Читать книгу Morgen wirst Du frei sein - Claudia Martini - Страница 5

2. Kapitel

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Als ich zu mir kam, lag ich auf dem Küchenboden. Vor mir, nicht einen Meter entfernt, meine Mutter. Ihr rechtes Auge war halb geschlossen, das linke glotzte mich an. Das Gesicht wirkte so verrutscht wie der Bademantel, der den Blick auf ein geblümtes Nachthemd und das faltige Dekolletee freigab. Die Haut zerknülltes Wachspapier, die Haare wie vom Sturm zerwühlt.

Ich schaute weg.

Ein Messer lag unter dem Tisch. Ich erkannte es, es steckte für gewöhnlich in dem hölzernen Messerblock an der Spüle. Es war jenes, das mein Vater verwendet hatte, um Gulasch zu schneiden.

Es hatte braune Flecken.

Ich hatte niemals eine Leiche gesehen. Jetzt hatte ich zweifellos eine vor mir.

Ich drehte den Kopf und sah das Blut. Nicht viel, aber deutlich erkennbar auf dem weißen Frottee.

Ich hatte keine Ahnung, was passiert war.

Ich erinnerte mich nicht an einen Streit zwischen uns, nur an die Nachrichten. Es ging um den Euro, um die Krise in Griechenland, um eskalierende Demonstrationen in Spanien. Die Kanzlerin rief zu Besonnenheit und Sparsamkeit auf. Die Versuche Irans, ein Atomkraftwerk zu bauen, waren ebenfalls ein Thema. Der Wetterbericht fehlte bereits in meiner Erinnerung.

Meine Mutter brühte sich an kühlen Abenden Kräutertee. Aber was wollte ich in der Küche?

Ich schauderte, konnte mich aber nicht abwenden. So blieb ich unbeweglich dort auf dem Fliesenboden, fror, begann zu zittern, dann zu weinen.

Ich fühlte zu viel, um mit diesem Aufruhr in meinem Inneren umgehen zu können. Einsamkeit. Verzweiflung. Schuld. Angst. Doch als ich meine Mutter da liegen sah, still und stumm, stellte sich ein weiteres Gefühl ein.

Erleichterung.

Und das löste Panik aus.

Ich sprang auf, rutschte aus, knallte mit dem Knie auf die Türschwelle, rappelte mich wieder auf, rannte ins Bad und übergab mich.

Als ich nur noch würgte, wischte ich mir mit Toilettenpapier den Mund ab und putzte mir die Nase. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich stechende Kopfschmerzen hatte. Ich griff an meinen Hinterkopf, zuckte zusammen. Es brannte. Meine Finger waren blutig. Offenbar hatte ich mir den Kopf angeschlagen. Aber wann? Und wo?

Ich hatte mich vollgekotzt.

Ich riss mir den Trainingsanzug vom Körper, die Unterhose, die Socken und stellte mich unter die Dusche. Der Strahl prasselte eiskalt auf meinen Kopf, auf meine Schultern, den Rücken. Es war schmerzhaft und angenehm zugleich.

Als nach einer Weile das Wasser heiß wurde, drehte ich den Hahn zu, blieb mit gesenktem Kopf und hängenden Armen stehen, schaute hellroten Topfen in der Duschwanne beim Zerplatzen zu. Überdeutlich nahm ich die Kratzer in der Keramik wahr, sah das Wasser im angerosteten Abfluss kreiseln und schließlich verschwinden.

In mir war nichts als Leere.

Ich hätte die Polizei rufen sollen.

Ich tat es nicht.

Was hätte ich sagen sollen, am Telefon und auch später während der Verhöre? Ich hatte meine Mutter erstochen. Aber wie war es dazu gekommen? Warum hatte ich das getan?

Ich presste die Augen zusammen, hämmerte mit den Fäusten auf meine Stirn ein. Was, zum Teufel, war geschehen?

Ich hatte schon immer panische Angst vor dem Eingesperrtsein. Den Grund hatte ich entweder verdrängt oder es gab keinen. Den Tag, an dem mich Nachbarskinder im Keller eingeschlossen hatten, werde ich niemals vergessen. Mein Vater hatte mich gefunden, ein siebenjähriges Häufchen Elend, zitternd, heulend, vollgepisst.

Während ich davon überzeugt war, dass ich Stunden in der Dunkelheit verbracht hatte, lachte er mich aus und meinte, es seien lediglich wenige Minuten gewesen. Er hatte die Kinder johlen und weglaufen hören. Misstrauisch war er auf die Suche gegangen nach dem, was sie wieder einmal angestellt haben mochten.

Seitdem hasste ich meinen Vater und nutzte Treppenhäuser statt Aufzüge. War ich in Begleitung, schob ich verlegen lachend Fitnessgründe vor. Keller hatte ich seitdem vermieden.

Die Manie meiner Mutter, bei Einbruch der Dunkelheit alle Jalousien zu schließen, quälte mich, den Gedanken an die verriegelte Haustüre versuchte ich zu vermeiden, denn er löste irrationale Fluchtgedanken in mir aus.

Eine Antwort auf die Frage, warum sie tagsüber keine Bedenken hatte, Fenster und Türen unverschlossen zu lassen, nachts aber offenbar Angst hatte vor Einbrechern, bekam ich nie. Ich befreite mich auf meine Weise, indem ich heimlich das Rollo in meinem Zimmer öffnete, sobald meine Mutter im Bett war.

Nein, der Anruf bei der Polizei war keine Alternative zu dem, was ich stattdessen tat.

Meine Mutter hatte den weinroten Audi 80 nach Vaters Tod behalten. Ich durfte den Führerschein machen und Fahrpraxis sammeln, indem ich sie zum Arzt, zum Einkaufen, zur Bücherei fuhr. Ohne Kritik ging es niemals ab, doch ich stellte mich taub, genoss das Fahren.

Ich war selten allein unterwegs; es bedurfte überzeugender Argumente oder extremer Wetterverhältnisse, um den Autoschüssel ausgehändigt zu bekommen. Selbst dann fuhr ich nicht die fünfzehn Minuten zum Bahnhof, von dem aus mich der Zug nach München zur Uni brachte, sondern parkte den Wagen an der Haltestelle am Ortsende und stieg in den Bus, der für die Strecke mehr als doppelt so lang brauchte.

Wir wohnten am Rand eines Dorfes, in dem die Landwirtschaft aufgegeben, die vor Jahren geplante Ansiedelung von das Landleben schätzenden Kleinfamilien aber noch nicht umgesetzt worden war. Während man im Gemeinderat über Grundstückspreise und Baugebiete stritt, zogen die Kinder der Bauern in die Städte, Brachen und Ruinen hinterlassend.

Gelegentlich bewegte sich hinter einer der kleinen schmutzstarrenden Scheiben eine Gardine. Man sah sie kaum, die Alten, die hier ihr Dasein fristeten.

In diesem Ort namens Kleinspornach, einst das Landgut eines Barons, waren Armut und Verfall an löchrigen Straßen und bröckelndem Putz deutlich sichtbar. Es lag abgelegen, der Zufall brachte keine Besucher in diese Gegend.

Hin und wieder hörte man eine Kuh, einen Traktor, seltener ein Auto. Niemals sah ich plaudernde Menschen, die über die Straße hinweg oder an Gartenzäunen Neuigkeiten austauschten. Niemand zog Erkundigungen nach dem Befinden der wenigen Familien des Ortes ein. Es gab keine Fragen nach den Kindern und deren schulischen Erfolgen. Man fachsimpelte nicht über Mähdrescher, besprach sich nicht zu geeignetem Saatgut oder stimmte Erntetermine ab. Eine Kirche, in der man sich hätte treffen können, fehlte.

Jeder hatte seine eigenen Probleme, die die Nachbarn nichts angingen. Man ging sich aus dem Weg, beäugte sich misstrauisch, pflegte alte Feindschaften.

Dieser Ort war perfekt für mich, den Eigenbrötler, der sich stundenlang in der Hängematte liegend in die Welt hinaus träumte, las, mit dem Fahrrad die Gegend erkundete, durch Wälder streunte.

Und dieser Ort war perfekt, um einen Menschen verschwinden zu lassen.

Ich hatte eine Weile nachgedacht.

Ich wollte meine Mutter in einen Teppich rollen, mir über die Schulter werfen, das Paket in den Kofferraum laden, irgendwohin fahren, meine Fracht abladen und entsorgen.

Das war der Plan.

Er scheiterte bereits am Teppich, wie ich erkannte, als ich auf ihm stand. So groß hatte ich ihn nicht in Erinnerung.

Also nahm ich aus dem Wohnzimmer eine Decke, ging in die Küche und warf sie von der Tür aus über die auf dem Boden Liegende.

Ich hatte gehofft, dass sie ausreichen würde, meine Mutter zu bedecken, diesen Körper, das Blut, vor allem aber dieses Auge, das mich zu verfolgen schien, zu verbergen, doch ich wurde enttäuscht.

Ich ging ins Schlafzimmer, um die gesteppte Bettdecke zu holen. Ich zerrte sie vom Bett, erkannte aber rasch, dass auch sie den Zweck nicht erfüllte. Sie war zu voluminös, zu weich und ebenfalls nicht breit genug.

Meine Verzweiflung wuchs.

Hektisch sperrte ich die Haustüre auf, spähte in die mondlose, klare Nacht hinaus. Niemand war zu sehen.

Den Autoschlüssel hatte ich bereits in der Hosentasche. Ich lief über den Hof, sprang in den Wagen und fuhr ihn mit dem Heck vor die Haustüre. Dann öffnete ich den Kofferraumdeckel und starrte ins Innere.

Zu wenig Platz.

Meine Mutter war nicht groß, aber beleibt. Ehrlich gesagt war sie korpulent. Fett. Sie würde niemals in den Kofferraum passen.

Resigniert ließ mich auf die Stufen am Eingang sinken, legte den Kopf in die Hände und seufzte.

Was ich brauchte, war eine Eingebung. Und zwar sofort.

Mein Vater war Jäger gewesen. Jede freie Minute verschwand er im Wald, blieb oft die Nacht über weg. Die verbrachte er im Hochstand, eingehüllt in einen Schlafsack, das Fernglas vor sich, dampfenden Kaffee neben sich.

Von September bis Januar gab es zu Vaters Lebzeiten bei uns täglich Fleisch. Rehe und Wildschweine landeten in allen erdenklichen Variationen auf unseren Tellern; mein Vater war ein hervorragender Schütze.

Ich war fasziniert von der Jagd, auch wenn diese Faszination eine war, die in mir niemals die Vorfreude auf das Töten weckte, wie ich sie bei anderen beobachtete. Im Gegenteil. Die Pirsch, das Ansitzen und Beobachten, die Hege während des Winters liebte ich. Die Gewissheit aber, dass der Schuss fallen, das Reh zusammenbrechen und ein Leben beendet sein würde, machte mich traurig.

Sobald das Lebewesen zu Fleisch wurde, waren meine Skrupel verflogen. Eifrig half ich beim Häuten, Ausweiden, Zerteilen. Ich hatte mir eine eigene Technik angeeignet, für die mir die Jäger der Nachbarreviere Respekt zollten. Saßen sie nach einer Treibjagd in der Hütte und stießen mit dem obligatorischen Schnaps an, nahm ich mich ihrer Beute an.

Heute lagerten die Flinten und Messer meines Vaters auf dem Dachboden. Ich hatte nach seinem Tod an keiner Jagd mehr teilgenommen, obwohl ich oft eingeladen worden war.

Ich stand auf und ging ins Haus.

Im Flur blieb ich unter der Dachluke stehen. Die Stange, mit der man sie öffnen konnte, lag auf dem Schrank. Ich fädelte den Haken in die Öse, zog kräftig an. Die Klappe öffnete sich. Ich klappte die Leiter aus, schaltete das Licht an und stieg hinauf.

Oben angekommen, orientierte ich mich. Ich war Jahre nicht mehr hier gewesen. Staub und Spinnweben hatten Kisten und Schachteln zugedeckt. Es war düster, warm und stickig. Ich hustete. Eine große Spinne rannte über einen Holzbalken.

Da war er, Vaters metallener Flintenschrank, daneben die Holzkiste, in der er seine Jagdutensilien aufbewahrt hatte. Ich öffnete sie. Obenauf lag das abgegriffene Lederfutteral mit den Messern. Ich nahm es, warf den Deckel zu und kletterte rasch die Leiter hinab.

Im Flur holte ich tief Luft und wandte mich zur Küche.

Minutenlang stand ich da.

Sie lag vor mir, nicht anders als früher die Rehe und Wildschweine, die mein Vater geschossen hatte. Noch immer war wenig Blut zu sehen, lediglich vor dem Herd ein verschmierter Streifen, dort, wo ich ausgerutscht war. Die Flecken auf dem weißen Bademantel waren nicht rot, sondern braun, fast wie die Decke, die halb über der Leiche lag.

Ich öffnete das Mäppchen mit den Jagdmessern und prüfte den Inhalt. Alles war an seinem Platz. Sauber und scharf.

Einsatzbereit.

Ich zog die vom häufigen Schleifen schmal gewordene Klinge heraus, die ich früher zum Ausbeinen von Wildschweinen verwendete hatte. Wog sie in der Hand. Ging in die Knie, zog die Decke von den blassen Schenkeln meiner Mutter, schob den Bademantel zur Seite.

Es würde genügen, die Beine an den Hüften abzutrennen. Der Körper könnte Platz finden im Kofferraum. Es würde einiges an Kraftaufwand beim Verladen bedeuten, doch das traute ich mir körperlich durchaus zu.

Ich schob das Nachthemd höher.

Noch ein Stück.

Meine Mutter war gewalttätig gewesen. Ich, der Germanist, fand keinen passenderen Ausdruck dafür; kein Attribut beschrieb sie treffender.

Sie schlug mich niemals. Sie redete. Viel und, meinem Gefühl nach, ständig. Sie brachte meine Ohren zum Summen und meinen Kopf an die Grenze seiner Kapazität. Ich konnte körperlich schon als 15-Jähriger auf meine Mutter hinunterschauen, doch das änderte nichts daran, dass ich mir neben ihr wie ein Zwerg vorkam. Und ich wurde kleiner und kleiner. Eines Tages, so stellte ich es mir vor, verschwände ich in einer Ritze im Dielenboden.

Sie fällte Urteile und ließ sie krachend auf mich herunterfallen wie eine Guillotine ihr Messer. Sie pflegte sich in meinem Zimmer vor mir aufzubauen und schier endlose Monologe zu führen. Ich war zum Zuhören verurteilt. Für Widerworte fand ich keinen Raum. Bekam ich eine der seltenen Gelegenheiten, mich zu rechtfertigen, erzielten meine Argumente kaum mehr als den Effekt, dass sich ihr Erregungszustand steigerte. Die nächsten Minuten spielten sich dann um eine Oktave höher und um einige Dezibel lauter ab.

So lauschte ich ergeben dem, was sie mir zu verkünden hatte. Oder ich schaltete ab und ließ meine Gedanken wandern.

Mein Vater verließ wortlos das Haus, wenn sich meine Mutter in Rage redete. Ich hatte diese Möglichkeit nicht, niemals. Ich hasste meinen Vater dafür, dass er mich ihr auslieferte, diesem Wortschwall, der auch ihn anging.

Ich schwieg und ertrug.

Nun hockte ich vor ihr, das Messer in der rechten, den Stoff ihres Nachthemds in der linken Hand. Tränen und Rotz liefen mir übers Gesicht.

Es ging nicht. Ich konnte das nicht. Sie würde mich umbringen. Dass sie tot war, änderte kein bisschen an meiner Angst vor ihr.

Ich ließ Nachthemd und Messer fallen, erhob mich und rannte aus der Küche.

Ich war ein Feigling, ein Versager, eine Niete.

Meine Mutter hatte es gesagt. Immer wieder. Und Recht behalten.

Irgendwann war ich am Esstisch im Wohnzimmer sitzend eingeschlafen. Als ich erwachte, schmerzte mein Nacken, die Hände, auf die ich den Kopf gelegt hatte, kribbelten. Ich schüttelte sie, stand auf und zog die Jalousien hoch.

Es dämmerte.

Ich blickte aus dem Fenster, schaute über die im Dunst des Morgens liegenden Felder. Ich war jetzt ruhiger, gefasster. Suchte nach einer Lösung. Grübelte, wog ab, verwarf. Kurz überlegte ich erneut, ob ich mich der Polizei stellen sollte, schob den Gedanken allerdings sofort von mir.

Plötzlich war alles klar. Ich schüttelte den Kopf über meine peinliche Dummheit. Ich spürte, wie ich rot wurde. Fast musste ich lachen. Als ob ich in der Lage wäre, meine Mutter mit einem Messer zu zerlegen! Schon körperlich, das war mir jetzt bewusst, wäre dieser Kraftakt kaum zu schaffen. Mit dieser kurzen Klinge hätte ich nicht mehr als die zentimeterdicke Fettschicht durchdrungen. Meine Güte, was war ich nur für ein Idiot!

Ich würde ein anderes Fahrzeug besorgen. Einen Kombi oder einen Lieferwagen. Freunde, die ich um ihr Auto hätte bitten können, besaß ich nicht. Also blieb nur eine Autovermietung.

Ich griff nach den Gelben Seiten.

Nachmittags war ich zurück. Ich war in die Stadt gefahren, hatte einen Mercedes Sprinter gemietet und im Baumarkt verschiedene Abdeckplanen gekauft, wie sie auf Baustellen Verwendung finden.

Ich parkte den Lieferwagen vor der Haustüre. Dann ging ich in den Garten, um eine der Holzlatten zu holen, mit denen wir im Frühsommer das Netz über den Kirschbaum spannten. In einem Eimer entdeckte ich ein Paar Arbeitshandschuhe, die ich mitnahm. Ich warf die Latte in den Laderaum und wählte eine der Plastikplanen aus.

Ich schloss die Haustüre auf, blieb auf der Schwelle stehen, lauschte. Kein Ton war zu hören.

Im Flur zog ich die Handschuhe an, breitete die Plane aus und schleppte sie in die Küche. Es war mühsam, das störrische Plastik neben die mitten im Raum liegende Person zu ziehen. Als ich es endlich geschafft hatte, den Boden damit zu bedecken, versuchte ich, die Leiche auf die Folie zu wälzen und darin einzuwickeln.

Es war kaum Platz in der Küche. Ich rückte den Tisch zur Wand, stellte die Stühle darauf, doch das verschaffte mir nur wenig Freiraum. Zudem stellte es sich als sehr schwierig heraus, einen Körper zu bewegen, der keinerlei Körperspannung mehr enthält.

Ich zerrte und stemmte, drückte und schob.

Als ich die Leiche endlich verpackt hatte, stand ich auf, betrachtete mein Werk. Zufrieden war ich nicht. Die Plane würde sich lösen, wenn ich sie packen und durch den Flur ziehen würde..

Ich überlegte kurz und öffnete dann die Schublade, in der Kleinzeug vom Bindfaden über Kugelschreiber bis hin zur Paketkarte einen Platz hatte. Da lag sie, die Rolle mit braunem Klebeband, wie man es für Pakete verwendete.

Es war bereits dunkel, als ich die Plane so gefaltet und verklebt hatte, dass die Leiche nicht mehr herausrutschen konnte.

Ich war fix und fertig, doch eine Pause einzulegen war unmöglich. Der Transporter stand mir lediglich für 24 Stunden zur Verfügung, darauf hatte mich der Vermieter extra hingewiesen.

Ich begann, an der Plane zu zerren. Sie bewegte sich nicht. Ich zog stärker, mit aller Kraft, stemmte mich gegen den Türrahmen. Mehr als ein paar Zentimeter schaffte ich nicht. Ich fand keinen Griffpunkt, rutschte immer wieder ab.

Verzweifelt starrte ich zu Boden, stieß einen Fluch aus.

Ein nicht zu fassender Gedanke, das Gefühl, etwas vergessen zu haben, arbeitete schon eine Weile hinter meinen bohrenden Kopfschmerzen. Dann brach er unvermittelt durch, und er war simpel: Im Schuppen neben dem Haus befanden sich Seile und Gurte.

Kurz vor Mitternacht lag meine Fracht im Wagen. Ich drückte die Heckklappe zu.

Ich zitterte vor Erschöpfung und Hunger, doch der Gedanke an Essen ließ sauere Übelkeit in meiner Brust aufsteigen. Hastig leerte ich eine Flasche Mineralwasser. Dann ging ich in mein Zimmer, holte mein Schweizer Taschenmesser sowie eine Taschenlampe und zog im Flur Regenjacke und Gummistiefel an.

Sorgfältig verriegelte ich schließlich die Haustüre, setzte mich ans Steuer des Sprinters und fuhr Richtung Norden.

Rund 20 Kilometer musste ich zurücklegen, dabei zwei Ortschaften durchqueren, um mein Ziel zu erreichen. Dort begann ein ausgedehntes Naturschutzgebiet. Als mein Großvater ein Kind gewesen war, stach man hier Torf, der getrocknet als Brennstoff diente.

Seit Jahren schon gehörte das Moor Tieren und Vogelkundlern, die hofften, seltene Exemplare beim Brüten beobachten zu können. Sie verlegten Planken, um die sumpfige Landschaft zu erschließen, um imstande zu sein, tiefer einzudringen in diese fremde, gefährliche, reizvolle Welt. Zuletzt aber siegte immer das Sumpfland, verschlang unerbittlich alles, was ihm angeboten wurde.

An diesem Ort würde meine Mutter ihr Grab finden.

Ich kannte eine Stelle, an der man bei Trockenheit ein Fahrzeug sicher parken kann. Mein Vater hatte sie mir gezeigt. Dort hielt ich an, kurbelte das Fenster herunter und machte den Motor aus. Eine Weile blieb ich angespannt sitzen, spähte in die Finsternis, lauschte meinem Herzschlag und den Geräuschen der Nacht. Heute wirkten sie bedrohlich, lauter und intensiver als sonst.

Ich atmete tief durch und verließ das Auto.

Die Ornithologen verwendeten ein Boot mit flachem Boden, um ihre Instrumente, Zelte und Schlafsäcke durch die Kanäle zu ziehen. Es wurde nicht oft genutzt, meist lag es leck geschlagen halb versenkt im Schilf.

Ich schaltete meine Taschenlampe ein und machte mich auf die Suche.

Nach einigen Minuten hatte ich es gefunden. Erleichtert erkannte ich, dass der Kahn erst vor Kurzem mit Hanf und Teer geflickt worden war. Er wirkte einsatzbereit. Ich löste den Strick, mit dem er an einem Baum befestigt war, und zog ihn hinter mir her, bis der Kanal endete.

Bis hierher würde ich die Leiche meiner Mutter bringen müssen.

Zurück beim Auto öffnete ich die Schiebetüre, zog meine Handschuhe an, steckte das Messer in die Hosentasche, die Lampe schob ich in den Bund. Ich griff nach dem Seil, das ich um die Plane geschlungen und verknotet hatte. Zweimal kräftig daran gezogen, landete meine unförmige Fracht fast ohne ein Geräusch auf dem schwarzen Moorboden.

Jetzt, wo ich meine Mutter als grünes Paket vor mir hatte, waren meine Skrupel verschwunden. Ich war vollkommen fokussiert auf meine Aufgabe.

Ich hoffte, die als extra reißfest beschriebene Folie würde bis zum Boot halten. Weder Steine noch Wurzeln erschwerten mir die Arbeit zusätzlich; der Boden war mit feuchtem Moos, Farn und Gras bedeckt.

Ich packte das Seil, schlang es zweimal um meine Handgelenke und stemmte die Stiefelabsätze in den leise schmatzenden Untergrund.

An meinem Ziel angekommen, war ich schweißgebadet. Dennoch war es leichter und schneller gegangen, als ich angenommen hatte.

Nun musste ich das Boot beladen. Ratlos stand ich davor. Es würde zweifellos kentern, wenn ich versuchte, mein Paket hineinzuzerren. Ich überlegte eine Weile, zog dann den Kahn längsseits, zerrte ihn in den Schlick und kippte ihn. Vorsichtig, Millimeter für Millimeter rollte ich die Plane mit dem Körper ins Innere. Das Holzboot richtete sich langsam auf.

Es schwamm.

Ich vertäute es sorgfältig und marschierte zum Transporter zurück, um die Holzlatte zu holen. Ich benötigte sie als Stake, aber auch, um die Wassertiefe auszuloten. Und um meine Mutter, sobald ich sie aus der Folie geschält hatte, unter Wasser zu drücken, bis das Moor sich ihrer bemächtigte. Ohne nachzuhelfen, das wusste ich aus Fernsehberichten, versinken Leichen nicht.

Als der Morgen dämmerte, war ich wieder im Auto. Dreckig, nass, todmüde, erleichtert. Mein Plan hatte funktioniert. Der Schlick hatte meine Mutter bereitwillig aufgenommen und würde sie nicht mehr hergeben.

Ich legte den Kopf auf das Lenkrad und schloss meine brennenden Augen. Minutenlang blieb ich so sitzen, nichts denkend, nichts fühlend. Dann startete ich den Motor.

Morgen wirst Du frei sein

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