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1.1 Mehrsprachigkeit als der Normalfall
ОглавлениеEs mag für mitteleuropäische Verhältnisse befremdlich klingen, aber in vielen Regionen der Welt ist Mehrsprachigkeit der Normalfall und Einsprachigkeit die Ausnahme. Man denke nur an den afrikanischen Kontinent: Hier spricht jeder Mensch außer seiner Muttersprache noch mindestens eine weitere, meist benachbarte, afrikanische Sprache und die Landessprache, die in der Regel eine europäische Sprache ist. Ganz ähnlich ist es auf dem indischen Subkontinent: Auch hier beherrschen die Sprecher eine der vielen indoeuropäischen oder dravidischen Sprachen und daneben noch eine der offiziellen Amtsprachen wie Hindi und Englisch oder eine regionale Amtssprache (bspw. Urdu oder Bengali). Viele weitere Beispiele ließen sich aufzählen.
Verbreitung von Sprachen
Wie verbreitet Mehrsprachigkeit ist, ergibt sich auch aus der folgenden Tabelle, in der die Verteilung von Sprachen auf die verschiedenen Kontinente aufgeführt wird:
Tab. 1: Verteilung der Sprachen der Welt nach Angaben der Unesco 2014, gerundet (http://www.ethnologue.com/world)
Wie man aus der Tabelle ersehen kann, werden in Europa nur etwa 4 % der Sprachen der Welt gesprochen, dafür 30 % in Afrika: Während man in Europa einen Durchschnittswert von 2,6 Mio. Sprechern pro Sprache anführen kann (und wie wir wissen, haben die meisten europäischen Sprachen viel mehr Sprecher), kommen afrikanische Sprachen im Durchschnitt nur auf 437.000 Sprecher. Die geringsten durchschnittlichen Sprecherzahlen weisen Sprachen auf, die in der Südsee gesprochen werden. Da ja in den jeweiligen Staaten sehr viel mehr Menschen leben als diese Durchschnittswerte ergeben, kann man daraus ersehen, dass die meisten Menschen mehrere Sprachen beherrschen müssen (dazu auch Haarmann 2001:36ff.).
Selbst in Europa, wo in den meisten Staaten nur eine Sprache als Staatssprache gilt, gibt es zahlreiche Minderheitenregionen, in denen die Bevölkerung mehrsprachig ist: Prominente Beispiele sind etwa Südtirol mit Deutsch, Italienisch und Ladinisch oder Katalonien mit Katalanisch und Spanisch, aber es gibt noch viel mehr, nämlich über 300 Sprachminderheiten (vgl. http://www.fuen.org/de/europaeische-minderheiten). Man kann sogar davon ausgehen, dass es in Europa kaum ein Land gibt, in dem keine autochthonen Sprachminderheiten leben. Darunter versteht man Minderheiten, die entweder durch Grenzziehungen zu dem jeweiligen Land gekommen sind, oder solche, die bei der Staatenbildung in Europa keinen eigenen Staat bilden konnten, wie etwa die Ladiner in Norditalien oder die Sorben in Deutschland. Zu diesen Minderheiten kommen noch die sog. ‚allochthonen‘ Minderheiten, das sind Menschen, die in ein bestimmtes Land eingewandert sind und dort geblieben sind. Die erste Generation der Einwanderer ist dabei in der Regel immer mehrsprachig, aber häufig trifft das auch noch auf die zweite und manchmal auch auf die dritte Generation zu. Sind die Gruppen groß genug und haben sie kompakte Siedlungsgebiete – wie etwa die türkischstämmige Bevölkerung in Deutschland –, dann können auch weitere Generationen bilingual aufwachsen (vgl. 4.1).
Neben diesen mehrsprachigen Gemeinschaften gibt es weltweit immer mehr Menschen, die Fremdsprachenkenntnisse auf sehr hohem Niveau besitzen und die auch mehrere Jahre im Ausland verbracht haben. Alle diese Menschen, die im Laufe ihres Lebens mehrere Sprachen aktiv in ihrem Alltag gebrauchen, sind als mehrsprachig anzusehen. Sie scheuen sich nur manchmal aufgrund eines falsch verstandenen Begriffs von Mehrsprachigkeit, der immer noch von der Idee eines doppelten Muttersprachlers ausgeht, sich selbst als zwei- oder mehrsprachig zu bezeichnen (vgl. Sarter 2013:13).
Neurologische Perspektive
Neben den statistischen Daten kann man Mehrsprachigkeit auch aus einer neurologischen Perspektive als Normalfall betrachten: Denn tatsächlich zeigen Beispiele aus der Gehirnforschung, dass alle Sprachen, die ein Individuum beherrscht, in derselben Region im Gehirn gespeichert sind, und zwar im sog. ‚Broca-Areal‘ (dazu genauer 3.1). Das, was den Menschen angeboren ist, ist die Fähigkeit sprachliche Äußerungen zu produzieren, etwa indem man bestimmte Zeichen als Symbole verwendet und indem man aus einem endlichen Inventar von Zeichen, etwa Lauten oder Silben, eine unendliche Zahl von Äußerungen schaffen kann. Aber es ist dem Menschen nicht angeboren, dass er nur eine bestimmte Sprache spricht. Daher postuliert Meisel (2004:92): „Monolingualism can be regarded as resulting from an impoverished environment where an opportunity to exhaust the potential of the language faculty is not fully developed.“