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5. Kapitel

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Ende September ging ich wieder zur Arbeit. Kurz vor Semesterbeginn nahm der Andrang in der Buchhandlung für gewöhnlich zu. Man benötige meine Hilfe, hatte man mir mitgeteilt, und ich brauchte das Geld.

Ich parkte das Auto am Bahnhof und stieg in den Zug nach München. Thea hatte keinen Zweifel daran gelassen, dass es für sie indiskutabel war, dass ich Zeit im Bus verschwendete.

»Auf dem Rückweg kannst du beim Supermarkt anhalten. Ich hab dir eine Liste geschrieben. Es wäre doch ungeschickt, zwei Wege nicht zu einem zu verbinden, oder?« Sie zwinkerte mir zu. »Ich kümmere mich heute mal um den Garten. Die Beete sehen verheerend aus!«

Im Laden in der Schellingstraße herrschte Hochbetrieb. Während meine Kollegen Kunden berieten, saß ich am Computer, arbeitete mich durch Verlagsverzeichnisse und tippte Bestellungen. Mittags biss ich in das Wurstbrot, das Thea mir mitgegeben hatte, und aß einen Apfel.

Es dämmerte bereits, als ich wieder im Zug saß. Ich schaute auf die Uhr und berechnete, ob ich es noch vor Geschäftsschluss in den Supermarkt schaffen würde.

Als ich auf den Parkplatz einbog, sperrte der Marktleiter soeben die Türe ab. Verdammt.

Mit mulmigem Gefühl steuerte ich nach Hause.

Thea hatte mich kommen hören, trat aus der Tür, kam auf den Wagen zu, spähte durch die Heckscheibe ins Innere. »Wo hast du denn die Lebensmittel?«

Ich stieg aus, breitete hilflos die Arme aus, suchte nach einer Entschuldigung. »Ich ... Ich war spät dran. Es ...« Ich räusperte mich. »Sie hatten gerade geschlossen. Also, den Laden. Es war ... So viel los heute. Ich ...« Verzweifelt verstummte ich.

Sie stand vor mir, schaute mich mit diesem bohrenden Blick an, der mich total verunsicherte. Ich betrachtete meine Füße.

»Was hast du denn? Ist doch kein Problem! Dann kaufen wir eben morgen ein.«

Sie boxte mich leicht an den Oberarm, wandte sich ab, ging ins Haus.

Ich trottete hinter ihr her.

Die Vorwürfe, die Szenen, die ich so gut kannte, die ich erwartet hatte, blieben aus. Dankbarkeit und Erleichterung durchströmten mich.

Am nächsten Morgen, wir hatten gerade das Frühstück beendet, legte Thea die abgegriffene Geldbörse meiner Mutter auf den Tisch und öffnete sie. Sie schob das Geschirr zur Seite, schüttete einige Münzen auf den Tisch, zog die EC-Karte aus einem Fach. Quittungen und Belege ließ sie stecken, ebenso die zahlreichen Kundenkarten, die meine Mutter gesammelt hatte.

Sie legte die EC-Karte vor sich hin und betrachtete sie. »Kennst du die Nummer?«, fragte sie fast beiläufig.

Ich schaute erstaunt auf. »Nein.«

»Wo kann sie sie notiert haben?«

»Keine Ahnung.«

»Denk nach!«, bellte sie.

Ich erschrak. »Ich ... Ich weiß nicht. Vielleicht in der Dose?«

»Welche Dose?«

»Die auf dem Schrank. In dem sie das Haushaltsgeld ...«

»Hol sie!«

Ich gehorchte.

Thea griff nach der Kaffeedose, die schon meiner Großmutter gehört hatte und aus der ich als Kind Kleingeld für Kaugummi und Schokolade nehmen durfte, bevor sie wieder für mich unerreichbar im obersten Regal in Sicherheit gebracht wurde.

Sie schraubte sie auf und kippte sie, schüttelte einige Banknoten und Papiere heraus. Das Geld legte sie beiseite, sortierte die Notizzettel.

»Da ist sie ja.«

Sie stand auf. »Wir fahren in die Stadt.«

Wir schwiegen, bis Thea an der Hauptstraße auf eine Parklücke deutete. »Halt hier an!«

Sie stieg aus, lief zwischen zwei Autos über die Straße zur Sparkasse, verschwand hinter den Glastüren. Schemenhaft sah ich sie zum Geldautomaten gehen. Als die Türen sich wieder öffneten, stopfte sie achtlos ein Bündel Geldscheine in eine Geldbörse. Es war nicht die meiner Mutter, die lag noch auf dem Esstisch.

Sie warf einen Blick nach links, winkte mir zu und formte mit den Lippen ein Wort. Dann eilte sie die Straße entlang und betrat eine Bäckerei.

»Schau mal, ich hab dir Nusshörnchen geholt. Die magst du doch so gern«, strahlte sie mich an, als sie sich außer Atem auf den Beifahrersitz fallen ließ.

»So, was haben wir jetzt vor? Wir müssen zum Supermarkt, danach Getränke holen. Und ich möchte im Gartencenter ein paar Herbstpflanzen besorgen. Ist ja ziemlich trist, so ohne Farbe im Garten. Alles braun und grau. Was meinst du?«

Ich nickte ergeben, trat auf die Kupplung, startete den Motor. »In dieser Reihenfolge?«

»Du bist der Kapitän«, lachte sie.

Ich wurde nicht schlau aus dieser Frau. Weder verstand ich, was sie von mir wollte, noch konnte ich ihre extremen Stimmungsschwankungen nachvollziehen. Die waren selten, aber sie ängstigten mich.

Dennoch war Thea, deren Namen und Herkunft ich noch immer nicht kannte, ein netter Mensch; sie sorgte sich um mich, um den Haushalt, um den Garten. Sie kochte, backte, putzte, kümmerte sich um die Wäsche. Sie war wie ... Ja, wie eine Mutter. Eine Mutter, wie ich sie nie hatte, mir immer gewünscht hatte. Eine, die Emotionen und Empathie zeigte, Zuneigung vermittelte. Ich mochte diese Fremde, hatte mich an sie gewöhnt, fühlte mich wohl bei dem Gedanken, dass sie da war, wenn ich nach Hause kam.

Sie schien alles über mich, meine Eltern, über unser Leben zu wissen. Woher? Ich wollte mit ihr darüber reden, doch ich fand nie den Mut. Was mich abhielt, die naheliegenden Fragen zu stellen, war mir nicht klar. Sie hatte etwas an sich, das es mir unmöglich machte. Ich wäre gern der coole Typ gewesen, der sich, lässig an die Wand gelehnt, eine Zigarette zwischen den Zähnen, erkundigen würde, wie lange sie zu bleiben gedachte. Warum sie hier war. Und was sie wusste.

Ich war dieser Typ nicht, und das quälte mich.

Sie spürte, wenn das, was in mir arbeitete, kaum noch zu unterdrücken war, wenn der Druck zu groß wurde, ich mich straffte. Dann sah sie mich nur an. Sagte kein Wort. Wartete.

Der Moment kam, ich holte Luft, schaute auf, blickte in ihre Augen - und senkte die Lider. Atmete aus. Sank in mich zusammen.

Es war kein Spiel. Es war ein Kampf. Und ich hatte ihn von Beginn an verloren.

Morgen wirst Du frei sein

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