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8. Kapitel

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Jessica sah ich am ersten Vorlesungstag wieder. Sie stand vor dem schwarzen Brett, studierte Jobangebote. Ich stellte mich hinter sie.

»Hey.« Mehr fiel mir nicht ein.

»Ach? Lebst du auch noch?«, schnippte sie über ihre Schulter und las weiter.

»Ich war krank. Tut mir leid.«

»Ehrlich? Warum hast du nicht angerufen? Ich hätte dich doch besucht!« Sie drehte sich zu mir um, griff nach meiner Hand, sah mir besorgt ins Gesicht.

»Ja, das wäre schön gewesen. Aber ich wohne sehr weit draußen. Ziemlich abgelegen. Das kann ich dir nicht zumuten.«

»Wenn ich dich besuchen will, komme ich dich besuchen. Und wenn du auf dem Mond lebst«, blaffte sie, und ihre Augen strahlten mich dabei an. »Geht es dir denn jetzt wieder besser?«

»Ja, ich wurde gut versorgt.«

»Von deiner Mutter?«

»Äh ... Ja. Also, gewissermaßen.«

Sie schaute mich fragend an, zog mich aber anstelle einer Antwort die Treppe hinauf. »Komm, wir müssen los. Die erste Stunde gibt heute der Meier. Und wir sind spät dran. Du weißt doch, er hält nicht viel von der akademischen Viertelstunde. Und ich habe keine Lust auf seine zynischen Bemerkungen.«

Ich setzte mich neben sie. Ihre Freundin rückte wortlos einen Platz weiter.

Irgendwann im Februar fiel Thea meine Veränderung auf. Vielmehr erwähnte sie es zu diesem Zeitpunkt erstmals. Ihr Kommentar kam nicht von ungefähr, es war unmöglich, meine blendende Laune nicht wahrzunehmen. Und damit hatte sie wohl auch keine Möglichkeit mehr, mein Verhalten zu ignorieren: Ich pfiff unter der Dusche, sprang die Stufen an der Haustüre hinunter, wendete das Auto schwungvoll auf dem vereisten Hof, warf Türen zu, ließ mich aufs Sofa fallen, dass die Sprungfedern ächzten.

»Hast du das große Los gezogen?«, zog sie mich auf, als ich krachend in einen Apfel bis und dabei wie ein Raubtier knurrte.

»Mindestens«, mampfte ich.

»Wie heißt sie denn?«

»Jessica«.

»Ist sie ebenso fröhlich wie du?«

»Ich weiß nicht«, antwortete ich zweifelnd. »Obwohl ... Ich denke schon. Doch.«

Sie nickte und beließ es dabei.

Die Sonne blendete uns, als wir eng umschlungen durch das Hauptportal der Uni traten. Ich blinzelte und sog die frische Luft in meine Lungen. Jessica stöhnte vor Wohlbehagen und setzte ihre Sonnenbrille auf; ich zog den Schirm meiner Mütze tiefer ins Gesicht.

Dann sah ich sie. Sie stand an einem Pfeiler, schaute zu uns herüber. Ich erstarrte.

Jessica sah irritiert zu mir auf. »Was denn? Hast du was vergessen?«

»Was? Äh, nein.« Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also blieb ich stehen.

Thea drehte sich langsam um und ließ sich von einem Strom Menschen zur U-Bahn-Station treiben.

Ich atmete wieder.

»War sie das? War das Jessica?«, fragte Thea beiläufig, als sie Pilzsauce über meine Knödel schöpfte.

»Ja.«

»Wann stellst du sie mir vor?«

»Ich weiß nicht. Muss ich? Ich meine ...« Ich verstummte. Stellte man seiner Mutter eine Freundin vor? Die im Moment und vielleicht auf Dauer nicht mehr als das war: eine Freundin? Wir hatten uns zwar geküsst, vielmehr, Jessica hatte mich geküsst und gelacht über meine Unerfahrenheit und Unsicherheit. Zu weitergehenden Intimitäten aber war es bis jetzt nicht gekommen. Wo auch? Ich spürte Trotz in mir aufsteigen. Davon abgesehen war Thea nicht meine Mutter.

»Warum sollte ich?«, provozierte ich Thea mit vorgerecktem Kinn.

»Bring sie am Wochenende mit! Ich koche was Leckeres.« Sie setzte sich, wünschte mir guten Appetit, begann ihren Knödel zu zerteilen.

»Und wenn sie nicht will?«

»Sie will.«

Sonntagmittag holte ich Jessica vom Zug ab.

Thea schien Jessica vom ersten Moment an ins Herz zu schließen. Sie fragte sie über ihre Familie aus, erkundigte sich nach ihren beruflichen Plänen, diskutierte mit ihr die Vor- und Nachteile von Praktika und Auslandssemestern. Beim Kaffee lachten, scherzten, tuschelten die beiden wie gute Freundinnen.

Ich blieb schweigsam, fühlte mich ausgeschlossen. Mehr noch, ich war skeptisch angesichts Theas blendender Laune und doch erleichtert, dass sie sich so entspannt zeigte und Jessica zu akzeptieren schien.

Ich wusste nicht, warum ich misstrauisch war, wahrscheinlich tat ich Thea unrecht. Dennoch, ich traute ihr nicht.

Als ich Jessica zum Bahnhof fuhr und zum Bahnsteig brachte, trat sie auf mich zu, streckte sich, stellte sich auf die Zehenspitzen und legte die Arme um meinen Hals.

»Deine Mutter, die ist eine Nette, weißt du das?«

»Naja ...«

»Nix naja. Was verstehst du denn von Frauen?«, zog sie mich auf und rieb ihre Wange an meiner. »Iiih, stachelig!«

Ich küsste sie auf die Stirn. »Schade, dass du schon wegmusst.«

»Ich bin morgen mit meinem Referat dran. Offen gesagt habe ich heute Nacht noch eine Menge zu tun, wenn ich nicht ausgelacht und an den Pranger gestellt werden will.« Sie kicherte. »Nächstes Mal. Nächstes Wochenende«, flüsterte sie in mein Ohr. »Dann bleibe ich zum Frühstück.«

Sie drängte sich an mich, ließ mich ihren schlanken, biegsamen Körper spüren. Meinen spürte ich auch, überdeutlich. Mein Mund wurde trocken, in meinen Ohren rauschte es. Schweiß perlte auf meiner Stirn. Ich nickte.

Jessica lächelte.

Ich sah ihr zu, wie sie in den Zug stieg. Sie stand an der Tür, winkte mir zu. In meinem Bauch kribbelte es so stark, dass ich lachen musste und die Hand auf die Stelle legte. Der Zug setzte sich in Bewegung.

Die Vorfreude auf den nächsten Morgen, an die Begrüßung, bei der ich ihr mit den Fingern am Nacken nach oben durch die Haare gleiten und ihre nach Kaffee schmeckenden Lippen küssen würde, ließ mich zum Auto rennen. Die Energie, die ich in mir spürte, schien mich anzuheben, über meine Sorgen und Geheimnisse davonschweben zu lassen.

»Nettes Mädel. Sehr offen. Und extrem klug«, urteilte Thea, als ich zurück war. »Ich mag sie.«

»Mhm.« Ich warf mich in den Sessel, schaute auf den Fernseher, ohne wahrzunehmen, was ich da sah.

»Was ist los? Freut dich das nicht? Ich meine, es könnte ja auch anders sein.«

Ich hätte gern den Mut aufgebracht, offensiv zu fragen, welche Konsequenzen es für mich haben würde, wenn Jessica bei Thea durchfiele. Doch ich wollte keine Diskussion auslösen, die diese Saite in Thea zum Klingen brächte, die mir Angst machte.

»Wann kommt sie wieder?«, fragte sie.

»Weiß nicht. Am Wochenende.«

»Gut. Ich backe Kuchen.«

Am Montag trafen wir uns am Hauptbahnhof, tranken Latte macchiato, teilten uns eine Butterbreze am Stehimbiss und gingen Jessicas Vortrag durch. Wir stiegen in die U-Bahn, rannten Hand in Hand die Stufen zum Vorlesungssaal hinauf, schlüpften kurz nach dem Professor in den Raum. Kichernd wie zwei Teenager plumpsten wir auf die Klappsitze und suchten, kaum sitzend, schon wieder Körperkontakt.

Das Referat war ein Erfolg; der sonst so kritische Dozent zwar zufrieden und hatte nur wenig auszusetzen. Wie vereinbart, brachte ich mit einigen Fragen die Diskussion in Gang, die Jessica souverän moderierte.

Nach dem Mittagessen trennten wir uns. Ich hatte meinen Job anzutreten, Jessica ihr erstes Seminar für Erstsemester zu leiten.

Wir verabredeten uns für den folgenden Morgen, umarmten und küssten uns und versprachen uns, am Abend zu telefonieren, wenn wir beide im Bett lagen.

Morgen wirst Du frei sein

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