Читать книгу Die Kinder der Wellen - Claus Bork - Страница 5

Hinausgeschickt

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Der Wind schüttelte alles, was er auf seinem Weg zufassen bekam, die Bäume, die Büsche, selbst die Fahnenstangen auf Lothars Burg in Orsk. Schwere regenvolle Wolken segelten über den Himmel dahin.

Die Jungen liefen nach Hause über die Äcker, auf dem Weg zum Großwald und dem Dorf dahinter. Sie befanden sich mitten auf einem offenen Stück Land, als es zu regnen begann.

Ihre Rufe und ihr ausgelassenes Gelächter konnte man weit weg durch den Donner, der ihnen vom Horizont entgegen rollte, hören.

"Wartet auf mich…" rief der Kleinste. Die zwei großen liefen etwas langsamer.

Dann strömte das Wasser hinunter und durchweichte ihre Kleidung in weniger als einer einzigen Minute.

Sie zogen die Jacken über die Köpfe und liefen vornüber gebeugt in den Wald.

Der größte von ihnen war ein kräftiger Bursche mit braunen Augen, dunklem gekräuseltem Haar und einem sehr breiten Mund. Er hatte volle Lippen und wenn er lächelte konnte man seine schiefen Zähne sehen. Er stand mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt und prustete und stöhnte.

"Mein Gott, wie das gießt," rief er und trocknete sich mit der Rückseite des Ärmels unter der Nase.

Der zweitgrößte sagte gar nichts. Er war den anderen nicht ähnlich. Was nicht so zu verstehen ist, daß mit ihm etwas nicht in Ordnung war. Er sah einfach nicht so aus wie sie. Wo die Augen der anderen braun waren, waren seine blau, und wo die anderen schwarzes, kräuseliges Haar hatten, hatte er eine hellblonde Mähne um sein braungebranntes Gesicht. Es war etwas in seinem Wesen und in seinen Augen, das sagte, daß er älter als der Große war. Er war fast so groß wie ein erwachsener Mann, aber noch schmächtig. Er hatte auch Sommersprossen, aber das hatten die meisten, sodaß es keinen Unterschied machte.

Der Große dagegen, er wog das Doppelte. Aber das hatte er nicht von Fremden, denn sein Vater war der Schwarze Saron, der Dorfschmied. Er war der einzige im Land, der beides war, größer und breiter als Lothar.

Alle hatten den Burschen 'Saronrogn' genannt, von dem Tag an als er das Licht der Welt erblickt hatte. Und das war hängengeblieben. Und es gab keinen mehr, dem einfiel, wie er richtig hieß. Saronrogn - dabei war es geblieben...

"Du, Balder..." Der Große sah ihn an und schüttelte mit dem Kopf, sodaß das Wasser nach allen Seiten spritzte.

Balder - so hieß er, die lange Stange.

"Hmmm..." murmelte Balder. Er hielt nach dem kleinen Knirps Ausschau, der draußen vom Acker auf sie zu gelaufen kam.

"Ich könnte mir gut ein Pferd vorstellen," sagte Saronrogn.

"Hmmm.." murmelte Balder wieder. "Wer könnte das nicht?"

Ein blendender, weißer Blitz zischte im Zick Zack am Himmel herunter, gefolgt von einem knisternden Knall, der über die Hügel hinweg rollte.

Der kleine Knirps warf ängstliche Blicke in den Himmel, lief dann weiter und rannte genau in Balders Arme.

"Na, na, ruhig." Balder lachte und hielt die Arme um ihn. Der kleine Kerl drückte sich an ihn und versteckte sein Gesicht in seiner Jacke.

"Das nächste Mal, wenn er uns nachläuft, kriegt er 'ne Backpfeife," sagte Saronrogn ärgerlich.

"Na, na," sagte Balder. "Das bestimmen wir beide."

"Aber das ist doch wirklich störend," beharrte Saronrogn und sah den kleinen Knirps mit zusammengekniffenen Augen an.

"Ja, ja..." seufzte Balder. "Es wird schon gehen, Rogn..."

Saronrogn sah ihn schief an, aber verfolgte die Sache nicht weiter.

Der Regen trommelte auf die Blätter in den Baumkronen hoch über ihren Köpfen. Es war jetzt naßkalt. Sie zogen die Jacken am Kragen zusammen und begannen, durch den Wald zu gehen. Sie gingen zwischen den Bäumen. Die Blätter lagen in deiner dicken, weichen Schicht, die die Erde bedeckte und die Geräusche von ihren Schritten verschluckte.

Als sie eine Zeitlang gegangen waren, kamen sie auf einen Kiesweg, der an den Stämmen vorbei führte. Gerade als sie standen und den Weg hinunter sahen, schien ihnen, als hörten sie etwas.

Man konnte alles hier sehr weit hören. Der Weg führte wie ein Tunnel durch den Wald. Die Baumkronen trafen sich über ihren Köpfen und ließen fast kein Tageslicht hindurchfallen.

Es wurde Abend.

"Pferde," murmelte Saronrogn, warf sich auf alle viere und lauschte. Er drückte das Ohr flach auf den aufgeweichten Weg und horchte. Ganz richtig - Pferde...

Der kleine Knirps drückte sich an Balder.

"Wir sollten lieber verschwinden, und das schnell," sagte Saronrogn und sprang wieder auf die Beine. Er hatte feuchte Erde am Kinn.

Balder begnügte sich damit, zu nicken. Dann liefen sie über den Weg und versteckten sich zwischen den Bäumen auf der anderen Seite.

Der Lärm nahm zu, gewaltiger und gewaltiger, bis er das gedämpfte Trommeln des Regens auf die Blätter übertönte.

Dann jagten sie in der Dunkelheit vorbei, während der Waldboden bebte und die Bäume sich schüttelten. Steine und Erdklumpen wurden aufgewirbelt und flogen durch die Luft.

Die Jungen drückten sich gegen die Stämme und spürten den Wind der Pferde an ihren Wangen.

Die Reiter waren nur Schatten, schwarze Löcher in der Dämmerung. Aber selbst da, wo sie nichts anderes als nur die flackernden Umrisse ahnen konnten, strahlten sie Gefahr und Bosheit aus, die wie ein Geruch im Wind über ihnen hing.

Balder, Saronrogn und der kleine Knirps rochen sie und krochen steif vor Schrecken im Farnkraut zusammen...

Der kleine Knirps hatte seine Hand in Balders gesteckt und stand da und drückte sie. Er ist zu klein für so einen Ausflug, dachte Balder.

Der Lärm zog ab, die Bäume dämpften den schlimmsten Lärm.

"Puh..." seufzte Balder leise.

"Das waren sie," flüsterte Saronrogn. "Das waren verdammt Schlechte, die da."

Seine Augen schimmerten weiß in der Dunkelheit.

"Wer?"

"Die Nachtwanderer," stöhnte Saronrogn heiser. "Jetzt habe ich sie mit meinen eigenen Augen gesehen." Er holte in kurzen Stößen Luft.

"Sei froh, daß sie dich nicht gesehen haben, Rogn," flüsterte Balder.

"Sie sind auf dem Weg nach Westen," flüsterte Saronrogn.

"Osten," sagte Balder.

"Was?"

"Sie sind auf dem Weg nach Osten!"

"Hm, na ja - Osten," Saronrogn nickte im Halbdunkel.

"Gut, sind sie nicht, sie sind auf dem Weg nach Westen," lachte Balder. "Sei nicht immer so leichtgläubig, Rogn."

Saronrogn ignorierte ihn.

"Woher wohl?" begann er.

"Dorntal," antwortete Balder. "Da ist nur Dorntal, wenn man diesen Weg entlang reitet."

"Es ist lange her, daß sie zuletzt dort waren," sagte Saronrogn.

"Mehr als ein Jahr," sagte Balder. "Damals als sie Tais holten."

Er hätte sich die Zunge abbeißen können.

Der kleine Knirps schniefte in der Dunkelheit.

"Das mußt du entschuldigen," flüsterte Balder. "Ich wollte dich nicht daran erinnern."

Der Kleine nickte tapfer und versuchte, mit dem Weinen aufzuhören.

"Das kriegen sie verdammt nochmal bezahlt eines Tages," brummte Saronrogn. "Ich tret sie breit, ganz in den Boden!!!"

"Werd' erstmal erwachsen," sagte Balder. "Lothar ist kein Schwächling."

"Mein Vater ist größer," sagte Saronrogn. "Und er sagt, wenn ich gut esse und alles Brennholz für die Schmiede hacke, dann werde ich noch größer. Und ich bin es, auf den alle warten, damit ich Lothar ein paar 'runter haue!"

"Schhh, nicht so laut," beruhigte ihn Balder.

"Ich möchte gern nach Hause," flüsterte der kleine Knirps. "Ich friere."

"Ich könnte mir auch ein Paar Stiefel vorstellen," seufzte Saronrogn und versuchte auf seine nackten Zehen auf dem Waldboden zu sehen.

Sie schüttelten das Wasser von sich ab und beeilten sich, nach Hause zu kommen.

Als sie erstmal auf dem Weg waren, wurden sie schnell wieder warm, und der kleine Knirps bekam sofort bessere Laune.

Ein paar Stunden später näherten sie sich einem Dorf, das im entferntesten Winkel von Dorntal lag.

Es war ein kleines Dorf, nur 32 Häuser, wenn man sie alle mitrechnete. Sie lagen auf einer Rodung am Waldrand.

Hinter dem Dorf streckten Wiesen ihre grünen Weiten bis zu den Bergen, weit draußen am Ende der Welt. Dort ragten die Berge bis zum Himmel, grau und massiv.

Die Häuser lagen da mit schmalen gepflasterten Straßen zwischen einander. Sie waren alle wie kleine Vierseitenhöfe gebaut mit einem Hofplatz in der Mitte und einem Tor zur Straße. Die Tore waren in der Nacht geschlossen und wurden erst geöffnet, wenn die Sonne ihre ersten Strahlen über das Land schickte, von den Wäldern bei Ydelwynd.

So war es gewesen seit Lothar Hug an die Macht gekommen war, und so würde es in Zukunft sein, es sei denn ein Wunder würde geschehen und Lothar sterben. Aber das glaubte keiner, denn Lothar war stark wie der Teufel selbst.

"Schhh!" flüsterte Balder und verkroch sich am Waldrand.

Saronrogn sprang hinter einem Baum ins Versteck. Balder spürte den Atem des kleinen Knirpses im Nacken.

Ein fast heruntergebranntes Feuer warf seinen flackernden Schein an die Giebel der Häuser.

Ein Stück weg von der Feuerstelle stand ein großer, breitschultriger Mann in einen dicken Mantel aus Fell gehüllt. Er stützte sich auf eine Forke mit spitzen Zinken, die genau über seinem Kopf in die Luft ragten.

"Das ist mein Vater," flüsterte Saronrogn. "Er wird wohl fuchsteufelssauer sein, jetzt."

"Bestimmt," flüsterte Balder.

"Ich frier," wimmerte der kleine Knirps.

"Verdammt noch mal," murmelte Saronrogn.

"Komm," flüsterte Balder. "Er wird nicht weniger böse, wenn wir hier liegen. Wir sollten lieber sehen, daß wir alles überstanden haben."

Sie erhoben sich und gingen die letzten Meter durch ein Gebüsch. Sie sahen, daß er sie entdeckte, bevor er sich aufrichtete und zu ihnen starrte, unter dem Schatten seines Hutes.

Er blieb stehen, ohne auch nur einen Ton zu sagen, bis sie ganz dicht vor ihm standen.

"Was ist das für eine Zeit, um nach Hause zu kommen?" fragte er grimmig.

"Wir haben uns verlaufen," sagte Saronrogn nervös. Er hasste es, wenn sein Vater zornig war, und genau das war er jetzt. Fuchsteufelswütend.

"Du hättest es besser wissen müssen," brummte er und sah Balder an. "Und dann noch diesen kleinen Kerl da mitschleppen." Er nickte mit dem Kopf in Richtung auf den kleinen Knirps.

"Er ist uns von selbst gefolgt," sagte Balder. "Wir haben es nicht bemerkt, bevor wir aus Dorntal 'raus waren."

Der Schwarze Saron ließ den Schaft der Forke mit der einen Hand los und zeigte auf Saronrogn.

"Du nimmst ihn und bringst ihn nach Hause zu seiner Mutter - jetzt. Und danach kommst du nach Hause. Verstanden?"

Rogn nickte steif. Dann nahm er den kleinen Knirps sanft am Kragen und zog mit ihm ab. Einen Augenblick später waren sie zwischen den Häusern verschwunden.

"Waren sie heute Abend hier?" fragte Balder.

Der Schwarze Saron sah ihm einen Augenblick hart in die Augen. Dann seufzte er und nickte kräftig.

"Ja, sie waren heute Abend hier."

"Wen holten sie?"

"Keinen." Er schüttelte seinen großen Kopf. "Die Hunde warnten uns rechtzeitig. Aber sie nahmen ein paar von den Pferden unten auf der Wiese."

"Hast du keine Angst vor ihnen?" fragte Balder.

Der Schwarze Saron bückte sich und hob im Schein der Feuerstelle einen Hammer auf.

"Ja, zum Teufel, habe ich Angst vor ihnen," zischte er. "Aber sie haben auch Angst vor mir - und vor dem hier." Er schwang den Hammer durch die Luft. "Sie verabscheuen das Schleudern."

Balder fühlte sich schlecht. Er wußte, daß es unverzeihlich war, was sie getan hatten. Sie hätten umdrehen müssen, als sie entdeckt hatten, daß der kleine Knirps ihnen gefolgt war.

"Versprich mir, das nie wieder zu tun," sagte der Schwarze Saron leise.

"Ich verspreche es," sagte Balder.

Der Schwarze Saron drehte sich um und begann ohne weiteres mit langen Schritten auf der Straße zu gehen. Balder folgte ihm im Trab. Als sie unten am Tor waren hielt er plötzlich an und drehte sich um.

"Da war einer und hat nach dir gefragt, heute," sagte er.

"Wer war das?"

"Einer, den ich aus alten Zeiten kenne," murmelte Saron. "So viel weiß ich jedenfalls, er ist nicht wie wir anderen. Er kommt bald wieder, du solltest lieber deine Sachen packen und dich für eine Reise von hier fertigmachen."

Er sah Balder eine lange Sekunde an, und in seinen Augen konnte man eine Sorge ahnen, die er nicht fähig war, zu verstecken.

"Morgen werde ich dir erzählen, warum. Nun will ich schlafen, denn jetzt bin ich müde und wütend vom Stehen und warten, allein in der Dunkelheit."

"Morgen…" nickte Balder. Als er an ihm vorbei durch das Tor ging, drückte er seine schwielige Faust.

"Ich wünschte, du wärst wirklich mein Vater," flüsterte Balder. "Mein richtiger Vater, mein ich..."

Der Schwarze Saron griff nach ihm und nahm ihn an den Schultern.

"Ich wünschte, du wärst mein Sohn, Balder. Ich liebe dich, als wärst du mein eigener. Aus vielen Gründen. Einer davon ist, daß ich deinem Vater gedient habe."

Er bückte sich etwas hinunter und sah Balder fest in die Augen. "Ich versprach, dich hier in Dorntal zu verstecken, damit sie dich nicht finden konnten. Sie haben viele Jahre nach dir gesucht, und ich habe es lange befürchtet. Heute habe ich geglaubt es wäre geschehen, weil ihr vor Anbruch der Dunkelheit nicht hier wart."

"Wer sind sie?"

"Die Nachtwanderer," antwortete der Schwarze Saron und presste die Hände um den Schaft des Hammers.

"Wo kommen sie eigentlich her?"

"Sie kommen aus Schattental," sagte Saron. "Aber letztendlich kommen sie von Lothar."

"Wir sahen sie heute Abend," sagte Balder. "Sie ritten durch den Wald, als wir dort gingen. Rogn hörte sie zuerst, so schafften wir es, uns zu verstecken."

Er schauderte bei der Erinnerung an sie und hatte wieder den Geruch von Furcht in der Nase.

"Sie entdeckten uns nicht."

Saron schüttelte den Kopf.

"Sie wissen, wann du unterwegs bist. Du mußt mich nicht fragen, warum, ich habe keine Ahnung. Aber sie wissen es."

Er dachte einen Augenblick nach, als überlegte er, wie er das, was er nun sagen wollte, ausdrücken sollte.

"Den Abend, als sie Tais getötet haben, den Vater von dem kleinen Knirps, hattest du dich im Wald verlaufen. Ich fand dich vor ihnen. Aus Zorn darüber, daß sie dich nicht fanden, töteten sie ihn. Tais suchten nach dir - er hat dafür mit dem Leben bezahlt."

Balder hatte einen Klumpen im Hals.

"Du mußt fort von hier," sagte Saron. "Hier ist es nicht mehr sicher für dich. Er kommt bald zu dir, Javer. Wenn er kommt, mußt du klar zum Gehen sein."

"Wer ist er?"

"Obwohl ich es weiß, kann ich es dir nicht erzählen. Ich kann zu keinem Menschen auf dieser Welt davon sprechen. Denn, wenn ich es tue, breche ich ein Versprechen, das ich einmal gab."

"Ich bin fertig, wenn er kommt," flüsterte Balder.

Der Schwarze Saron strich mit seiner rauhen Faust über seine Haare. "Das ist gut."

Die Kinder der Wellen

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