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7. Kapitel

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Mitte Dezember lernte ich ein Mädchen kennen. Eigentlich kannte ich sie schon länger, sie war mir bereits vor mehr als einem Jahr aufgefallen. Sie saß in den Vorlesungen meistens am selben Platz in der dritten Sitzreihe am Fenster. Ihr halblanges, blondes Haar strich sie mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks mit dem Daumen aus der Stirn.

Ich hatte mich nur ein einziges Mal mit ihr unterhalten, vor einigen Monaten. Es ging um ein Skript, das ich für sie kopieren sollte. Meine Notizen waren begehrt bei meinen Kommilitonen, denn ich schrieb nicht nur mit, sondern tippte meine Aufzeichnungen zu Hause ins Reine und versah sie mit Anmerkungen.

Sie hatte die gehefteten Blätter genommen, mir höflich gedankt, blendend weiße Zähne und ein Blitzen ihrer hellblauen Augen präsentiert. Dann war sie mit ihren Freundinnen in der Mensa untergetaucht.

Ich hatte ihr nachgeschaut.

Wie es sich ergab, dass ich beim Mittagessen neben ihr saß, weiß ich nicht mehr. Ich schaufelte Schnitzel mit Pommes in mich hinein, sie stocherte gedankenversunken in welkem Salat. Um uns herum Stimmengewirr.

Plötzlich sah sie mich an. »Was ist Dein Thema?«

Meine Gabel stoppte auf halber Höhe zum Mund. »Wie bitte?«

»Dein Thema. Für die Seminararbeit.«

»Ach so. Ich werde Stolzenberg analysieren.«

»Diesen Labersack. Blabla, mehr kann er nicht.«

»Wenn man ihn seine Texte vorlesen hört, beginnen sie zu leben«, verteidigte ich den Newcomer unter den Münchner Schriftstellern. Der Mittdreißiger hatte kurz hintereinander drei Bücher veröffentlicht, die polarisierten und in den Feuilletons ausführlich besprochen wurden. »Aber er hat einen sehr eigenen Stil, das gebe ich zu.«

»Laaangatmig. Schlimmer als Proust«, maulte sie.

Ich lachte. »Schlimmer als Proust geht nicht.«

Statt in die nächste Vorlesung gingen wir an diesem Tag in den Englischen Garten, spazierten am Eisbach entlang, tranken Kaffee. Wir redeten über Dichter und deren Werke, analysierten, interpretierten und stellten wilde Thesen zu Schriftstellern und deren Protagonisten auf.

»Schreibst du?«, fragte sie plötzlich.

»Hm. Nein. Ich verstehe was von Literatur, aber ich kann nicht schreiben. Ist das schlimm?«

»Nein, natürlich nicht. Aber das Handwerk des Schreibens, das solltest du lernen. Es hilft dir, wenn du nachvollziehen können willst, wie Texte entstehen, oder zu beurteilen hast, ob und wie sie zu verbessern sein könnten. Schreibst du nicht hin und wieder selbst, kennst du das Gefühl nicht, wenn die Story zu leben beginnt. Und den Frust, dass sie es nicht tut, obwohl du engagiert daran feilst. Auch das Verwerfen und Neuanfangen gehört zum Schreiben, verstehst du?«

Ich nickte nachdenklich.

»Am Wochenende findet ein Schreibworkshop statt«, insistierte sie. »Ich werde hingehen. Was ist mir dir? Es sind recht gute Autoren eingeladen, dazu ein paar Verlagsmenschen. Könnte interessant werden.«

»Wäre eine Überlegung wert. Weißt du Näheres? Wo es ist, was es kostet?«

»Irgendwo am Starnberger See, in einem Seminarzentrum. Man kann dort auch übernachten. Organisiert wird das Ganze von einer kirchlichen Organisation. Frag mich bitte nicht, welcher. Katholisch, denke ich. Es ist kostenlos für Studenten, man muss nur das Essen bezahlen. Hey, da juckt doch nicht, wer es veranstaltet, oder? Ich meine, solange ich nicht bekehrt werden soll?«

Sie warf den Kopf zurück, schloss die Augen, lachte. Ihre Haare leuchteten golden in der Sonne. Sie war wunderschön.

Wir brachen auf, als die Glocken der nahegelegenen Kirche viermal schlugen. Vorlesungsende. Gemeinsam schlenderten wir zur U-Bahn, wo wir uns verabschiedeten.

»Äh ... Wie heißt du eigentlich?«

»Jessica.«

»Christian.«

»Ich weiß.«

»Äh, na dann ... Man sieht sich.«

»Ja. Morgen.«

Wir fuhren zusammen nach Tutzing. Ich holte sie am Freitagnachmittag mit dem Wagen bei ihr zu Hause ab.

Sie lebte mit einer Freundin in einer Altbauwohnung im Westen Münchens. Die knarrenden Holzböden und hohen Stuckdecken strahlten Gemütlichkeit aus, ebenso wie die bunten Sitzkissen, die im Wohnzimmer verteilt waren. An den Wänden hingen Aquarelle und ein riesiger Flachbildschirm, von irgendwoher klang Musik. Didgeridoo. Im Treppenhaus ächzten ausgetretene Stufen und ein geschnitztes Geländer, Buntglasfenster machten ein surreales Licht.

Alles fühlte sich warm an, stimmte, harmonierte.

Thea freute sich darüber, dass ich Anschluss gefunden hatte, und erklärte, dass es ihr recht sei, einige Tage nicht kochen zu müssen und die Füße hochlegen zu können.

Dass es sich bei meiner Bekanntschaft um eine Frau handelte, erzählte ich nicht.

In Starnberg hielten wir an, parkten am Bahnhof und schlenderten die Seepromenade entlang, die unmittelbar hinter den Gleisen begann. Wir aßen trotz der Kälte Schokoladeneis und machten uns über Pelz tragende Flaneure und streitende Paare lustig. Wir lachten viel, waren ausgelassen, genossen die winterliche Stimmung.

Pünktlich zum Abendessen kamen wir im Seminarzentrum an, wo sich die anderen Teilnehmer bereits eingefunden hatten. Ich bezog ein Zimmer mit einem schweigsamen Lehramtsstudenten aus Köln, Jessica teilte ihres mit einer älteren, sich sehr ernsthaft gebenden Hobbyautorin aus dem Saarland.

An diesem Wochenende verliebte ich mich.

Jessica und ich schlichen bis zu den Weihnachtsferien umeinander wie zwei Katzen. Ich, der Unerfahrene, Schüchterne hatte keine Idee, wie ich an sie herankommen könnte. Sie sendete zwar Signale aus, blieb aber auf Abstand. Ich glaubte, sie zu verstehen. Welche Frau lässt sich schon gern mit einem Anfänger ein? Ich hatte ihr erzählt, dass ich noch niemals eine Freundin gehabt hatte. Jessica hatte genickt und gemeint, dass sie sich das gedacht habe. Meine Unsicherheit blieb, dieses Kribbeln in meinem Nacken ebenfalls.

Wir telefonierten, schrieben uns Mails, verabredeten uns in der Mensa, warfen uns vertrauliche Blicke zu. Doch nichts weiter passierte.

Es war die glücklichste Zeit in meinem Leben.

Weihnachten.

Thea und ich schmückten einen selbst geschlagenen Baum, eine krumme Fichte, die wir an die Wand stellten, damit die fehlenden Äste nicht sichtbar waren. Wir kochten gemeinsam, schenkten uns Kleinigkeiten und sahen fern.

Die Feiertage vergingen ebenso unauffällig, wie sie gekommen waren.

Einen Tag vor Silvester rief Jessica an. Sie hatte eine Einladung zu einer Party und fragte, ob ich mitkommen wolle. Ich zögerte, bat um Bedenkzeit. Ich wollte zwar mit ihr zusammen sein, Trubel und Alkohol aber reizten mich nicht.

Auf Festen fühlte ich mich fehl am Platz und war es wohl auch. Ich stand eine halbe Stunde einsam herum, klammerte mich an ein Bierglas und nutzte die erste Gelegenheit, in der Küche unterzutauchen und von dort aus die Haustür anzusteuern. Vermisst wurde ich nie.

Thea nahm mir die Entscheidung ab. »Ich würde gern um Mitternacht mit dir im Wald spazieren gehen. Das wäre der perfekte Jahreswechsel, findest du nicht?«

Ich wog den Kopf. »Bei dieser Kälte? Im Dunklen? Ich weiß nicht ...«

»Sei kein Weichei! Wir nehmen Taschenlampen mit und Glühwein. Das ist doch romantisch!«

Unter Romantik stellte ich mir derzeit anderes vor, als mit Thea durch den nächtlichen Wald zu stapfen. Ich schwieg.

Damit war die Sache geklärt. Wir zogen warme Stiefel, wattierte Anoraks und Handschuhe an, packten einen Rucksack mit Christstollen und einer Thermoskanne, setzten Mützen auf und marschierten los.

Es war neblig, feuchtkalt und sehr still. Ich fröstelte, fühlte mich unwohl.

»Schön, nicht wahr?«, flüsterte Thea. »So geheimnisvoll. Gespenstisch.«

Ich klapperte mit den Zähnen.

»Warst du eigentlich mal im Moor?«

Mich durchfuhr es erst kalt, dann heiß. »Äh ... Moor?«, stammelte ich.

Thea blieb stehen, drehte sich um. »Ja, das Moor. Nicht weit von hier. Das kennst du doch!«

»Ich ... Äh ... Ja.«

»Siehst du.« Sie ging weiter. »Ich frage mich, wie viele Leichen dort liegen. Ein passender Ort, um jemanden loszuwerden, findest du nicht?«

Mir wurde schwarz vor Augen, fast wäre ich umgefallen. Ich lehnte mich an einen Baum.

»Was ist denn?«, fragte sie mit besorgt klingender Stimme. Sie trat zu mir, griff mir an die Schulter, leuchtete mit der Lampe in mein Gesicht. Ich blinzelte.

»Du bist ja kreidebleich. Ist dir schlecht? Hast du das Essen nicht vertragen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Geht schon.«

Wir setzten unseren Weg fort. Über uns zerplatzten kreischende Raketen zu bunten Sternen, Böller warfen Echos durch den Wald.

Ich hatte Bauchschmerzen.

Neujahr lag ich mit Fieber, Durchfall und Übelkeit im Bett. Ich zitterte, schwitzte, fror.

»Das muss der Magen-Darm-Virus sein, der umgeht«, erklärte Thea, als sie das Thermometer schüttelte. »Ich mach dir kalte Wadenwickel und eine Wärmflasche für den Bauch. Du musst viel trinken, am besten Tee. Zwieback haben wir leider keinen im Haus, aber Salzstangen stelle ich dir griffbereit. Später gibt´s Suppe, das bringt dich wieder auf die Beine. Und jetzt schlaf!«

Sie verließ mein Zimmer, schloss behutsam die Tür.

Ich drehte mich zur Wand. Tränen der Angst und Verzweiflung brannten in meinen Augen.

Morgen wirst Du frei sein

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