Читать книгу Die Prophezeiung - Claudia Rack - Страница 6
4. Kapitel
ОглавлениеAn ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr verabschiedet sich die Seele vom ursprünglichen Weg. Sie hört, sieht und kämpft. Flügel jagen sie. Gefährte und Feind kreuzen ihren Weg. Sie vermag Frieden schenken oder Unheil verbreiten.
Ariana musste die Passage mehrmals lesen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass es mit ihr zu tun hatte. Sie dachte an die Nacht zurück, als sie das Bewusstsein verloren hatte. Es war die Nacht vor ihrem einundzwanzigsten Geburtstag. Sie hatte den Countdown auf ihrem Computer gesehen. Sie las von vorn. An ihrem einundzwanzigsten Lebensjahr verabschiedet sich die Seele vom ursprünglichen Weg. Sie hört, sieht und kämpft. Sprach das Buch von ihr? Ariana schüttelte den Kopf. Nein, das war unmöglich. Wie sollte ein Buch das wissen? Sie sah die Bilder der Hetzjagd im Wald vor sich. Die Gestalten mit den Flügeln. Flügel jagen sie. Oh Gott! Ariana schlug das Buch zu. Nein! Sie wollte das nicht glauben. Das Buch konnte nicht sie meinen. Wer war sie schon? Sie war ein normaler Mensch. Das war absurd. Ariana ergriff erneut die Karte. Der Name darauf starrte ihr entgegen. Spielte dieser Mann mit ihr? Wollte er sie mit diesem Geschenk in den Wahnsinn treiben? Wie stand es in dem Buch? Gefährte und Feind kreuzen ihren Weg. War Jazar Gefährte oder Feind? Ariana lief unruhig in ihrem Zimmer hin und her. Ihre Frisur war zerwühlt, da sie ständig mit einer Hand durch ihre Haare fuhr. Sie murmelte vor sich hin und redete mit sich selbst. Sie dachte über die Zeilen nach. Welches Unheil war gemeint? Sie wurde nicht schlau daraus. Ariana fürchtete sich, weiterzulesen. Was stand noch darin? Träumte sie? Sie kniff sich in den Oberarm. Sofort setzte der Schmerz ein. Sie war hellwach. Ein seltsames Stechen in ihrer Brust ließ sie innehalten. Ihre Hand auf dem Herzen konnte sie spüren, wie es heftig schlug. Panik schnürte ihr die Kehle zu. Der Schmerz zwang sie in die Knie. Ariana krümmte sich und stöhnte qualvoll auf. Plötzlich hörte sie ein unbekanntes Geräusch. Ein Schlagen, gefolgt von einem Poltern über ihr, versetzte sie in Panik. Sie sah zur Decke und runzelte die Stirn. Das Brennen in der Brust erschien ihr unwichtig im Vergleich zu dem, was über ihr geschah. War jemand auf dem Dach? Ein Krachen ertönte und sie fuhr herum. Ariana konnte hören, wie ihre Mutter unten schrie. Ihr Vater schimpfte. Ohne darüber nachzudenken, stürmte Ariana aus ihrem Zimmer. Was sie sah, ließ sie auf der Treppe erstarren. Die Haustür hing nur noch in den Türangeln. Jemand hatte sie aufgebrochen. Zwei dunkle Gestalten standen im Flur. Ihre schwarzen Flügel lugten an den Schulterblättern hervor. Ihre Spitzen schleiften am Boden, verursachten mit jeder ihrer Bewegungen ein unangenehmes Rascheln. Ihr Vater eilte mit einem Messer herbei und stellte sich den Gestalten in den Weg. Ein Fausthieb reichte aus. Er flog hohen Bogens zurück ins Wohnzimmer. Ihre Mutter schrie und rannte zu ihrem Mann, der bewusstlos am Boden lag. Die zwei Gestalten gingen auf ihre Eltern zu. Ihre roten Augen glühten vor Wut. Sie verwendeten eine seltsame Sprache, um untereinander zu kommunizieren. Ariana eilte nach unten. Angst lähmte sie. Die Gestalt holte erneut aus und schlug ihrer Mutter hart ins Gesicht.
„Nein!“, schrie Ariana auf. Die beiden drehten sich sofort zu ihr um. Entsetzt wich Ariana zurück, immer einen Schritt nach dem anderen. Rote Augen fixierten sie. Derjenige, der zugeschlagen hatte, legte den Kopf schief und schien von ihr angetan. Der andere vollendete, was sie begonnen hatten. Er stellte sich über ihre Eltern und streckte die Hände aus. Eine Hand lag auf dem Kopf ihrer Mutter, die andere auf dem ihres Vaters. Was ...? Die Hände glühten. Erschüttert beobachtete Ariana den Mord an ihren Eltern. Panisch schrie sie auf. Die Gestalten mit den Flügeln kamen angriffslustig auf sie zu. Ariana warf einen letzten bedauernden Blick auf ihre regungslosen Eltern und rannte los. Ihre Füße trugen sie aus dem Haus in die kalte Winternacht. Gehetzt sah sie zurück zu ihren Verfolgern. Orientierungslos, mit Tränen in den Augen, lief sie vor den Gestalten davon. Ariana stolperte und fiel zu Boden. Ariana verdrängte den Schmerz im Knöchel. Sie musste laufen, wenn sie leben wollte. Die Kälte drang in ihre Hände und Füße. Ihr ging die Luft zum Atmen aus. Sie sah kurz nach hinten. Sie hatte ein gutes Stück aufholen können. Beeilten sich ihre Verfolger nicht? Ariana passte nicht auf und fiel über einen Ast. Ariana schrie und stürzte ungebremst auf den kalten Boden. Ein ziehender Schmerz an ihrem Kopf ließ sie taumeln. Beim Abtasten der Wunde entdeckte sie Blut an ihren Fingern. Ein Urschrei erklang. Zitternd fuhr sie herum. Die zwei Gestalten standen vor ihr und sahen sie gierig an. Einer der beiden zog die Nase kraus. Er atmete ein. Dann stierte er auf ihre Hand, die mit ihrem Blut benetzt war. Das Grummeln in der Kehle ließ Ariana erzittern. Das war nicht gut, gar nicht gut. Ariana erstarrte. Die Flügelgestalt kam grunzend zu ihr. Ihr Herz raste. Die Klaue der Gestalt kam auf sie zu. Stocksteif stand sie da und kniff die Augen zusammen. Jetzt war es so weit. Sie würde sterben, genauso wie ihre Eltern. Er streifte ihre Wange, vorsichtig und behutsam. Unsicher öffnete Ariana die Augen. Rote Augen starrten ihr direkt ins Gesicht. Aus einem ihr unerfindlichen Grund wollte er ihr nichts tun. Ehrfürchtig sah er sie an. Mit einem Finger wischte er ihr Blut am Kopf ab und roch daran. Der andere neben ihm beobachtete sie. Zufriedenes Grunzen schlug ihr entgegen. Ihr Blut veränderte alles. Was hatte das zu bedeuten? Ariana setzte an, um die Flügelgestalten zu fragen. Der ohrenbetäubende Schrei eines Mannes unterbrach Ariana. Ein Mann in einem dunklen Ledermantel kam von der Seite angerannt, in den Händen ein Schwert. Die zwei Gestalten kreischten und bereiteten sich auf den Angriff vor. Das Schwert sauste herab und schlug ihnen mit einem Hieb die Köpfe vom Leib. Entsetzt beobachtete Ariana die Szene. Ihr Blick schweifte zu den zwei kopflosen Gestalten im Schnee. Ihre Köpfe lagen rechts und links neben ihnen. Der nächste Schock folgte, sobald die regungslosen Gestalten sich vor ihren Augen in schwarzen Rauch auflösten. Fassungslos starrte sie den Mann im Ledermantel an. Ariana erkannte ihn. Das war ihr Stalker. Schwarze, schulterlange Haare, stahlblaue Augen und einen durchtrainierten Körper. Er schien dunkle Kleidung zu bevorzugen. Er trug unter dem Ledermantel eine schwarze Hose und ein schwarzes Shirt. Nicht, dass es ihm nicht gutstand. Es war eben schwarz. Er nahm das Schwert weg und sah sie an. Sein durchdringender Blick irritierte sie. Er tat es schon wieder. Er sah sie so merkwürdig an. Breitbeinig stand er da und fing auch noch an zu reden:
„Was hast du dir dabei gedacht, sie an dich heranzulassen?“, poltere er los. Verwirrt zuckte sie zurück. Ariana erinnerte sich, dass einer der Gestalten sie kurz berührte. Ihr Gefühl sagte ihr, dass er ihr nichts hatte tun wollen. Oder?
„Ich … ich weiß nicht … ich“, stotterte sie. Der Mann kam auf sie zu und sie wich automatisch vor ihm zurück. Seine Hand schoss hervor und umfasste ihr Kinn. Er drehte ihren Kopf zur Seite. Sein Stirnrunzeln verunsicherte Ariana. Abrupt ließ er sie los.
„Du blutest. Das war dein Glück“, meinte er. Ariana verstand kein Wort. Wer waren sie? Was war das mit ihrem Blut? Und wer war er? „Waren sie in deinem Haus?“, fragte er energischer. Ariana sah in die Richtung, wo ihr Haus stand. Die Erinnerung an den Überfall kam zurück. Der Mord an ihre Eltern blitzte in ihrer Erinnerung auf. Oh Gott! Eine Flut von Bildern schoss durch ihren Kopf. „Ariana?“, erklang seine Stimme. „Sprich mit mir! Waren sie in deinem Haus?“ Sie brachte keinen Ton heraus. Er umfasste ihre Oberarme und schüttelte sie leicht. Sie wollte nicht mit ihm reden. Sie wollte nach Hause. Sie wollte ihre Eltern wiederhaben. Ariana befreite sich und stiefelte nach Hause. Der Mann fluchte, bevor er ihr folgte. Sobald Ariana ihr Haus sah, rannte sie los. „Halt!“, rief er. Sie hörte nicht auf ihn und stürmte ins Haus, direkt ins Wohnzimmer. Abrupt stoppte Ariana. Ihre Eltern lagen auf dem Boden. Sie registrierte, dass sie nicht träumte. Sie hörte seine Schritte hinter sich. Ariana sprach kein Wort und starrte auf die abscheuliche Tat. „Scheiße“, war das Einzige, was sie aus seinem Mund hörte. Ariana ging vor und hockte sich zu ihren Eltern herunter. Sie strich mit einer Hand über den Kopf ihrer Mutter. Tränen verschleierten ihren Blick. Schluchzend sah zu ihm auf, flehte ihn stumm an, etwas zu unternehmen. Er stand da und sah sie mitfühlend an. Erst jetzt erkannte er das Ausmaß. Wut sprach aus seinen blauen Augen. Er hätte sie nicht aus den Augen lassen sollen. Wenn Ramael ihn nicht gerufen hätte, hätte er ihr helfen können. Er konnte sie nicht leiden sehen, es brach ihm das Herz.
„Tu etwas! Ich weiß, dass du anders bist. Du musst etwas tun können“, forderte sie. Ihr Schmerz brannte sich in seine Brust. Er sah sie besorgt an. Wieso half er ihren Eltern nicht? Ariana verstand es nicht.
„Ich kann nicht“, erwiderte er. „Ich kann nichts mehr für sie tun.“ Ariana stellte sich direkt vor ihn. Er war hünenhaft, sodass sie ihren Kopf nach oben streckte, um ihn anzusehen. Dunkelbraune, wütende Augen starrten zu ihm. Eisern hielt er ihrem Blick stand.
„Wer bist du? Was tust du hier, wenn du sowieso nichts tun kannst?“, schleuderte sie ihm entgegen. Er zuckte kurz zusammen. Ihre Wut traf ihn unerwartet heftig.
„Du weißt, wer ich bin, Ariana. Wenn ich etwas tun könnte, würde ich es tun. Das musst du mir glauben“, versicherte er ihr. Eingehend schaute sie ihm in die blauen Augen, suchte nach der Wahrheit darin. Er hielt ihrem prüfenden Blick lässig stand, obwohl es in seinem Innern brodelte. Ihre Nähe überwältigte ihn. Ihre Wut lähmte ihn. So hatte er sich die erste Begegnung nicht vorgestellt.
„Jazar“, schlussfolgerte sie. Sein leichtes Kopfnicken war Antwort genug. Ihr Stalker hatte ihr das Buch geschenkt. Und er war ihr zu Hilfe geeilt. Ihr Blick veränderte sich. Ihre Wut verebbte und Traurigkeit übernahm stattdessen. Eine einzelne Träne lief an ihrer Wange herab. Er fing die Träne mit dem Zeigefinger auf. Ariana schloss die Augen. Seine sanfte Berührung beruhigte sie. Ermutigt legte er seine Hand auf ihre Wange, sodass sie ihren Kopf darin einbettete. Ihr Körper schien ihn zu kennen. Ariana fand keine Erklärung dafür, aber Jazar kam ihr vertraut vor.
„Es tut mir Leid“, flüsterte er. Ariana holte Luft und ließ ihn gewähren. Er drückte sie an sich. Jazar hielt sie, spendete ihr Trost. Erstaunt, dass sie es zuließ, wollte er sie nicht loslassen. Ariana weinte herzzerreißend an seiner muskulösen Brust. Er strich ihr über den Haarschopf und murmelte beruhigende Worte. Seine Kraft gab ihr ein Gefühl von Sicherheit. Obwohl sie wütend sein sollte, konnte sie es nicht. Zu berauschend war das Gefühl in seinen Armen zu liegen. Sirenen erklangen in der Ferne und kamen auf sie zu. Jazar versteifte sich augenblicklich und nahm Abstand. Die Polizei rückte an. Ratlos sah sie zu Jazar.
„Was soll ich denen sagen? Ich kann ihnen schlecht erzählen, was passiert ist“, sagte sie verzweifelt. Jazar trat zur Seite und spähte kurz hinaus.
„Es dauert noch ein paar Minuten, bis sie da sind. Hol deine Sachen“, befahl er, „wir verschwinden“. Irritiert sah Ariana ihn an.
„Nein, ich kann das nicht“, schüttelte sie trotzig den Kopf. Jazar zischte und schaute sie entschlossen an.
„Ariana, du hast keine andere Wahl. Wenn du bleibst, wirst du ihnen sagen müssen, was geschehen ist. Hol jetzt bitte das, was du brauchst, ich kümmere mich um den Rest.“ Was hatte er vor? Noch bevor sie ihn fragen konnte, sah er nach oben. „Ramael!“, brüllte er. Ariana zuckte kurz. Ein Lichtblitz tauchte neben Jazar auf und ein fremder Mann materialisierte sich direkt vor ihren Augen. Hellblaue Augen sahen sie an, wechselten daraufhin wütend zu Jazar und schielten letztendlich zu ihren regungslosen Eltern. Er hatte langes blondes Haar, welches zu einem Zopf zusammengebunden war. Eine Narbe an seiner rechten Wange ließ ihn hart wirken.
„Was um Himmels willen hast du angestellt, Jazar?“, donnerte er los. Jazar grummelte, bevor er ihm kurz erklärte, was geschehen war. Ramael hörte interessiert zu und schaute ins Wohnzimmer. Seine Augen richteten sich auf Ariana. Sein forscher Blick brachte sie durcheinander. Er hatte etwas an sich, was ihr nicht behagte. Da war keine Wärme in seinen Augen.
„Du musst dich darum kümmern, während ich sie wegschaffe, Ramael“, meinte Jazar zu ihm. Ariana hatte das ungute Gefühl, das es ihr nicht gefallen würde. Sie wollte nachfragen, aber Jazar zog an ihrem Arm und steuerte auf die Treppe zu. „Wenn du nicht in fünf Minuten mit deinen Sachen unten bist, komme ich dich holen“, drohte er ihr. Wütend sah sie ihn an, bevor sie nachgab. Sobald sie aus ihrem Blickwinkel verschwunden war, ging Ramael zu ihren Eltern und schüttelte den Kopf.
„Verdammt Jazar, hatten wir nicht gesagt unauffällig? Das ist alles andere als unauffällig.“ Er schien nicht glücklich über diese Wendung. Jazar nickte wissend.
„Ich weiß, sie waren vor mir da. Wie du weißt, war ich bei dir, als es passierte“, betonte er. Ramael sah ihn direkt an. Wollte er ihm damit etwas unterstellen? Er konnte den Argwohn in Jazars Augen erkennen. Die Polizei konnte jeden Moment hier sein, bis dahin mussten sie ihre Spuren verwischen.
„Ich lasse es wie einen normalen Einbruch aussehen. Ich bin dann wohl ein Onkel, der zu Besuch ist, schätze ich“, meinte er beiläufig. Jazar konnte einen Hauch von Belustigung in seiner Stimme wahrnehmen. Er wusste noch nicht, wie er das Ariana erklären sollte. Die Erklärung musste warten, beschloss er. Etwas anderes war jetzt viel wichtiger: Ariana musste von der Bildfläche verschwinden, bevor ihre Feinde sie fanden.
„Was ist mit ihr?“, hakte Jazar nach. Ramael dachte kurz nach.
„Sie hatten kein Kind, ganz einfach. Ich lösche sie aus, das scheint mir das Beste zu sein.“ Jazar verstand, was er damit meinte. Ramael änderte die Realität. Es sollte wie ein normaler Einbruch aussehen. Er war ein Onkel zu Besuch und hatte sie so vorgefunden, als er von einem Spaziergang zurückkam. Auf die Schnelle hatte Jazar keine bessere Lösung parat. Er hörte, wie Ariana nach unten kam. Jazar bedachte Ramael noch mit einem wissenden Blick, bevor er Ariana aus dem Haus brachte. Sie wollte zurück, doch er hielt sie davon ab.
„Wir müssen gehen, ich erkläre dir nachher alles“, sagte er. Der Polizeiwagen bog in ihre Straße ein. Eilig rannten sie um die Ecke und verschwanden aus deren Sichtfeld.