er brandschatzte in der Grenzregion, raubte die schönsten Frauen. Im anhaltenden Dämmerlicht verloren sie alle ihre Schönheit und nicht wenige von ihnen das Leben. Keine gebar ihm ein Kind. Der mächtigste Zauberer der Welt verfügte dank seiner Raubzüge über großen Reichtum. Kein Sprössling zierte seinen Hof. Ein Herrscher ohne Thronfolger ist wie ein König ohne Land.
Mirianda rutscht auf ihrem Stuhl hin und her, doch bei Saragundes den letzten Worten hält sie es nicht auf ihrem Platz. Sie springt mit zornesrotem Kopf auf »So dankst du ihm seine Güte? Er hat dich hierher zu mir gebracht!«
»Schweig!«, ruft die Heilerin mit rasselnder Stimme. Sie wirft ihren Umhang von den Schultern und hebt die Arme gen Himmel. Sie wächst in die Höhe. Alles Schwache und Kranke fällt von ihr ab. Vor Mirianda steht eine hochgewachsene Frau, die langen weißen Haare flattern im Wind, Flügeln gleich. Die Krähen um sie herum krächzen und trippeln aufgeregt auf ihren Plätzen. Saragundes linker Arm kreist zweimal langsam durch Luft, dann fällt er wie ein Stein zurück. Die geballte Faust landet in der geöffneten rechten Hand. Die Krähen verstummen, alles verstummt. Kein Vogelgezwitscher, kein Bienensummen, kein Käferbrummen. Für einen Augenblick steht die Welt still.
Miriandas Mund öffnet sich, ob der merklichen Wandlung der Heilerin, doch nicht ein Laut ist zu hören. Saragundes Haut schimmert sanft in den Farben des Regenbogens. Das helle Leuchten umschließt Mirianda, besänftigt ihren Zorn.
»Setz dich und lausche!«, fordert Saragunde mit weicher Stimme. Diese greift Halt suchend hinter sich, lässt sich auf den Stuhl fallen. Die Heilerin löst eine zartgliedrige Kette mit einem blau schimmernden Anhänger von ihrem Hals. Ein einflügliger Drache mit einem Rubinauge. Im weit geöffneten Maul trägt er ein Zepter aus feurig roter Koralle. »Dies ist deine Hälfte des Amuletts deiner Mutter. Sie gab es mir, damit ich es für dich bewahre. Möge es dich auf deinem Weg begleiten, dich mit seiner Macht schützen und dich in finsteren Zeiten lehren, das Richtige zu tun.«
Zittrig greift Mirianda nach dem Drachenamulett. Das Erbe Soranas. Zum ersten Mal berührt ihre Haut etwas, was der Mutter gehörte. Ein wildes Feuer durchströmt ihren Körper. Sie hält den Atem an. Folgt dem Impuls, die Kette von sich zu werfen, doch Saragunde umschließt Miriandas Hand mit ihren Fingern. »Nicht!«, sagt sie. »Das Amulett will dich kennenlernen. Du spürst die Energie deiner Ahnen, sie erkunden dich, Pore für Pore. Sie sind dir wohlgesonnen.«
Mirianda sitzt wie erstarrt auf der Kante ihres Stuhls. Die Heilerin nimmt ihr das Amulett aus der Hand, beugt sich vor und legt es ihr um den Hals. »Du musst es gut hüten! Gib es niemandem, außer deiner Erstgeborenen. Ihre Aufgabe wird es sein, das fehlende Teil mit deinem Teil zu vereinen. In höchster Not wird die Kraft des Drachen deine Familie und dein Volk retten.«
Miriandas Haut kribbelt. An der Stelle über ihrem Herz, an der das Amulett sie berührt, breitet sich ein Leuchten aus. Durchströmt ihrem gesamten Körper, bis sie von innen herausleuchtet. »Es ist magisch!«, sagt sie ihre strahlenden Hände betrachtend. »Vater duldet keine Magie im Schloss.« Mirianda schüttelt den Kopf, als wäre dieser Gedanke ein lästiges Insekt.
»Es ist magisch!«, bestätigt Saragunde. »Dem Amulett haftet die Lebenskraft deiner Mutter an, verbindet sich mit der deinen. Deine innere Sonne erwacht. Eines Tages wird deine Tochter seine wahre Magie freisetzen. Aber bis dahin fällt noch viel Wasser vom Himmel herunter und du wirst uns alle von Halamors Knechtschaft erlösen!«
Mirianda öffnet den Mund. Fragen brennen in ihr. Doch bevor ein Wort den Weg auf ihre Lippen findet, spricht die Heilerin weiter. »Ein Geschenk habe ich noch für dich, nur fürchte ich, dieses wird dir nicht gefallen.« Saragundes klauenartige Hände greifen nach ihr. Das sich ausbreitende Strahlen der Heilerin, verbindet sich mit dem Leuchten von Miriandas Haut. Die Heilerin Saragunde löst sich vor Mirianda in Luft auf.
»Bis zum heutigen Tag habe ich all meine Kräfte aufgespart, um dir meine Erinnerungen zu schenken. Was du jetzt siehst, wirst du nur einmal sehen.« Mirianda hört das Lächeln in Saragundes Stimme. Einem Windhauch ähnlich streift die sanfte Berührung der Heilerin ihre Haut, auch wenn sie die Hände der anderen nicht länger erkennt. Tränen fließen.
»So viel hängt von dir ab, Kind. Die Hoffnungen Wardistans liegen auf dir. Enttäusche sie nicht! Enttäusche deine Mutter nicht!«
Noch einmal umschmeichelt ein Windhauch Miriandas Gesicht, sanft wie ein Kuss fährt er über ihre Stirn. Mit ihrem letzten Atemzug setzt Saragunde ihre Erinnerungen frei.