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Saragundes Offenbarung

Wie in einem Traum zieht das Leben der Heilerin an Mirianda vorüber. Sie sieht blühende Rapsfelder, Sonnenlicht. Riecht das Holz brennender Häuser. Der Himmel verdunkelt sich. Auf einem Hügel steht Halamor und zeichnet rätselhafte Kreise. Männer mit wilden Bärten, bewaffnet mit Schwertern und Äxten, erschlagen Kinder, Frauen, Alte. Die Beschwörungen der Dorfbewohner prallen an Halamors Magie ab, verpuffen. Sein Lachen dröhnt in Miriandas Ohren. Staunend beobachtet sie, wie die Getöteten sich in Krähen verwandeln, einige Kreise über dem Ort ziehen, bevor sie laut kreischend in der Dämmerung entschwinden.

Die Bilder vor Miriandas Augen werden schneller. Überlappen sich. Sie zeigen Saragunde in gleißendes Licht gehüllt im Thronsaal vor König Halamor stehend. Sonnenhelle Felder in Frühlingsblüte wechseln zu blutiger Erde. Stumm schreiende Frauen und Kinder. Tote, überall Tote. Männer in der Uniform Wardistans morden, brandschatzen und rauben, dazwischen Halamor und Haradan in glänzender Rüstung, stets mit gezückten Schwertern oder einen Morgenstern schwingend. Die Erinnerungen fließen immer weiter, immer schneller. Bis sie sich inmitten eines wüsten Festes verlangsamen.

Mirianda hört die Stimmen der Feiernden, die Musik. Sie findet sich mitten im Geschehen wieder. Eine der Frauen tanzt mit geschlossenen Augen auf sie zu. Sie versucht auszuweichen, aber zu spät. Der Arm der Tänzerin ragt durch sie hindurch. Mirianda greift haltsuchend hinter sich, nach einer reich gedeckten Tafel mit kross gebratenen Fleischstücken, dampfendem Fladenbrot und riesigen Obstschalen, doch sie stolpert, fällt hin. Steht verwirrt wieder auf. Traut ihren Sinnen nicht mehr. Um sich zu vergewissern, greift sie nach einem Stück Brot, bekommt es nicht zu fassen. Die beringte Hand eines Mannes packt durch sie hindurch eine Karaffe Wein vom Tisch.

Ich bin für sie unsichtbar und doch mitten unter ihnen. Ich bin in Saragundes Erinnerung!

Mirianda schiebt den Gedanken zur Seite. Dreht sich langsam einmal um sich selbst. Sie ist den Kriegern Wardistans so nah. Sie ist die stumme Zeugin aus einer anderen Zeit. Oberflächlich betrachtet sieht alles nach einem Fest aus, doch ist die Atmosphäre eher rau und bedrohlich.

Die Gesichter der Männer, gierig und trunken. Die der sich anmutig bewegenden Tänzerinnen wirken maskenhaft, wie erstarrt.

Halamor erhebt sich von einem bunt bestickten Kissen. Er winkt den Musikern, seinen johlenden Mannen und den Frauen, niemand missachtet sein Kommando. Mirianda schließt sich dem Zug an. Lärmend ziehen die Menschen durch die Flure des Schlosses, bis der König erneut die Hand hebt. Alle halten in ihren Bewegungen inne, die Musik verstummt. »Königin Sorana«, flüstern die Tänzerinnen.

Mirianda drängt sich weiter nach vorn.

Mutter! Ich werde gleich Mutter sehen! Abrupt bleibt sie mit vor Schreck geweiteten Augen stehen.

Die Königin empfängt Halamor im Ornat einer Kämpferin vor der Tür zu ihren Kammern. Bewaffnet mit Schwert und Axt. Ihre Haut strahlt und erfüllt alles und jeden mit einem gleißenden Licht.

Nur ihn nicht! Heiß und kalt durchläuft die Angst Miriandas Körper. Sie will sich schützend vor ihre Mutter Sorana stellen, sie vor dem Vater beschützen.

Der König lacht höhnisch. »Du wagst es, dich mir zu widersetzen?«

»Du wagst es, in mein Land und mein Schloss einzudringen?«, faucht Sorana, hebt das Schwert zum Angriff. Mit all ihrer Wut schlägt sie auf ihn ein.

Viele schmerzhafte Wunden erträgt er, bevor es ihm gelingt, sie zu schänden. Obwohl alle zusehen, lässt er nicht von ihr. Halamor wird von seiner Gier überwältigt. Im Blut des Kampfes macht er sich Sorana untertan. Das von der Königin ausgehende Strahlen erlischt und weicht einem graublauen Dämmerschein.

Mirianda hält den Atem an. Schließt ihre Augen. Vergessen. Das ist nicht wahr! Alles in ihr schmerzt. Sie drückt die Handflächen gegen den Schädel. Schreit, laut. Niemand hört ihren Schrei. Was sie gesehen hat, ist die Wahrheit. Sie weigert sich, wehrt sich, doch es ist so ihrer Mutter widerfahren. Die Bilder sind eingebrannt in sie. Sind jetzt auch ihre Erinnerungen. Sie weint. Setzt sich inmitten des Getümmels. Hebt den Kopf erst wieder, als es um sie herum leiser wird. Das Geschehen gleicht nun einem lebendig gewordenen Gemälde.

Hinsehen! Sieh hin!

Mirianda erhebt sich schwerfällig, beobachtet aus sicherer Entfernung.

Vor Soranas Augen lässt der König drei der ihr treu ergebenen Untertanen von seinen Kriegern vierteilen. Bevor sich die Schlächter dem vierten Mann nähern, hebt Sorana die Hand und stimmt der Hochzeit mit Halamor zu. Sie überreicht ihm Krone und Zepter. In einer schnellen Zeremonie ernennt der König seinen Gefährten, den Inquisitor Haradan zum Lohn für seine treuen Dienste, zu seinem Lehnsmann über das Mittelreich.

Miriandas Tränen der Trauer und der Wut versiegen, weichen der eisigen Hand des Zorns. Ein schützender Nebel hüllt das Geschehen ein. Distanziert, wie aus weiter Ferne beobachtet sie Soranas Weigerung, mit Halamor im Schloss zu leben. Sie sieht den sich stetig wölbenden Bauch ihrer Mutter, die Wachen vor dem Gewölbe. Saragunde umsorgt die Entkräftete mit Licht und Wärme, aus der Quelle der ihr eigenen Magie. Sie reicht Heilkräuter und Speisen.

Ein lauter Schrei Soranas rüttelt Mirianda aus der Erstarrung. Saragunde eilt an das Bett der Königin. Streicht mit der Hand über den gewölbten Bauch. »Es ist bald so weit«, bestätigt sie deren fragenden Blick. Die Heilerin dreht sich um, doch Sorana packt sie fest am Handgelenk. »Du bist mir in den letzten Monden zu einer engen Freundin geworden. Außer dir habe ich keine Vertrauten. Meine Kraft schwindet, ich werde den morgigen Tag nicht erleben. Ich lege das Schicksal des Mittelreiches und das Schicksal meiner ungeborenen Tochter in deine Hände.«

Sorana nimmt ein Amulett von ihrem Hals und überreicht es Saragunde. »Dies ist das einzig Wertvolle, das Halamor mir ließ. Ich schloss all meine Sonnenkraft darin ein und verbarg so seine wahre Macht vor ihm. Es ist die Quelle der heiligen Kraft meines Volkes. Auf keinen Fall darf es in seine dunklen Hände geraten, sonst ist unsere Welt dem Licht für immer verloren.« Sorana trinkt einen Schluck aus dem Kelch, den Saragunde ihr reicht. »Du bist eine Magierin aus dem Volk der Merowinger. Deiner Lichtmagie wird es sich anvertrauen. Teile es und seine Macht wird bewahrt sein, bis zu dem Tag an dem sich alles entscheidet. Überbringe eine Hälfte an meine Tochter, am Tag ihrer Volljährigkeit. Sobald sie es trägt, wird mein Licht auf sie übergehen. Verkünde ihr die Prophezeiung, die du in meinen letzten Minuten hören wirst. Den anderen Teil bringe in die Anderwelt.«

Saragunde holt tief Atem, doch Sorana schüttelt kaum merklich den Kopf. »Ihr Merowinger besitzt wie kein anderes Volk die Gabe, in die Anderwelt zu reisen. Finde dort ein Kind, dessen Seele rein ist und dessen Herz, überwuchert von der Blume des Schmerzes, sich nach dem Licht der Liebe verzehrt. Hinterlasse diesem Kind ein Tor, auf dass es den Weg in unsere Welt findet, wenn es an der Zeit ist. Mit der Sehnsucht dieses Kindes aus der Anderwelt und mithilfe des Amuletts meiner Ahnen, wird am Tag der Entscheidung das Licht in unsere Welt zurückkehren.« Sorana sucht Saragundes Blick. »Schwörst du es?«, fragt sie flehend.

»Ich schwöre bei allem, was meinen Ahnen heilig ist«, antwortet die Heilerin und greift ehrfürchtig nach dem Amulett.

In dieser Nacht gebiert die Königin. Saragunde legt der Geschwächten den Säugling auf den nackten Bauch. Im Augenblick, in dem sich die Wärme von Mutter und Kind verbindet, löst sich Soranas Aura. Hüllt sich, einem Schutzmantel gleich, um den knittrigen Körper des Mädchens und um die Heilerin, bis sie im Inneren des Neugeborenen eingeschlossen ist. Mit einer Stimme, fern, wie aus einer anderen Sphäre, verkündet die Königin: »Du bist Mirianda, Tochter Halamors des Dunklen und Tochter Soranas, der im Licht Geborenen. Möge die Kraft meiner Liebe dich und die deinen nie verlassen. Aus Gegensätzen schaffe ein Ganzes. Ist wieder vereint, was Halamor trennte, wird seine Macht gebrochen sein!«

Mit diesen Worten verlöscht das Licht. Soranas von der Dunkelheit geschwächtes Herz hört auf zu schlagen. Behutsam nimmt Saragunde Mirianda auf, hebt sie hoch über ihren Kopf, zeigt sie den Dienerinnen. »Ihr hörtet, was die Königin sprach. Dieses Kind wird uns von Halamors Dunkelheit befreien. Schützen wir es mit unseren Körpern und mit unserem Schweigen!«, fordert sie die sie umringenden Frauen auf. »Ein Wort von dem, was ihr hier erlebt und gehört, und eure Kinder mögen zu Staub zerfallen!«, zischt Saragunde.

Die Heilerin badet und wickelt den Säugling und bringt ihn zum König. Sie überreicht ihm das lebendige Bündel. »Sorana ist verstorben, aber vorher gab sie deinem Kind den Namen Mirianda.«

Halamor sieht sie mit finsterem Blick an. »Verschwinde aus meinem Schloss!«, befiehlt er.

Saragunde lacht hart. »Ich werde gehen. Doch einmal noch werden wir uns wiedersehen.«

Seine Adern an den Schläfen färben sich dunkel und pulsieren.

»An Miriandas siebzehnten Geburtstag werde ich zurückkehren, um ihr die Wünsche ihrer Mutter zu überbringen.«

Halamor springt auf, den Zeigefinger der Schwerthand drohend auf die Heilerin gerichtet. »Nie wieder wirst du dieses Schloss betreten, oder du bist des Todes«, brüllt er sie an.

Ein wissendes Lächeln huscht über Saragundes Gesicht. »Indem ich deiner Tochter mit meiner Magie ins Leben verhalf, hast du dich an mich gebunden. Soranas letzte Atemzüge galten einem Schutzzauber für deine Tochter, in den sie mich einschloss. Brichst du ihn, wird dein Geschlecht mit dir untergehen.« Mit diesen Worten wendet sie ihm den Rücken zu und verlässt das Schloss.

Fantastische Fragmente

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