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4. Kapitel

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Um mich abzulenken, fuhr ich in die Stadt. Der Kühlschrank war leer, und ich hatte seit Tagen nichts anderes als Brot gegessen. In der Dose auf dem Küchenschrank hatte ich neben Briefmarken und Rabattgutscheinen Geld gefunden, das ich einsteckte.

Eier, Wurst und Käse lagen bereits in meinem Einkaufswagen. Ich schob ihn an der Fleischtheke vorbei zum Kühlregal, wo ich bei verschiedenen Pizzas zugriff. Auch bei den Nudeln und Saucengläsern bediente ich mich.

Kochen hatte ich nie richtig gelernt, obwohl ich als Jugendlicher intensives Interesse an der Zubereitung des von Vater Erlegten gezeigt hatte. Meine Mutter hatte sich jedoch jede Einmischung in ihrer Küche verbeten. Damit blieben mir Hilfstätigkeiten unter Aufsicht vorbehalten: Zwiebeln schneiden, Äpfel für Kuchen oder Kompott schälen, Kartoffeln raspeln, Geschirr spülen.

An der Kasse sprach mich eine Frau an: »Hallo Christian. Wie geht´s denn deiner Mutter?«

Ich zuckte zusammen.

»Ich hab sie ja ewig nicht gesehen«, plauderte sie, ohne auf eine Antwort zu warten. Dabei räumte sie den Inhalt ihres Einkaufswagens auf das Band. »Und du bist ja sicher bald mit dem Studium fertig, oder?«

»Äh ...«, stammelte ich. »Es ist schon noch ein Weilchen hin. Also, ein Jahr oder so.«

Die Frau schaute mir direkt ins Gesicht. Sie hatte hellgrüne Augen mit dunklem Rand. Ihr Blick war offen und intelligent. »Ach was.«

Ich war froh, mit dem Bezahlen an der Reihe zu sein und mich abwenden zu können. Diese Person machte mich nervös. Ich hielt der Kassiererin einen Fünfziger hin. Sie starrte mich fragend, fast wütend an.

»Ob du eine Tüte möchtest«, assistierte die Stimme in meinem Rücken.

»Ach so. Ja. Bitte. Äh ... Danke.«

Kopfschüttelnd warf die Kassiererin einen Plastikbeutel auf meinen Einkauf, riss den Schein aus meiner Faust. Sie hieb auf eine für mich nicht sichtbare Tastatur ein. Die Hand erschien wieder, warf Geld auf das Fließband. »Fuffzehneinundzwanzig zurück. Wiedersehen.«

Ich stopfte die Banknote und die Münzen achtlos in die Hosentasche, räumte Beutel, Packungen, Gläser in die Tüte und ergriff die Flucht.

Als ich im Auto saß, beruhigten sich mein Puls und meine Atmung allmählich.

Zufall. Ein ganz normales Gespräch an einem ganz normalen Tag in einem ganz normalen Laden.

Ich glaubte mir nicht.

Wo ich gewesen war, wusste ich nicht. Ich war gedankenversunken herumgefahren, bis die Tankanzeige zu leuchten begann. Dieses Gelb, das durch die zunehmende Dämmerung stach, schien mich aufzuwecken. Ich orientierte mich, schaltete das Licht an und bog ab, um auf einer schmalen Straße, nicht mehr als ein Feldweg, nach Hause zu fahren.

Jemand saß auf den Stufen vor dem Eingang, neben sich eine Einkaufstasche. An der Wand lehnte ein Damenfahrrad.

Langsam fuhr ich in den Hof, bremste, stellte den Motor ab, starrte durch die Windschutzscheibe.

Die Frau aus dem Supermarkt. Sie lächelte mich an.

Schweißtropfen rannen mir den Rücken hinab, als ich betont lässig ausstieg, meine Tüte von der Rückbank holte, die Wagentüren zuwarf und zum Haus ging.

»Na, wo bist du denn so lang gewesen?«

Ich blieb stehen. Meine Lockerheit fiel von mir ab. »Ei ... Einfach rumgefahren.«

Ich spürte, wie ich rot wurde, wollte die Augen senken, wegschauen, konnte ihrem Blick aber nicht ausweichen. Sie saß noch immer, den Rücken an die Tür gelehnt, hatte den Kopf gehoben, lächelte mich aufmunternd an.

»Na, dann wollen wir doch mal reingehen, oder?«

Sie stand auf, griff nach der Klinke, drückte sie. Öffnete die Tür. Ich hatte erneut vergessen, abzusperren.

Sie ging direkt in die Küche und begann, den Inhalt ihrer Tüte in den Kühlschrank zu räumen. Den Kopf hinter der Kühlschranktür, fuchtelte sie auffordernd in meine Richtung.

»Was ist? Wo sind deine Sachen? Her damit!«

Ich bewegte mich nicht. Sie schaute, seufzte, tat einen schnellen Schritt auf mich zu, packte die Henkel der Tasche in meiner Hand.

Ich zuckte zusammen. Sie lachte.

»Jetzt gib schon her. Und wasch dir die Hände. Ich mach uns was Schnelles zum Essen. du musst ja völlig ausgehungert sein.«

Sie warf einen Blick in meine Tüte. »Meine Güte! Fraß. Alles nur Fraß. Naja, das werden wir ...« Ihr Gemurmel verlor sich im Geräusch des anspringenden Kühlschrankmotors.

Ich sperrte mich im Bad ein, setzte mich auf die Toilettenschüssel und versuchte, meiner Verwirrung, mehr noch, meiner Betäubung Herr zu werden. Nebenan hörte ich die Unbekannte mit Töpfen und Pfannen hantieren, Schranktüren öffnen und wieder schließen.

Wer war sie? Was wollte sie hier?

Als ich das Badezimmer verließ, roch ich Rührei mit Speck. Das Wasser lief mir im Mund zusammen, wie auf Kommando knurrte mein Magen.

Sie trug zwei reichlich gefüllte Teller an mir vorbei, rief mir über die Schulter zu, ich solle Besteck mitnehmen und Gläser. Ich holte das Gewünschte, nahm noch eine Flasche Mineralwasser mit und folgte ihr.

Mein Teller stand an seinem gewohnten Platz, ihrer an dem meiner Mutter. Zögernd setzte ich mich.

Sie nickte mir zu und begann zu essen. Ich tat es ihr nach und sah erst wieder auf, als Eier und Butterbrot in meinem Magen verschwunden waren.

Sie betrachtete mich zufrieden. »Satt?«

»Ja. Danke.« Ich sah verlegen auf die Gabel in meiner Hand. »War sehr gut.«

Sie stapelte Teller, Gläser, Besteck aufeinander und verschwand. »Was kommt im Fernsehen?«, rief sie aus der Küche.

Ich stand auf, um das Programmheft aus dem Fach unter dem Videorekorder zu holen. Dann stutzte ich. Was im Fernsehen kam? Wollte sich diese Frau hier etwa häuslich einrichten? Im Moment wusch sie die Pfanne, räumte die Spülmaschine ein, summte eine Melodie.

Mit der Zeitschrift in der Hand ging ich in die Küche. »Wer sind Sie? Was tun Sie hier?«

Sie schaute mich an, fragend, als würde sie an meinem Verstand zweifeln. »Ich vertrete deine Mutter.«

Ich schluckte. »Ich ... Ich ver ... Ich verstehe nicht«, stotterte ich.

Sie lachte. »Natürlich verstehst du, mein Junge! Wir werden uns gut vertragen, glaub mir. Und jetzt sag mir endlich, was wir uns heute anschauen. Was haben wir eigentlich für einen Tag? Donnerstag?« Sie schüttelte das Geschirrtuch und hängte es über die Stuhllehne.

Ich schlug den 6. September auf. »Was, äh, interessiert Sie denn?«

»Hör mal, du wirst mich doch nicht siezen?!« Sie stemmte die Fäuste in ihre Flanken, schaute mich gespielt böse an. »Wenn du mich nicht Mutter nennen willst, ist das Okay. Dann eben Resi. Oder Thea? Ich meine, deine Mutter hieß doch Theresa, nicht wahr? Such dir aus, was dir gefällt. Dein Vater hat sie meines Wissens Reserl genannt. Aber das ist wohl eher unpassend für einen Sohn, oder?«

In meinem Kopf summte es. Das konnte doch alles nicht wahr sein? Ich schloss die Augen. Als ich sie wieder öffnete, hatte sich an der Szenerie nichts geändert. Die fremde Frau stand genau an der Stelle, an der meine Mutter gelegen hatte.

Getötet mit einem Messer. Einem Fleischmesser. Von mir.

Ich drehte mich um, lief ins Bad, hielt den Kopf unter den Wasserhahn. Die Wunde schmerzte, als eiskaltes Wasser über sie rann. Sie hätte genäht werden müssen. Ich nahm ein Handtuch, trocknete mich ab und schaute in den Spiegel.

»du bist am Arsch«, flüsterte ich dem bleichen Gesicht mit den roten, weit aufgerissenen Augen zu.

Ich hatte beschlossen abzuwarten, was passieren würde. Passiv sein, das konnte ich, das hatte ich gelernt. Also, überlegte ich, wäre es als Stärke zu bezeichnen. Und die sollte ich einsetzen.

Als ich ins Wohnzimmer zurückkehrte, saß die Frau auf dem Sofa, die Fernbedienung in der Hand.

Sie zappte.

Meine Mutter hatte niemals durch die Programme geschaltet. Sie war der Überzeugung gewesen, dass jemand, der nicht wisse, was er sehen wolle, etwas Sinnvolleres mit seiner Zeit anfangen müsse.

Ich setzte mich auf einen Stuhl am Esstisch.

»Und? Weißt du schon, was wir anschauen sollen?« Sie nickte Richtung Bildschirm. »Da kommt was über junge Ärzte, ganz frisch von der Uni. Die ersten Schritte im Krankenhaus, begleitet von einer Kamera. Hört sich interessant an. Lebensnah. Aber stell dir vor, du liegst im Bett mit Schmerzen, und so ein Jüngling kommt und erzählt dir, was dir fehlt. Also, was dir vielleicht fehlt. Immerhin ist er ja nur ein Lehrling. Er kann recht haben oder auch nicht. Wie findest du das? Irgendwie keine so gute Vorstellung, oder?«

Ich schwieg.

»Aha, da ist ja noch der Oberarzt, der kontrolliert das«, kommentierte sie das Geschehen. »Schau mal, die mit den langen Haaren, die hat noch nie ein Ultraschall gemacht.« Sie lachte laut auf. »Der Patient schaut ziemlich kariert aus der Wäsche. Gleich springt er aus dem Fenster.«

Sie griff nach einer Wolldecke und einem Kissen und machte es sich bequem. »Jetzt komm schon! Oder willst du auf dem harten Stuhl sitzen bleiben und dir das Genick verrenken, um was zu sehen?«

Ich ging hinüber, setzte mich in den Lehnstuhl. Mutters Fernsehsessel. Ich hatte noch nie darin gesessen. Er war tief und breit, durchgesessen bis auf die Gurte.

Die Frau auf dem Sofa lächelte mir zu und schaute dann wieder auf den Bildschirm, wo Menschen in weißen Kitteln über lange Gänge hasteten.

Ich betrachtete sie aus den Augenwinkeln. Wie alt mochte sie sein? So alt wie meine Mutter, knapp 60, schätzte ich. Sie reichte mir gerade bis zur Schulter, war vollbusig, mit rundem Hinterteil und kräftigen Beinen. Nicht dick, aber gut genährt, etwas mehr als vollschlank. Sie schien nicht unsportlich, auf alle Fälle aber körperlich aktiv zu sein, immerhin war sie vom Supermarkt bis hierher mit dem Rad gefahren. dunkles, lockiges, kurz geschnittenes Haar mit vereinzelten grauen Strähnen. Sie hatte kaum Falten, nur an den Augen sah man Krähenfüße. Ihr Blick, offen und freundlich, war von einer Intensität, die mich verwirrte. Sie trug Jeans und eine blauweiß gestreifte Bluse, dazu blaue Sneakers.

Ich ertappte mich dabei, gespannt darauf zu sein, wie der Abend weiter verlaufen würde. Handelte es sich um ein Spiel? Welche Regeln galten? Wann endete es? Heute? Morgen? Diese Frau, wer immer sie war und woher sie auch kam, konnte doch nicht einfach bleiben?

Als ich mit steifen Gliedern und kribbelnden Füßen aufwachte, hörte ich sie in der Küche werkeln. Ich war in Mutters Sessel eingeschlafen. Auf mir lag eine Wolldecke. Ich warf sie aufs Sofa und erhob mich ächzend. Es roch nach getoastetem Brot und frisch gebrühtem Kaffee. Aus dem Radio tönten Stimmen.

Die Fremde lugte um die Ecke. »Na? Wieder im Lande? Ich wollte dich nicht wecken, du hast so schön geschlafen. Hast du Hunger? Geh schnell ins Bad, ich bin sicher, du kannst eine Dusche vertragen. Bis du fertig bist, ist das Frühstück auch so weit.«

»Wie spät ist es?« Ich brachte kaum einen Ton heraus, räusperte mich.

»Kurz nach acht Uhr. Ein wunderschöner sonniger Tag. Es soll warm werden, 25 Grad. Wir sollten uns mal den Garten ansehen, was meinst du? Der Herbst kommt, und man sollte sich allmählich überlegen, was alles zu tun ist. Hast du Zeit?«

Ich antwortete nicht. Ich war sprachlos.

Während wir frühstückten, fragte sie mich über mein Studium aus. »Warum studiert man als Deutscher Deutsch? Ich meine, was hat man davon, später mal? Als was arbeitet man? Willst du Lehrer werden?«

Ich nahm einen Schluck Kaffee. Dieselbe Diskussion hatte ich nach dem Abitur mit meiner Mutter geführt, ebenfalls beim Frühstück. »Ich möchte als Lektor in einem Verlag tätig sein«, antwortete ich.

»Was tut ein Lektor?« Sie sah mich über den Tisch interessiert an. Meine Mutter war damals aufgestanden, hatte ihre Tasse und ihren Teller genommen und im Vorbeigehen auf mich hinuntergebellt, dass solche Hirngespinste überhaupt nicht infrage kämen. Ich hätte Lehrer zu werden, Beamter mit Pensionsanspruch und privater Krankenversicherung, Ende der Debatte.

»Er arbeitet ein Verlagsprogramm aus, sucht passende Schriftsteller, kauft ausländische Bücher ein und lässt sie übersetzen, liest Exposees und Manuskripte, verhandelt mit Autoren und Agenten und so weiter.«

»Klingt interessant. Ich meine, es geht ja für einen Verlag nicht nur um Literatur, stimmt´s? Es geht ja auch darum, Geld zu verdienen.«

Ich nickte. »Genau das. Meist wird Letzteres höher priorisiert, je nach Einfluss des Managements. Nur wenige Verlage können oder wollen es sich leisten, Kunst zu produzieren.«

»Hast du denn schon Erfahrung in einem Verlag gesammelt?«

»Ich habe zwei Praktika gemacht. Eines noch während der Schulzeit und eines unmittelbar nach dem Abitur. Ich würde gern ein weiteres machen, ein längeres, möglichst im Ausland, aber ...« Ich bremste mich.

»Aber deine Mutter hat gemeint, du sollst lieber fertig werden mit dem Studium und keine Zeit verschwenden.«

»Genau«, flüsterte ich.

»Blödsinn. Was bringt die ganze Theorie, wenn du keine Ahnung hast, wie es in einer Firma zugeht? Ausmalen kann man sich viel. Man muss es erleben!«

Ich nickte. Meine Mutter hatte meine Pläne Flausen genannt. Als Staatsdiener bräuchte ich kein Praktikum. Staatsdiener. Ich hatte höhnisch gelacht und für meine Unverschämtheit einen ermüdenden Monolog über Undankbarkeit über mich ergehen lassen müssen. Ich lernte daraus und verschwieg, dass ich nicht ‚auf Lehramt‘ studierte, nicht daran dachte, eine Beamtenlaufbahn einzuschlagen.

»Na, wir werden sehen.« Entschlossen erhob sie sich, räumte den Tisch ab und verschwand.

»Übrigens«, rief sie irgendwoher, »bin ich nachher weg. Und du solltest endlich die Wäsche von der Leine nehmen und diese Plastikplane aufräumen.«

Nachmittags war sie zurück, das Fahrrad beladen mit Taschen und Beuteln. Sie lud ab und stellte ihr Rad in den Schuppen. Dann sah sie mich am Fenster stehen.

»Magst du mir nicht helfen?«

Ich ging hinaus, warf mir eine Art Seesack über die Schulter, nahm eine Tasche und trug sie ins Haus.

»Wohin?«, wollte ich wissen.

»Ins Schlafzimmer.«

Während sie auspackte, stand ich in der Tür an den Rahmen gelehnt.

Sie hatte ihre Kleidung geholt. Unterwäsche, Strümpfe, Schlafanzüge, Hosen, Shirts, Blusen, Pullover. Keine Röcke oder Kleider. Sie sortierte alles auf dem Bett und öffnete die Schranktüren. Seufzte.

»Haben wir große Müllsäcke?«, fragte sie über die Schulter.

»Ich denke schon.«

Sie schaute mich an. »Und? Holst du mir welche? Sei so lieb.«

Ich gehorchte.

Als ich zurück war, die blauen Beutel in der Hand, war der Fußboden bedeckt mit Mutters Kleidern.

»Magst du das alles in die Säcke stopfen? Wir können sie bei Gelegenheit zur Rotkreuzstation bringen, da sind Altkleidercontainer. Weißt du, wo?«

Ich nickte, bewegte mich aber nicht.

Sie warf mir einen Seitenblick zu. »Ach, gib her, ich mach das«, winkte sie ab. »Warum hackst du nicht Holz für heute Abend? Es ist doch etwas kühl, wenn man auf dem Sofa sitzt. Und so ein knisterndes Feuer im Ofen ist urgemütlich, findest du nicht?«

Ich verließ das Haus, ging zum Schuppen und starrte auf den vor dessen Wand sauber geschlichteten Holzstapel, auf die Axt, auf den Holzklotz. Mutter hatte Angst vor der Axt gehabt, schon immer. Nach Vaters Tod hatte ich mich um Feuerholz gekümmert.

Ich nahm das Beil, wog es in der Hand. Dann legte ich ein Stück Holz zurecht und spaltete es mit einem Hieb. Wie es diese Frau angeordnet hatte, die in diesem Moment damit beschäftigt war, bei mir einzuziehen.

Die Tage vergingen. Ich gewöhnte mich an die neue Situation, an die Freundlichkeit, mit der ich behandelt wurde, an die Gelassenheit, mit der Thea, wie ich sie nach einigem Zögern nun nannte, das Leben anzugehen schien. Sie plauderte, diskutierte, hinterfragte, erkundigte sich nach meiner Meinung, nach meinen Wünschen und Plänen.

Ich entspannte mich zunehmend.

Sie war einfach da, so, als wäre es niemals anders gewesen. Und sie würde, das war mir rasch klar geworden, nicht mehr verschwinden. Ich wusste nicht einmal, ob ich überhaupt wollte, dass sie mich verließ.

Hin und wieder brach sie mit ihrem Fahrrad auf und blieb einige Stunden weg. Ich hatte mich nie getraut, sie zu fragen, wohin sie fuhr.

Zwei Wochen nachdem sie vor meiner Haustüre gesessen hatte und mit einer Selbstverständlichkeit geblieben war, die mich noch immer verblüffte, folgte ich ihr.

Sie radelte die Straße hinunter bis zur Dorfstraße, bog rechts ab und sofort links in einen Feldweg ein. Ich hielt Abstand. Als sie am Waldrand angekommen war, trat ich in die Pedale. Meine Augen brauchten einen Augenblick, bis sie sich an die Dämmerung im Wald anpassten, dann sah ich Thea wieder.

Sie war mehrere hundert Meter entfernt. Sie bog ab in einen Trampelpfad, den Jäger nutzten, um zu einer Fütterungsstelle für Wild zu gelangen. Ich beschleunigte, um sie nicht aus den Augen zu verlieren. Plötzlich erkannte ich meinen Fehler. Sie hatte angehalten, sich umgedreht, schaute mir entgegen.

Ich blieb stehen, verlegen.

»Und? Jetzt?«, fragte sie.

Ich wusste keine Antwort.

»Fahr nach Hause!«

Ich zögerte, öffnete den Mund, um etwas zu sagen.

»Sofort!«

Ich nickte, drehte mein Fahrrad um und kurbelte davon. Ich schämte mich.

Am Abend saß ich in der Küche, die Uhr im Blick, und wartete auf sie. Ich machte mir Sorgen. Ich hatte ein schlechtes Gewissen. Und Hunger.

Ich schmierte mir ein Brot, aß es im Stehen vor dem Fenster. Draußen wurde es allmählich dunkel. Blaue Stunde hatte meine Großmutter diese pastellfarbene Stimmung genannt.

Ein Geräusch an der Haustüre. Sie war wieder da. Ich seufzte erleichtert. Ich hatte sie nicht kommen sehen, sie musste sich über die Wiese hinter dem Haus genähert haben. Ich wandte mich um.

»Tu. Das. Nie. Wieder.«

Meine Nackenhaare richteten sich auf beim Klang ihrer Stimme und dem Ausdruck in ihren Augen.

»Geht klar«, flüsterte ich.

»Und jetzt schür doch mal den Ofen an, es ist etwas frisch hier drin. Hast du schon gegessen?«

Als wäre nichts gewesen. Als hätte ich mir die eiserne Kälte ihrer Worte nur eingebildet.

»Ja. Ein Brot.«

»Soll ich noch ein paar Reibekuchen machen?«

»Ich habe keinen Hunger. Ich ...«

»Ja?«

»Mir ist übel.«

»Oje. Ich mach dir einen Tee und eine Wärmflasche. Leg dich aufs Sofa und pack dich in die Decke ein! Ich bin gleich bei dir.«

Morgen wirst Du frei sein

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